Vorwort.

Indem wir den Schlußband unseres umfassenden biographischen Versuches, in die Öffentlichkeit hinaussenden, kommt uns unwillkürlich mancher Gedanke darüber an, wie lange dieses nun abgeschlossene Werk im Werden war, und wie weit seine Anfänge zurückreichen. Die ersten Vorarbeiten begannen im Herbst des ›Tristan‹-Jahres 1865, ohne die entfernteste Kenntnis dessen, daß ungefähr um die gleiche Zeit der Meister selbst, von seinem königlichen Freunde und Beschützer gedrängt, sich dazu anschickte, ein ausführliches Bild seines Lebens mit all seinen Einzelheiten zu entwerfen. Hätte uns damals eine Kunde von diesem Vorsatz erreicht, – vielleicht wäre unser Vorhaben uns dann noch um einen Grad vermessener erschienen, als dies ohnehin der Fall war. Doch entsinnen wir uns, von dieser Vermessenheit um so weniger empfunden zu haben, als der Gedanke einer baldigen Veröffentlichung uns gänzlich fernlag; das Hauptinteresse war in der Sache selbst beschlossen: in der damals noch mehr empfundenen, als bewußten Einsicht in die Idealität aller Weltanschauung und der hieraus hervorgehenden tiefen Überzeugung von der Persönlichkeit des künstlerischen Menschen als dem eigentlichen Kern und Inhalt des Kunstwerkes. Wer sich für die Darlegung dieses Gedankens des näheren interessiert, den verweisen wir hier gern auf des trefflichen Hauseggers Ausführungen in seiner viel zu wenig gelesenen Abhandlung: ›Die künstlerische Persönlichkeit‹. Nicht die von Aristoteles gepriesene Mimesis, die bloße Nachahmung der objektiven Welt mit ihren Erscheinungen, ist der Ausgangspunkt aller Kunst, noch weniger ihr eigentlicher Inhalt; die technisch verfeinertste bloße Nachahmung als solche könnte uns kühl und gleichgültig lassen; der wirkliche Künstler gibt vielmehr auch in dem der Außenwelt entnommenen Gegenstande sich selbst;1 und indem er in dem Anschauenden, Empfangenden, [3] Genießenden eine innere Betätigung hervorruft, welche der seinigen beim Schaffen des Kunstwerkes entspricht, erhebt er ihn über die engen Grenzen seines. – Selbst und macht ihn wenigstens zeitweilig und nach Maßgabe seiner rezeptiven Fähigkeit zu einem Teil von sich. In diesem Sinne einzig, nicht durch sogenannte ›Geschmacksbildung‹, kann ein Künstler Kulturwirkungen auf eine ganze Nation ausüben; selbst der reinste Darstellungsstil kann nur diese Wirkung zum Endzweck haben. Hierin allein liegt auch jede Hoffnung auf eine durchdringende Kulturwirkung der Kunst Richard Wagners auf sein Volk und die Menschheit begründet. ›Ich kannte keine Lust mehr‹, läßt Wagner selbst seinen deutschen Musiker sagen, ›als mich so ganz in die Tiefe dieses Genius (Beethovens) zu versenken, bis ich mir endlich einbildete, ein Teil desselben geworden zu sein, und als dieser kleinste Teil fing ich an, mich selbst zu achten, höhere Begriffe und Ansichten zu bekommen.‹ Könnten wir jedem Deutschen im einzelnen, wie der Gesamtheit des deutschen Volkes im ganzen, etwas Höheres wünschen, als diesen Vorgang an sich selbst durchzumachen? In den besten Augenblicken seines Daseins hat ihn wohl ein jeder erlebt. Wir erinnern uns seiner aus jenen frühen Zeiten: selbst aus den mangelhaftesten ›Opern‹-Vorstellungen, welche damals die ersten, vorläufigen Vermittler späterer gewaltigerer Eindrücke für uns bildeten, ging vom ›fliegenden Holländer‹, ›Tannhäuser‹, ›Lohengrin‹ stets das gleiche Bewußtsein in uns über, daß durch all diese Gestalten ein bestimmter individueller Mensch, eine Person zu uns sprach: eine Person, die wir lieben mußten, ohne sie je gesehen zu haben, der unsere höchste Verehrung und Bewunderung galt, deren Rätsel es uns zu lösen, deren Geheimnis zu entziffern drängte, deren Lebensgang und Meinungen wir verfolgen und erkennen wollten. Durch solche entscheidende Eindrücke wird man ein ›Wagnerianer‹, oder wie es jener ›deutsche Musiker‹ im Zusammenhang der oben angeführten Worte sagt: ›das, was die Gescheiten einen Narren nennen‹. Immer ist es, wenn der wahre Künstler zu uns spricht, der in uns erwachte oder erweckte ›Teil‹, der das Ganze sucht: im vorliegenden Einzelfall ward der Verfasser im Verfolg dieser sich wiederholenden unvergleichlichen Erfahrungen zum Wagner-›Biographen‹. Es gibt bei weitem höhere Aufgaben für den durch den Genius tief innerlich Berührten; darüber ist nicht zu rechten, schon weil niemand es bestreitet. Uns fiel diese Aufgabe zu, durch einen inneren Drang nach der Erkenntnis des persönlichen Untergrundes dieser alles aufwühlenden gewaltigen Kunstschöpfungen.

Es war damals nicht leicht, sich allein nur die noch in keiner Gesamtausgabe vereinigten, weithin zerstreuten Schriften des Meisters zu beschaffen. [4] Dennoch war dies der erste Schritt, nicht allein sämtliche in Buch- und Broschürenform, sondern weiterhin auch die in Zeitschriften vereinzelt erschienenen literarischen Kundgebungen Richard Wagners in möglichster Vollständigkeit zu akquirieren; im Anschluß daran in einen Band zu sammeln, was schon damals an gedruckten Briefen öffentlich erschienen war. Das nächste war die Herstellung eines nach Jahren und Monaten genau geordneten ›Tagebuches‹ über sein Leben und dessen einzelne Daten und Ereignisse; wie endlich die Zusammenstellung und Vereinigung sämtlichen biographischen Materiales, dessen wir bei eifrigem Suchen und Sammeln habhaft werden konnten wobei oft meterhohe Stöße älterer Jahrgänge der verschiedensten Zeitschriften und Zeitungen durchblättert und durchforscht wurden. Dreimal waren die so gewonnenen Materialien schon vorläufig redigiert; das letztenmal (vom September 1873 ab) bereits in voller Einteilung in 6 Bücher mit den einzelnen Kapiteln, aus denen das künftige Manuskript leicht herzustellen war. Inzwischen hatten wir bei brennender Begier, aus manchem Schattenhaften heraus zu neuer, tieferer Kenntnis vorzudringen, doch merkwürdigerweise stets die Genugtuung, das von uns bisher Entdeckte, Wohlgeordnete nie eigentlich als lückenhaft zu empfinden, da sich innerlich alles zum wohlgegliederten festen Bilde zusammenfügte und unser eigenes Leben noch ausgebreitet vor uns lag, um diese Lücken auszufüllen. Den Meister selbst aus der Ferne mit irgendeiner Frage oder Erkundigung anzugehen, das konnte uns nicht in den Sinn kommen. So gerüstet, traf uns die Ankündigung der ersten Bayreuther Festsolete von 1876; wir zweifelten keinen Augenblick daran, daß bei diesem Anlaß eine vorläufige zweibändige Ausgabe unserer biographischen Arbeit als bescheidene ›Festage‹ dazu sehr wohl am Platze und manchem von Nutzen sein könnte. Nie war ein Buch mit größerer Leichtigkeit hervorgebracht; seinem Inhalt nach war es schon völlig vorhanden, und selbst das für einen jungen Schriftsteller oft lästige Suchen nach einem vertrauensvollen ›Verleger‹ uns durch unseren damaligen Buchhändler, den würdigen Herrn Nikolai Kymmel sen. in Riga, in verbindlichster Weise und mit bestem Erfolge abgenommen, so daß es keine wesentliche Schwierigkeit für ein promptes Erscheinen bildete.

Die stärksten Irrtümer unseres damaligen ersten Bandes lagen nicht im Tatsächlichen oder Chronologischen, sondern darin begründet, daß wir dem Meister damals noch nie persönlich begegnet waren, ihn nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten. Manches nahm sich darin aus diesem Grunde dürftig, blaß, unwirklich aus; manches war falsch verstanden, schief gedeutet, wie das heute noch manchem (unberufenen) soi-disant-›Biographen‹ aus gleichem[5] Grunde ergeht! Nun erst kam der große Moment wirklichen Sehens und Kennens durch die persönliche Berührung.

Bereits unser damaliger zweiter Band stand unter dieser belebenden, einzig ermöglichenden Einwirkung; denn er wurde erst nach dieser persönlichen Berührung niedergeschrieben und trat dementsprechend auch ein Jahr später, 1877, aus Licht. Der Fortschritt darin, die größere Freiheit der Darstellung, ward manchem bemerkbar. Sehr richtig äußert sich Carlyle über die Aufgabe des Biographen, wenn er sie dahin bestimmt, daß ihre Schwierigkeit nicht etwa bloß darin bestehe, in seinen lebenden Gegenstand hineinzusehen; sondern vielmehr von ihm verlange, aus ihm heraus die Welt mit den Augen anzusehen, mit denen er sie schaute, um ihn sich hierdurch gleichsam, wie er es nennt, ›in der Theorie zu rekonstruieren‹. Nach diesem Ideal einer wahrhaft objektiven Darstellung haben wir stets in heißem Ringen gestrebt, und gerade dadurch unterscheidet sich unsere Arbeit von den Versuchen anderer, die ihn grundsätzlich bloß in dem Lichte zeigen, wie die Welt ihn sah – womit nichts Neues gewonnen ist! – nicht aber, wie er die Welt betrachtete. Es braucht noch nicht einer der größten Genien der Menschheit zu sein, dessen Bild durch eine derartige Behandlung leidet; vielmehr kann auf diese Weise von keinem lebenden Menschen der Gegenwart oder Vergangenheit ein klares Bild gewonnen werden; sondern das ärmlichste Wesen, insofern es einen bestimmten ausgeprägten Charakter hat, will aus seiner Natur heraus und derselben gemäß erkannt und beurteilt sein. Man stelle sich vor, was dabei herauskommen kann, wenn statt einer derartig ›objektiven‹, d.h. objektgemäßen, Darstellung, zu welcher sich ein Leser dann nach seinem Belieben und seiner Befähigung kritisch beurteilend verhalten kann, ihm von Hause aus – nicht das reine Bild des Objektes an sich, sondern die Verzerrung desselben durch die subjektive Auffassung eines beschränkten Kopfes geboten wird, wobei sich die beiden disparaten Elemente des Darstellers und des Dargestellten in jedem Punkte vermischen und durchdringen, so daß sie – wie bei einem mangelhaften Portrait – nicht auseinandergehalten werden können. Im Gegensatz dazu kann der wahre und berufene ›Biograph‹, durch ein liebevolles Versenken und Nachempfinden, in der Tat ein Wohltäter der Mit- und Nachwelt werden, indem er ihr etwas von dem positiven Wesen des Genius rettet und bewahrt, was sich dann ergänzend, aufklärend und erhellend neben seine hinterlassenen Werke und Wirkungen stellt, als ein wahrhaftes Bild von ihm, als den schöpferischen Mittelpunkt, von dem alles ausstrahlt, aus dem alle jene Werke und Taten sich herleiten. Wie wäre das aber möglich auf Grund einer bloßen Überlieferung, [6] ohne einen persönlichen Eindruck, ohne eine unmittelbare Autopsie? Für diese sind auch die reichhaltigsten Dokumente kein zuverlässiger Ersatz. Eher ist das Umgekehrte der Fall, indem es sich immer wieder bewährt, daß erst der selbst empfangene Eindruck die wahre Bedeutung jener Dokumente aufhellt. Seit Jahrzehnten ist nun eine fast unübersehbare Fülle an brieflichem und anderweitigem biographischen Material in Gestalt von Aufzeichnungen und Memoiren aller Art an das Tageslicht gefördert, und wie vielfach sind diese den mannigfachsten Mißverständnissen ausgesetzt gewesen und geblieben! Und gerade mit diesem gegenwärtigen Schlußbande unseres Werkes treten wir in das recht eigentliche Gebiet der Autopsie des Verfassers, des Miterlebten und Gesehenen, und können ihn demnach unseren Lesern darreichen, wie einen lange aufgesparten berauschenden Trank.

Zwar war es uns nie dauernd vergönnt gewesen, in der unmittelbaren Nähe des Großen zu verweilen; dafür aber trat zu der wiederholten zeitweiligen Möglichkeit eines persönlichen Verkehrs die mündliche Erzählung und der ununterbrochene briefliche Zusammenhang mit den befreundeten wichtigsten Personen aus dem nächsten Kreise seiner Umgebung ergänzend hinzu, so daß, wo die eine Quelle versagte, die andere sich ihm auftat und an allen Hauptpunkten mehrere zugleich einander bestätigend oder ergänzend dem Erzähler zuströmten. Wie oft ist unsere große, nun abgeschlossene Arbeit im Unterschiede von anderen, die sie vielleicht an künstlerischem Wert überragen, als eine bloße umständliche ›Tatsachensammlung‹ in fortlaufender Folge charakterisiert worden! Das ist sie aber auch nach der vollsten Überzeugung und Absicht ihres Verfassers und hat nie etwas anderes zu sein beansprucht. Das innere und äußere Leben Richard Wagners ist reich genug, um sechs Bände mit ›Tatsachen‹ zu füllen. Welch mächtigen Eindruck einerseits die geringste wohlverbürgte historische Tatsache als solche hervorzubringen vermag im Vergleich mit dem großartigsten erdichteten Ereignis und vollends einer bloßen abstrakten kritischen Reflexion, welch eine unberechenbare Wirkung für uns in ihrer Betrachtung liegt, dürfte sich leicht aus unserem Verfahren ergeben. Welches Licht aber weiterhin aus einer solchen erzählenden Verflechtung verbürgter authentischer Zeugnisse auf so manche anderweitig überlieferte, oft gar in leichtfertiger Weise auf den bloßen Effekt zugeschnittene Anekdoten fällt, davon hat es uns, im Verlauf unserer Darstellung, wiederholt gereizt, ein recht schlagendes Beispiel zu bieten, indem wir solche in deren Zusammenhang mit aufnahmen (vgl. z.B. S. 376 ff, 401 ff., 456 ff., 480 usw.). Es ist nicht genug, für seine Person Quellenkritik auszuüben; man muß auch imstande sein, andere dazu anzuleiten, und ihnen dafür durch gelegentliche Konfrontierung [7] jener, aus den lustigen Regionen einer subjektiv einseitigen Auffassung herstammenden Berichte mit der authentischen Wirklichkeit eine feste Grundlage und Stütze des eigenen Urteils zu gewähren. Wenn dem Verfasser dies gelungen ist, weiß er sich für seine aufgewandten Bemühungen reichlich belohnt, und die bloße ›Tatsachensammlung‹ an sich gewinnt gerade aus diesem Bestreben nach möglichster Vollständigkeit an Wert und Bedeutung.

Wie jeder der bisher erschienenen Bände neben dem gemeinsamen Haupttitel des Werkes seinen eigenen Untertitel führt (›Jugendjahre‹, ›Irrfahrten‹, ›der Revolutionär‹, ›im Exil‹, ›der Reformator‹, ›Bayreuth‹), so trägt der vorliegende Band den Untertitel ›Parsifal‹, womit sein gesamter Inhalt in ein einziges Wort zusammengedrängt ist. Die verschiedenen Elemente, aus denen es sich zum Ganzen zusammenfügt, können wir am besten in folgender Weise gliedern. Neben der schöpferischen Betätigung an seinem neu entstehenden großen Werke geht unablässig diejenige des Denkers in der Abfassung seiner wichtigsten Schriften während dieser Epoche mit jener Hand in Hand; demnächst der belebende Umgang mit den Seinigen in seiner häuslichen Welt und den einheimischen Freunden, denen sich von auswärts mancherlei Besuche, am regelmäßigsten Liszt und Malwida gesellen; in der zweiten Hälfte dieses Zeitraumes treten dann Heinrich von Stein, Joukowsky und Gobineau als neue Erscheinungen hinzu. Das Bestreben nach Anschaulichkeit im einzelnen führte zunächst zu einer eingehenden Charakteristik der vorkommenden Persönlichkeiten, weiterhin zu ausführlichen Schilderungen der wechselnden Örtlichkeiten, damit sich der Leser mit uns in die jeweiligen Umgebungen der Vorgänge versetzt fühlen könne; durchweg haben wir uns in dieser Beziehung bemüht, der Phantasie nichts schuldig zu bleiben, sondern ihr für deren Vorstellung die gebührende Nahrung zu geben.2 Bei der Verfolgung des werdenden Kunstwerkes auf seinen verschiedenen Entstehungsstufen, von der Ausführung der Dichtung durch die einzelnen Stadien ihrer musikalischen Konzeptionen bis zur schließlichen szenischen Verwirklichung waren wir in der Tat uns oft genug bewußt, mit der Ermöglichung des Unmöglichen zu tun zu haben; das Unaussprechliche, rein Innerliche läßt sich am wenigsten durch ›tatsächliche‹ Momente andeutend vergegenwärtigen. Dagegen bot sich uns [8] vom Beginn bis zum Schluß ein weites Feld erzählender, beschreibender Darstellung nicht allein in bezug auf die Entstehung der gleichzeitigen Schriften in ihrem entsprechenden Verhältnis zum Kunstwerk, sondern vor allem auch auf seinen geistigen Umgang in der zeitlebens eifrigst von ihm gepflegten Lektüre. Auf diesem Gebiete haben wir uns bis zu einem Punkte eingehender Ausführlichkeit vorgewagt, welche zwar aus guten Gründen nicht bis zur Lückenlosigkeit sich aufschwingen konnte, doch aber unseres Wissens in diesem Maßstabe noch in keinem bisherigen biographischen Werke je zur Anwendung gelangt ist. Was wir in dieser Hinsicht ermitteln und feststellen konnten, namentlich insofern sich bestimmte Aussprüche und Gedanken daran knüpften, die mit dem eigenen Gedankengang des Schaffenden und Denkenden eng zusammenhängen, haben wir hier mit so viel Sorgfalt als möglich an seinem Platze fortlaufend eingereiht und geordnet. Charakteristisch erscheint hierbei gleich in erster Reihe die Wahl der Autoren. Sie bekundet, ganz wie bei den daneben hergehenden musikalischen Hausbeschäftigungen, durchweg die Neigung zum Auserwählten, Großen und Größten. Auf beiden Gebieten, in der Musik wie in der Literatur, galt ihm die Forderung: ›man soll durchaus nur mit dem Edelsten umgehen: alles übrige ist Erniedrigung und tausendfach abgeschwächte Ableitung vom Urquell‹. In der Musik blieben ihm ein solcher gleichmäßig ungeschwächter Quell der Belebung deren erhabenste Meister Bach und Beethoven; mit voller Liebe umfaßte er daneben Mozart und Weber. Er konnte die unmusikalischen Naturen nur belächeln, von denen er vernahm, daß seine Musik ihnen den Sinn für Beethoven geraubt haben sollte; mit Unwillen wandte er sich von Denen ab, die es in ihrer Weise unternahmen, Bach und Beethoven noch einmal zu komponieren. Unter den Dichtern aller Zeiten gab es so manche Hochgepriesene, die ihm dennoch nichts zu sagen hatten, und mit denen er nichts zu tun haben mochte; immer wieder aber wandte er sich zu Homer, zu Shakespeare und dessen größtem Zeitgenossen Cervantes, unter den Deutschen vor allem zum zweiten Teil des ›Faust‹. Unter den großen Denkern zu Plato, Kant und Schopenhauer, letzteren als den von ihm Höchstgehaltenen verehrend, weil er an einem entscheidenden Punkte seiner geistigen Entwickelung ihm am meisten persönlich zu danken hatte. Die durch ihn gewonnenen Ergebnisse zur unverlierbaren Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu machen,3 galt ihm als das wichtigste Erfordernis einer deutschen und allgemein menschlichen Bildung. Er betrachtete sich in seinem ganzen Denken als einen Jünger [9] Schopenhauers, und zwar den einzigen wahrhaften und produktiven, der ihm als seinem Führer in seinen eigenen Schöpfungen ebenfalls etwas zu bieten gehabt hätte. Er kannte und las schließlich alles Lesenswerte, von dem ihm nur selten etwas entging; wie er denn bei der ersten Kenntnis der Schriften Gobineaus in den Ruf ausbrach: ›Gott, daß ich den einzigen originellen Schriftsteller so spät kennen lernte!‹4 Aber neben den ganz Großen waren es hauptsächlich die ›begabten Exzentrischen‹, wie Carlyle und E.T.A. Hoffmann, denen er seine Neigung zuwandte. In der wissenschaftlichen Literatur hatte er ein unüberwindliches Widerstreben gegen alles bloße Zitatenwesen:5 ›nicht einen Gedanken brauche so ein deutscher Gelehrter zu haben; nur Zitate kämen bei ihm vor!‹6 Hieraus erklärt sich sein gelegentlicher Ausspruch: ›er lese jetzt nur noch französische Bücher (in denen alles so wohl zubereitet sei); deutsche kämen ihm dagegen wie eine unaufgeräumte Schlafstube vor; hier stolpere man über einen Stiefelknecht, dort über ein Paar Strümpfe‹.7 Nicht im geringsten lag hierin eine Bevorzugung der französischen Literatur als solcher vor der deutschen ausgedrückt; vielmehr geht ein Ausspruch, wie dieser, durchaus Hand in Hand mit der bei anderer Gelegenheit (anläßlich der Hoffmannschen ›Serapionsbrüder‹) abgegebenen scheinbar entgegengesetzten Erklärung: ›Das schlechteste deutsche Buch ist mir lieber, als das beste französische; es wird doch immer etwas Sympathisches darin angeregt, wovon die anderen keine Ahnung haben‹,8 oder: ›Wir nehmen uns nicht gut aus; wenn es aber bei uns zum Richtigen kommt, dann bringen wir wohl die einzigen, ganz universalen, vorurteilsfreien Köpfe hervor‹ (S. 449).

Eine große Aufmerksamkeit haben wir in diesem ganzen Bande all Demjenigen zugewandt, was an authentischen Äußerungen und gelegentlichen Reflexionen über Gegenstände des Denkens und Wissens, wie der Kunst, zum Teil durch eigene Anhörung, zum Teil durch zuverlässige Vermittelung anderer uns zugegangen ist. Nachdem uns in dieser Beziehung bereits Hans von Wolzogen, weiterhin Ludwig Schemann in ihren aufgezeichneten ›Erinnerungen‹ vorausgegangen sind, hielten wir dies gerade in dem gegenwärtigen letzten Abschnitt unserer Darstellung für unsere wichtigste Aufgabe, und hatten bei diesem Bestreben das besondere Glück, hierin von den zuständigsten Seiten her unterstützt zu werden. Wo wir uns in dieser Beziehung direkter Anführungszeichen bedient haben, kann man sicher sein, daß nicht allein der Gedanke, sondern selbst der Wortausdruck originalgetreu sind; wenn auch der jedesmalige [10] Zusammenhang, Ausdruck und Redeton unmöglich anders als bloß andeutend zu vergegenwärtigen waren. Daß fast jedes dieser Worte in goldene Tafeln eingegraben zu werden verdient, hoben wir bereits in der ersten Ausgabe dieses Buches hervor; der Grund davon liegt nicht allein in der jedesmaligen Form dieser Mitteilung,9 sondern allem zuvor in der unverbrüchlichen Wahrheitsliebe, vermöge deren er seinen Gedanken nie ein Schönheits- oder gar Beschönigungs-Mäntelchen umhängte, sondern über jeden Gegenstand aus dem Innersten heraus genau so sprach, wie er es dachte und empfand. Gerade wegen dieses hervortretenden Reichtumes echter Aussprüche bezeichneten wir im vorstehen den eben den gegenwärtigen Teil unserer Gesamtdarstellung als einen ›lange aufgesparten berauschenden Trank‹; da er den Leser zum erstenmal in dieser Vollständigkeit in das persönlichste Gedankenleben Richard Wagners einführt, und – neben den gedruckten Schriften und Briefen – einen ganz wesentlichen ergänzenden Beitrag zur Erkenntnis seines Denkens und seiner Auffassung der Dinge darbietet. Hierbei ergibt sich denn auch zur Steuer der Wahrheit eine passende Gelegenheit, einer weitverbreiteten, immer wiederkehrenden Behauptung entgegenzutreten, als sei er in der Lebhaftigkeit seiner Unterhaltung gern vom einen ins andere übergesprungen10 und, einer mehr zufälligen Assoziation der Vorstellungen folgend, vom ›Hundertsten ins Tausendste‹ geraten. In der Tat haben wir auch derartigen behaglichen Unterhaltungen beigewohnt, die ungezwungen immer an ›das Nächste‹ anknüpften, um ›von dem Nächsten in das Fernste zu gelangen‹. Man vergleiche indes in dieser Beziehung unsere nicht zu unterschätzenden Ausführungen auf S. 120/21 dieses Bandes. Ferner möge der Leser sich selbst die Erklärung dafür suchen, daß es so häufig Franzosen sind, die in ihren Schilderungen diesen Zug beständig wiederholen; u.a. der treffliche Schüré, und in genauester Übereinstimmung damit Graf Fourcaud.11 Endlich aber bleibt die einfache Tatsache zu konstatieren, daß er es – aus guten Gründen! – keineswegs immer mit aufmerksamen Hörern zu tun hatte, sondern diese vielmehr den leitenden Faden so mancher, bloß scheinbar abspringenden Unterhaltung aus den Händen verloren, weit sein bloßer Anblick und das Sprühende seines Wesens sie nicht zum Festhalten kommen ließen.12 Seine Abneigung gegen alles ›Systematische‹ in seinen, mündlichen wie schriftlichen, Mitteilungen wird u.a. durch Heinrich von Stein bezeugt,13 weil ihm jede Beschränkung unleidlich war und die Unmittelbarkeit [11] der Auffassung und des Urteils zu gefährden schien. Andererseits ist es nicht zu verkennen, daß auf jeder der verschiedenen Stufen seiner geistigen Entwickelung (so z.B. in der so wichtigen Übergangsperiode von 1848 bis 54) allen seinen Äußerungen, wenn auch nicht eben ein philosophisches System,14 so doch eine durchgehende Einheit der gesamten Auffassung zugrunde liegt, ja sogar eine Einheit, deren Auffassung – über den bloßen Gedanken hinaus – mit dem jeweilig seinen Geist beherrschenden Kunstwerk in ebenso notwendigem Zusammenhang steht, wie die Gedankenentwickelung dieser letzten Periode mit seinem ›Parsifal‹. Wem dies aus den Schriften selbst noch nicht vollauf überzeugend entgegengetreten ist, dem können die im vorliegendem Bande enthaltenen Gedanken, gerade in dieser ihrer vorübergehenden Fassung des Gespräches, als Übergang von der Puppe zum Schmetterling, sowohl nach der technischkünstlerischen, wie nach der metaphysischen und kulturgeschichtlichen Richtung hin als Ergänzung zum dort Ausgesprochenen von allergrößtem Werte sein. ›Ich weiß, was ich weiß, und was darin ist!‹ sagte der Meister nach Vollendung seines allgewaltigen letzten Werkes,15 und ähnlichen möchten wir uns über die in diesem Bande erfolgte Fixierung der in ihm vereinigten Gedankensplitter ausdrücken.

Es wäre denkbar, daß der freundliche Leser, nach wiederholter Betonung der mannigfachen Autopsie des Verfassers, in wohlgewogener Überschätzung desselben, eine gelegentliche, mehr als bloß andeutende Hereinziehung seiner eigenen unbedeutenden Person in den Rahmen unserer Erzählung vermißte. In dieser Beziehung haben wir uns vielmehr an die Beschaffenheit eines jeden guten Spiegels gehalten, der immer nur den vor ihm befindlichen Gegenstand nebst Umgebung in voller Klarheit, nicht aber sich selbst in der gleichen Fläche reflektiert, vielmehr an sein Dasein nur an denjenigen Stellen erinnert, wo er etwa schadhaft oder rissig ist. Einen solchen Spiegel neugierig umzukehren, um seine Rückseite zu betrachten, hat wohl, wo es versucht, wurde, immer nur eine Enttäuschung bereitet. Für eine solche war in diesem Buche kein Platz; der Leser muß sich dafür an die ›schadhaften Stellen‹ [12] halten, die wohl auch ab und zu vorkommen. Wir glauben vielmehr, recht daran getan zu haben, unsere ausschließlich persönlichen Erinnerungen, auf Grund eines vorhandenen Restes von Aufzeichnungen, einer zukünftigen Zeit vorzubehalten, da sie mit unserer gegenwärtigen Aufgabe nichts gemein haben, und können zum Schluß nur den Wunsch aussprechen, diese letztere nicht allein zu unserer eigenen Befriedigung gelöst zu haben.

Das Lebenswerk des Verfassers ist mit diesem gegenwärtigen Abschluß seiner umfangreichen Arbeit immerhin noch nicht getan. Allen bisherigen Bänden derselben haften in seinen Augen vorläufig noch zahlreiche Mängel an, deren er selbst sich am meisten bewußt ist, und die er erst jetzt, nach erfolgtem äußerem Abschluß, allmählich zu verbessern sich in der Lage fühlt. Daß dieser äußere Abschluß so spät erst sich ermöglichte, daß sein Buch jahrzehntelang als bloßer Torso von Auflage zu Auflage sein Dasein fristete, daran trugen mancherlei unabänderliche Lebensverhältnisse die Schuld. Sollte ihm aber für den Rest seiner Tage noch die beglückende Muße vergönnt sein, sein ganzes Werk von Anfang an einer letzten Durchsicht zu unterziehen, so würde diese vielberufene ›Tatsachensammlung‹, nachdem für die ersten drei Bände – nächst einem noch unverwerteten Briefmaterial – auch die Autobiographie des Meisters mit herangezogen werden kann, nun erst zu Dem werden können, was ihrem Verfasser einst als Ideal vorschwebte. Wie stark das Bedürfnis danach in Wahrheit ist, das erweist sich inzwischen durch die Notwendigkeit immer neuer Ausgaben der früheren Teile. Nach Popularität hat dies Buch nie gestrebt, es war immer nur für Wenige bestimmt; aber der Kreis dieser Wenigen erweitert sich – wie der Erfolg lehrt – von Tag zu Tage. Daß es bereits in seiner einstweiligen Gestalt die Gunst dieser weitzerstreuten ›Wenigen‹ sich erwerben konnte, hat all seine in dieser Hinsicht gehegten Erwartungen bei weitem übertroffen und ist ein lebendiges Zeugnis für die Macht des darin behandelten Gegenstandes. Vielleicht aber wird es sich auch hierbei wiederum erweisen, daß einzig Das, was die ›Wenigen‹ zu befriedigen imstande ist, einen wahren und dauernden Wert auch für die Allgemeinheit besitzt.

Der Verfasser.

Riga, den 22. Mai 1911.

Fußnoten

1 ›Was ist schließlich das Kunstwerk anderes, als der starke Wesensausdruck eines bestimmten Individuums, – das Echo seiner Empfindung, das Spiegelbild seines Geistes?‹ (Henry Thode, die Malerschule von Nürnberg im 14. und 15. Jahrh., Frankfurt, 1891, S. 57.)


2 Verstöße gegen dieses erste Gesetz der Anschaulichkeit fallen uns hinterher, wo es zu spät ist, am schwersten auf die Seele, wenn auch nur in bezug auf solche kleinen Dinge, daß z.B. wiederholt von der schönen ›Brange‹, der Genossin Markes, die Rede ist, ohne daß auch nur ein einziges Mal ausgesprochen wird, daß sie – wie Fasolt neben Fafner – ein weißer Hund war, ihr Gemahl Marke aber ein schwarzer, – und manches andere von gleicher Art.


3 Gesammelte Schriften X, S. 330.


4 S. 432 dieses vorliegenden Bandes.


5 Vgl. Gesammelte Schriften IX, S. 354.


6 S. 436 des vorliegenden Bandes.


7 S. 129 dieses Bandes.


8 S. 591 dieses Bandes.


9 Vgl. S. 59 dieses vorliegenden Bandes.


10 S. 249 dieses Bandes.


11 Band IV, S. 297, und S. 249 dieses gegenwärtigen Bandes.


12 Vgl. z.B. S. 337 dieses Bandes.


13 S. 696 dieses Bandes.


14 Bekanntlich verwahrt sich selbst ein Schopenhauer entschieden dagegen, ein solches mit all seinen Künstlichkeiten aufgestellt zu haben (Vorwort zur ersten Ausgabe von: ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹), und betont einmal mit Humor die ungesellige, wesentlich polemische Beschaffenheit der ›Systeme‹ an sich: während alle Dichterwerke, ohne sich zu hindern, nebeneinander bestehen, ja sogar die heterogensten unter ihnen von einem und demselben Geiste genossen und geschätzt werden können: so ist dagegen das philosophische System, kaum zur Welt gekommen, schon auf den Untergang aller seiner Brüder bedacht, gleich einem asiatischen Sultan bei seinem Regierungsantritt (›Parerga‹ II, 5).


15 S. 555 dieses Bandes.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905.
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