III.

[69] Am 19. April 1853 nahm Johannes Brahms Abschied von Elternhaus und Vaterstadt und ging mit Reményi in die Fremde, »auf die Wanderschaft,« wie es im Zunftausdrucke der Professionisten heißt. Ein bestimmtes Reiseziel scheinen beide nicht gehabt zu haben. Daß sie es kaum auf Konzerte in großen Städten abgesehen hatten, beweist die Wahl der vorgerückten Jahreszeit. Frühling und Wanderlust zogen sie hinaus. Brahms wollte Berge sehen, wirkliche hohe Berge, die den Sillberg bei Blankenese und die Hügel von Hausbruch überragten, und alle die romantischen Gegenden Deutschlands durchstreifen, die er aus illustrierten Reisebeschreibungen kannte, und von denen er in seinen musikalischen Phantasien träumte. Waren die Konzerteinnahmen gut, so konnte die lustige Fahrt durch den Schwarzwald bis an den Bodensee und in die Schweiz ausgedehnt werden. Die Lenzmonde sollten im deutschen Mittelgebirge und am Rhein genossen werden.

Aber die Reise, mit so leichtem Sinn sie unternommen wurde, und so romantisch sie sich anließ, verfolgte doch auch ihren praktischen Zweck. Denn Johannes hoffte irgendwo unterwegs unterzukommen und die von ihm erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten nutzbringend verwerten zu können. Einen Zehr- und Notpfennig hatte er von seinen Honoraren, die er sich am liebsten in blanken Doppeltälern auszahlen ließ, beiseite gebracht, der Vater hatte ein übriges dazugetan, und seine wohlgefüllte Geldkatze dünkte ihm der Säckel des Fortunat zu sein. Im Ränzel trug er wenig Wäsche, aber viel beschriebenes und unbeschriebenes Notenpapier: Kammermusik und Lieder; auch eine Violinsonate war dabei. Er hatte sie eigens für seinen Begleiter komponiert und sie nebst einigen Beethovenschen Sonaten mit ihm eingeübt, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Die Stücke seines Virtuosen-Repertoires und seine neuesten Kompositionen wußte er auswendig, [69] ebenso das Akkompagnement zu den ungarischen Liedern und Tänzen, der Elegie und dem Karneval von Ernst nebst anderen Paradenummern des Geigers.

In den letzten Jahren, seitdem Marxsen seinen Schüler losgesprochen hatte, war mancherlei Eigenes entstanden, das gelegentlich in Hamburger Patrizierhäusern und vor den kritischen Ohren der mit dem Vater befreundeten Berufsgenossen mit Beifall erprobt wurde. Um das Urteil seiner Zuhörer nicht für oder gegen sich einzunehmen, führte der überängstliche junge Autor seine Werke unter fremdem Namen auf. Wie er sich bei seinen auf Bestellung gearbeiteten Arrangements des Pseudonyms G.W. Marks bediente, so schob er bei seinen freien Kompositionen einen sicheren Karl Würth vor, der ihn gegen etwaige Ausfälle deckte. Es existiert noch das Programm eines Privatkonzertes, das am 5. Juli 1851 zur Silberhochzeitsfeier des reichen Kaufmannes »Herrn Schröder und Frau« stattfand, auf welchem ein Duo für Piano und Violoncell und ein von den Herren Gade, d'Arien und Brahms vorgetragenes Klaviertrio von Karl Würth verzeichnet sind. Brahmssche Bleistiftstriche ziehen bedeutungsvoll ein gemeinsames Band um das Pseudonym und den wahren Namen des Komponisten.

Aus demselben Jahre stammen das als op. 4 herausgegebene es-moll-Scherzo und das Lied »Heimkehr« (op. 7, Nr. 7). Beide Kompositionen zeigen trotz ihres scheinbaren oder wirklichen Zusammenhanges mit bekannten Vorbildern (Chopin, Marschner und Karl Loewe) die Selbständigkeit und den oft rücksichtslosen Eigenwillen des Brahmsschen Genies. Von den gedruckten Werken des Komponisten sind diese beiden Stücke die ältesten. Ihnen schlossen sich 1852 an: das Andante der C-dur-Sonate, die Lieder Nr. 1, 2, 3, 4 (op. 6), alles im April 1852 komponiert; im August 6, 7, im November 9, 8 aus op. 7 und ebenfalls im November desselben Jahres die fis-moll-Sonate op. 2. Aus dieser Zeit rührt auch die Bearbeitung des Weberschen Rondos, des sogenannten Perpetuum mobile, her, die als Nr. 2 der »Studien für das Pianoforte« 1869 bei Bartholf Senff erschienen ist. Das Manuskript, im Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, trägt die Aufschrift: »Für die l.(inke) H.(and) obligat arrangiert 8. März 1852 Johs. Kreisler jun.« Die Anekdote [70] erzählt, Marxsen habe das Rondo seinem Schüler zum Spielen aufgegeben, Brahms habe es zu seiner Zufriedenheit gespielt, dann aber gesagt: »Mit der linken Hand kann ichs auch.« Im Januar 1853 folgte »Liebestreue« (op. 3, Nr. 1), eines der berühmtesten und meist gesungenen Brahmsschen Lieder, im März Nr. 3 aus op. 7 und kurz vor der Abreise von Hamburg Satz 1, 3 und 4 der C-dur-Sonate. Das letzte dieser Werke, die wild überschäumende Sonate, das Jünglingsstück par excellence, leitet die folgenden Ereignisse unmittelbar ein. Unter dem alle Lebensgeister in Aufruhr versetzenden Eindruck der nahe bevorstehenden Ausfahrt entstanden, hat die Sonate die ungeduldige Seele des Komponisten von dem auf ihr lastenden Druck befreit, sein übervolles Herz vor dem Zerspringen bewahrt; sie öffnet die Quellen seines Empfindens gleichsam alle auf einmal, entrollt das Programm zur wundervollen Reise ins Blaue und besingt in gewaltigen Tönen deren geniale Ungebundenheit. Wäre es erlaubt, ihrem als musikalisches Motto auf die Stirn gedrückten Hauptthema Worte zu geben, so legten wir ihm den Text unter: Auf! Hinaus in das Leben!


3. Kapitel

Etwas Ähnliches mag dem Komponisten durch den Sinn gegangen sein. Erzählte er doch seinem Freunde Dietrich, daß ihn beim Sechsachteltakte im Finale derselben Sonate:


3. Kapitel

das Lied vorschwebte: »Mein Herz ist im Hochland!« (Robert Burns »My heart's in the Highlands«).

So ausgerüstet, konnte es den wandernden lustigen Musikanten, die obendrein meist zu Fuß gingen und auf längeren Strecken höchstens einmal die gemütliche Postkutsche benutzten, ihrer Meinung nach nicht fehlen, sie mußten ihr Glück machen. Was Brahms in den Novellen und Gedichten der Romantiker zusammengelesen hatte, schien ihnen lebendig werden zu wollen, und wenn er den dunkeläugigen, interessanten, von wunderbaren Märchen wie mit einem magischen Nimbus umflossenen Gesellen im Schnurenrock [71] neben sich gehen sah, so konnte er sich in das Kapitel einer Hoffmannschen Novelle verstrickt glauben. Der Ungar, ein verwilderter Surrogat, Joachim, gefiel ihm über die Maßen; auch er war ein heißes, junges Blut, noch unversäuert von dem Tropfen scheelsüchtigen Neides, die dem Manne das Leben vergifteten, zu jeder Tollheit aufgelegt und immer bereit, die Fiedel vom Rücken herunterzulangen und als neuer Rattenfänger von Hameln ehrsame Kleinstädter und friedliche Dörfler zu betören. Zuerst ging die Reise über Harburg nach Winsen, wo Brahms von seinem Kapell, meister, Intermezzo und öfteren Besuchen her in gutem Andenken stand Von dort weiter nach Lüneburg, Uelzen und Celle. Hier, in Celle, soll es gewesen sein, wo Brahms dem Geiger zuliebe, der sein Instrument nicht nach dem schlechten Klavier um einen halben Ton hinabstimmen wollte, am Konzertabend die Beethovensche Violinsonate op. 30, Nr. 2, von c nach cis-moll transponierte.1 Als Marxsen von diesem Wagestück hörte, war er nicht sonderlich überrascht, sondern bemerkte, Brahms sei von ihm angehalten worden, große Musikstücke prima vista in alle möglichen Tonarten zu transponieren, um dadurch eine freie, unabhängige Technik zu gewinnen. Auch sei seines Schülers Gedächtnis ein so außerordentliches, daß es ihm gar nicht einfiele, auf Konzertreisen Noten mitzunehmen. In den kleinen Nestern, die sie durchstreiften, mußten die Honoratioren, Pfarrer und Kantor mit ihren Klavieren oder auch der Schullehrer mit einer zweiten Geige herhalten, die Brahms zum Gaudium Reményis als Akkompagnist strich. Sie mögen manches unterhaltende Abenteuer erlebt haben, wie jenes in Hildesheim, das Brahms, wenn er gut aufgelegt war, den Freunden erzählte, und das Heuberger2 vor dem Vergessen aufbewahrt hat.

Ihr dortiges Konzert war sehr schlecht besucht. Doch trösteten sie sich über ihr Mißgeschick bei einer Tafelrunde fröhlicher Sangesbrüder, die gleich ein von Brahms ad hoc aufgesetztes Chorlied probierten. Vom Wein und der Musik erhitzt, wogte die begeisterte Schar hinaus in die mondbeglänzte Frühlingsnacht, Reményi mit der Geige voran, über die stillen Plätze und durch [72] die altertümlichen Gassen der eingeschlafenen Stadt bis zum Hause, wo die verehrte Schöne wohnte, eine Dame von Adel, welche das Konzert mit ihrer Anwesenheit ausgezeichnet hatte. Die Sänger stimmten ihren Chor an, Reményi phantasierte über Melodien aus Bellinis »Puritanern« – »es war der reine Eichendorff.« Am nächsten Tage wurde ein zweites Konzert angekündigt, zu dem bald alle Sitze vergriffen waren, da jeder Hildesheimer die beiden Fahrenden gesehen und gehört haben mußte.

Ende Mai kamen Brahms und Reményi nach Hannover. Dort, nicht in Göttingen, wie Heinrich Ehrlich in seinen »Biographischen Studien« erzählt, fand die erste Begegnung zwischen Brahms und Joachim statt.3 Da Joachim das, was sein Freund und Biograph Andreas Moser hierüber aussagt, für authentisch erklärt hat, folgen wir im wesentlichen der lebendigen Darstellung des gut unterrichteten Adepten. Reményi wußte, daß Joachim, den er schon vom Wiener Konservatorium her kannte, seit Anfang des Jahres seinen bisherigen Wirkungskreis in Weimar verlassen, die Stelle des im November verstorbenen königlichen Konzertmeisters Georg Hellmesberger in Hannover übernommen hatte und binnen kurzer Zeit bei Hofe persona grata geworden war. Daher schien es ihm nicht unvorteilhaft, die Bekanntschaft mit dem Landsmann und ehemaligen Studienkollegen zu erneuern, und er machte ihm mit Brahms seine Aufwartung. Dieser hielt sich in geziemender Ehrfurcht vor dem berühmten Künstler bescheiden zurück, und erst im Laufe des Gesprächs wurde Joachim auf den Begleiter seines »Kunstbruders« aufmerksam. Seine wunderbare Erscheinung und seine treffenden Antworten erregten bald die Aufmerksamkeit des gleichgesinnten Künstlers, und je weniger ihm das theatralische Auftreten des zudringlichen Ungarn behagte, desto mehr gefiel ihm das zurückhaltende Wesen des jungen Hamburgers. Aufgefordert, eine Probe seiner Kunst hören zu lassen, setzte sich Brahms ans Klavier und spielte außer dem es-moll-Scherzo einige Sätze seiner C-dur-Sonate. Joachim geriet außer sich vor Erstaunen über den Spieler und noch mehr über das, was er spielte. Als Brahms [73] zuletzt sein Lied der Lieder intonierte von der treuen Liebe, die den im Sturme zersplitternden Felsen beschämt, gab es für den hingerissen Lauschenden keinen Zweifel mehr: ein ebenbürtiger Künstler, ein überragendes Genie von Gottes Gnaden war ihm begegnet.

In Briefen, die er an Heinrich Ehrlich, damaligen hannöverschen Hofpianisten, und an die musikalische Hofdame Gräfin Bernstorff-Gartow richtete, ließ Joachim seiner Begeisterung freien Lauf. »Brahms,« so schrieb er, »ist ein ganz ausnahmsweises Kompositionstalent und eine Natur, wie sie nur in der verborgensten Zurückgezogenheit sich in vollster Reine entwickeln konnte; rein wie Demant, weich wie Schnee ...« und: »In seinem Spiele ist ganz das intensive Feuer, jene, ich möchte sagen, fatalistische Energie und Präzision des Rhythmus, welche den Künstler prophezeien, und seine Kompositionen zeigen schon jetzt so viel fertig Bedeutendes, wie ich es bis jetzt noch bei keinem Kunstjünger seines Alters getroffen.« Ehrlich, dem wir die Mitteilung dieser Briefstellen verdanken, berichtet dann weiter, daß Reményi und Brahms (wahrscheinlich auf seine oder Joachims Verwendung) zu einem Konzert bei Hofe eingeladen wurden. Lakonisch bemerkt er: »Sie spielten vor dem König Georg; der Geiger gefiel sehr, der Pianist weniger; sein Scherzo war kein Hofkonzertstück.« Mit Entsetzen erfuhren hinterdrein die hohen Herrschaften, daß sie einem blutroten Revolutionär geneigtes Gehör geschenkt hatten. Reményis Name oder doch der seines bei dem Aufstand in Ungarn mittätigen Bruders war im »Schwarzen Buche« verzeichnet. »Der hannöversche Polizeipräsident Wermuth, dem die Hinckeldeische Allmacht als Ideal vorschwebte, ließ den Geiger rufen und einem Verhör unterziehen; hiebei gebärdete sich Reményi so pathetisch, daß ihm und seinem Begleiter der weitere Aufenthalt in der Stadt verboten und die Route nach Bückeburg vorgeschrieben wurde.« Der Intervention des Hofpianisten gelang es, dem Polizeipräsidenten ein besseres Verständnis beizubringen und eine Änderung der Befehle zu erwirken. Brahms und Reményi wurden nicht in das benachbarte Fürstentum Schaumburg-Lippe abgeschoben, sondern konnten ihre Reise nach Mitteldeutschland fortsetzen. Beim Abschied von Joachim sagte dieser unter vier Augen zu Brahms: »Wie ich meinen Landsmann schon lange [74] kenne und nun auch glaube, Sie beurteilen zu können, vermute ich, daß Sie es nicht allzulange mit Reményi aushalten werden; sollten Sie sich aber aus irgendeinem Grunde von ihm trennen, so würde ich mich herzlich freuen, wenn Sie mich hier in Göttingen, wo ich die Sommermonate verbringe, wieder aufsuchten; ich habe die größten Sympathien für Ihre Künstlerschaft.«

Joachim war, als die reisenden Künstler bei ihm vorsprachen, gerade von Weimar gekommen, wohin es ihn noch immer mit eigener Magie zurückzog. Er hatte am 22. Mai in einer Matinée bei Liszt Quartett gespielt und am Tage darauf seine Hamlet-Ouverture und sein Violinkonzert mit Orchester probiert. Nun meldete er Brahms brieflich bei seinem großen Freunde in Weimar an, und das »ungleichartige Gespann«, wie Joachim die beiden nannte, rückte Anfang Juni in Weimar ein.

Die Gartenstadt Karl Augusts war nicht der heilige Musensitz, nicht das deutsche Ferrara mehr, das sie noch vor dreißig Jahren gewesen war, auch nicht der stille, an ernsten Totenmälern und großen Erinnerungen reiche Friedhof der Unsterblichkeit, zu welchem sie nach Goethes Tode entschlummert war. Auf dem von den deutschen Klassikern geweihten Boden sollte sich mit korybantischem Getöse die Prophetenschule der über Paris bezogenen »neudeutschen« Musik etablieren. Mitunter waren es recht sonderbare Schwärmer, welche durch den von Musen und Grazien verlassenen Dichterhain tobten. Zwar herrschte damals noch nicht jene völlige Ungewaschenheit und Unfrisiertheit der Prinzipien, Meinungen und Ansichten, vermöge deren sich jeder rührige, anmaßende und lärmende Geselle berufen fühlte, eine neue, monatlich wenigstens einmal urbi et orbi mit feierlichen Tamtamschlägen angekündigte Genieperiode herauszuführen. Aber die künftige Weimarer Schreckenszeit war schon im Anzuge. Sämtliche Künste wurden bereits miteinander verwechselt und vertauscht, die Vernunft auf den Kopf, der Aberwitz auf die Beine gestellt und die daraus resultierende Begriffsverwirrung für die Ästhetik einer zukunftsvollen Gegenwart ausgegeben. Die Malerei mußte musizieren, die Poesie malen, die Musik dichten und philosophieren lernen, so daß bald kein Mensch mehr wußte, wozu eigentlich er auf der Welt war. Weder damals noch später fehlte es an hervorragenden Talenten; doch [75] diese Talente liefen Gefahr, in der allgemeinen Gärung der Gemüter zu verbrausen, sich in falsche Grundsätze einzubohren und durch unzweckmäßige Verwendung ihrer Kräfte zu zersplittern. Sie alle scharten sich um das glänzende Gestirn, das verheißungsvoll wie eine Sonne aus dem Rauche der östlichen Steppe emporgestiegen war, um kometengleich in weit ausschweifenden, unberechenbaren Bahnen am Himmel vorüberzuziehen.

Franz Liszt hatte aus dem Boden seiner ungarischen Heimat, aus der Seele des dort erstandenen Mischvolkes die wunderbare Fülle seines Lebens gesogen. Aber er blieb nicht in der Scholle wurzeln, die ihn gebar, er wohnte nicht unter den Brüdern seines Landes, um ihr Los in beschränktem Selbstgenügen zu teilen. Der Geist hatte ihn früh hinausgetrieben in die weite Welt, und er durchwanderte, eroberte und verschenkte sie. Die Erde war sein Vaterland geworden, und wo er sein Zelt aufschlug, war er zu Hause. Was die Nationen an unveräußerlichem Eigentum besitzen und Fremden mit dem zähen Willen ihres angestammten Charakters vorzuenthalten pflegen, die letzten und besondersten Güter des Menschen, welche kostbarer sind als jeder andere Besitz, das fiel ihm mühelos anheim, und er empfing es wie ein Gastgeschenk nach fröhlichem Schmause. Die vornehme Eleganz des verbindlichen Franzosen, die heitere Grazie des feurigen Italieners, der schwärmerische Ernst des sinnigen Deutschen verbanden sich in ihm mit dem angeborenen Temperament des ritterlichen Magyaren. Jedes einzelne dieser Völker durfte den Kosmopoliten der Kunst zu den Seinigen zählen. Und doch war diese niemals zuvor gesehene Vereinigung heterogener Eigenschaften nur wie das Band der farbigen Iris; der dunkle Stimmungsgrund, auf welchem es erschien, gehörte dem rätselhaften Wesen jenes ruhelosen Nomadenstammes an, welcher, den Bergländern Afrikas und Asiens entsprossen, vom grauen Altertum her bis auf den heutigen Tag ohne Gesetz und Wohnsitz lebt und frei von allen Ansprüchen und Forderungen der Kultur und Sitte sich zu erhalten weiß.

Liszt, mochte er immerhin von deutscher Abkunft sein, war seiner innersten Natur nach Zigeuner, freilich ein idealer Zigeuner aber mehr Rommy als ein Talmi-Zigeuner nach der Art Reményis. Zum Zigeunertum führten die ältesten Beziehungen seiner [76] Jugend zurück, von ihm rührten die elementare Macht und der unwiderstehliche Reiz seiner Persönlichkeit her, aus ihm lassen sich die abenteuerlichen Schicksale seines wechselreichen Erdenwandels erklären, und zu ihm laufen auch die verworrenen Fäden seiner Kunst sichtbar hin. Das Interessanteste, was uns von der Geschichte seines Lebens erzählt wird, finden wir auf den krausen Blättern verzeichnet, die ein launischer Wirbelwind aus den verschiedensten Winkeln Europas zusammengefegt hat; das anziehendste und fesselndste Buch, welches wir dem fruchtbaren Schriftsteller verdanken, ist ohne Zweifel seine von echter Naturpoesie beseelte Schilderung »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn«, und für die reifsten und besten Errungenschaften des Komponisten halten wir seine ungarisierenden Paraphrasen, Phantasien und Rhapsodien.

Sicherlich hat der Souverän des Klaviers mehr von den braunen Söhnen der Steppe gelernt als von den Meistern, die seine musikalische Erziehung leiteten. »Das architektonische Gerüst künstlich aneinander gereihter Tasten« würde nimmermehr dem phantastischen Wunderbau des Lisztschen Pianofortes die Stelle geräumt haben, wenn Zigeunergeige und Zimbal nicht dabei mitgeholfen hätten. Der ungebundene, originelle Geist und die alle Schranken des Herkommens überspringende Technik des Lisztschen Klavierspieles hatten ihren Ursprung im Lager der Bohémiens. Er war des Zaubers mächtig geworden, den er der musikalischen Natur an einer ihrer verborgensten und reichsten Quellen abgewonnen hatte, und was die hinreißende Beredsamkeit seines Vortrages etwa zu wirken übrig ließ, vollendete der Eindruck seiner äußeren Erscheinung. Selten hat das Glück der Persönlichkeit unmittelbarere und größere Erfolge zu verzeichnen gehabt als bei Liszt. Wer die lebendige Darstellung Kriehubers kennt, welche den Künstler in halber Figur aufrechtstehend wiedergibt, wird die Bemerkung des Zeichners nicht übertrieben finden, wenn dieser von Liszt behauptete, er könnte jedem Maler als Modell zu einem griechischen Gotte dienen. Der Jupiterkopf mit dem Adlerauge und der Löwenmähne verrät auf den ersten Blick, daß der ihm innewohnende Geist zum Befehlen und nicht zum Gehorchen berufen war. In einem Taumel von Aufregungen und[77] Genüssen, unter Studien und Entwürfen, zwischen sozialpolitischen und religiösen Spekulationen umhergetrieben, hatte der Rivale Paganinis, der Überwinder Thalbergs, der Freund Chopins, Berlioz' und der George Sand, der Jünger des Abbé Lamennais, der Held der Pariser, Wiener und Petersburger Salons, der von Frauenhuld und Fürstengunst verwöhnte Künstler, seine Triumphzüge durch Europa gehalten.

Wie Liszt ausschließlich dem Antriebe seines Dämons folgte, mochte er ihn führen, wohin er wollte, so zögerte er auch keinen Moment, mit seiner glänzenden Vergangenheit zu brechen, als er zu erkennen glaubte, daß noch höhere, bisher so gut wie unbenützt gebliebene Fähigkeiten in ihm schlummerten. Der verzehrende Durst nach dem Ruhm des Pianisten war gestillt, die Aufgaben des Virtuosen, in dessen vornehmer Gesinnung Gewinnsucht und Habgier niemals mitsprachen, schienen gelöst; neben den auf die große Masse berechneten Bravourstücken des Pianisten hatten doch auch die klassischen Werke der Musik-Literatur ihren Meister in ihm gefunden, und es gab bald nichts mehr, was den ausübenden Künstler hätte reizen können. Ein moderner Tantalus und Midas, fing er an, in der Fülle seines lorbeerduftigen goldenen Überflusses die bitterste Entbehrung zu fühlen. Das Unzulängliche und Halbe seiner bevorzugten Lage schnitt schärfer in sein Herz, als andere, von der Gunst des Schicksals minder Ausgezeichnete es empfunden haben würden; der heiße, volle Sonnenschein des Glückes drohte ihm den Scheitel zu versengen und sein Hirn auszudörren.

Von ganzer Seele sehnte er sich aus dem rastlos-nichtigen Treiben des fahrenden Künstlers heraus: er dachte, den Zigeuner, der ihm im Blute steckte, und dessen Geschichte er, wie er selbst sagt, räumlich und zeitlich in gedrängtem Bilde wiederholt hatte, gründlich vertreiben zu können. Darum folgte er dem Beispiel der Deutschen, die, wenn sie zu komponieren anfangen, Kapellmeister werden oder auch umgekehrt; er wurde schaffender Künstler, griff nach dem Taktstock und setzte sich in Weimar fest. Bei diesem verhängnisvollen Schritte schwebte ihm nichts Geringeres vor als das Idealbild eines musikalischen Goethe! So wurde der »Musenwitwensitz« an der Ilm zum Mittelpunkte des musizierenden jungen Deutschland erhoben. In der »symphonischen Dichtung«, [78] die Liszt im Anschluß an die deutschen Dichter und die französischen Musiker aufs Tapet brachte, schien das Kredo des neuen ästhetischen Glaubens gefunden zu sein. Aber der Zigeuner ließ sich nicht vertreiben. Beim besten Willen hätte er auf seine älteren Tage kein solider, seßhafter Musikant werden können. Vom Klavier weggejagt, schlüpfte er ins Orchester und drang sogar bis in die Chöre der Lisztschen Messen und Oratorien vor. Überall ging er dem Komponisten nach, und es half diesem nichts, daß er zuletzt in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche flüchtete, um die Weihen zu empfangen, die seiner Musik fehlten.

Bald nach Liszt war seine russische Freundin, die Fürstin Karolyne von Sayn-Wittgenstein, in Weimar eingezogen, und sie residierte mit dem großherzoglichen Hofkapellmeister auf der ihr von der Großfürstin Marie Pawlowna eingeräumten »Altenburg«, einem großen und weitläufigen, auf einer Anhöhe einsam vor der Stadt gelegenen Hause. Mit dem Scharfblick des liebenden Weibes hatte sie schon in Woronince, als der gefeierte Pianist noch Gast ihres Landgutes war, den wunden Punkt im Innern des mit sich und der Welt zerfallenen blasierten, unmutigen Freundes erkannt und es sich zur Lebensaufgabe gemacht, seine heilende, fördernde, ratende und begeisternde Egeria zu werden. Sie bestärkte ihn in seinen ausschweifenden Künstlerphantasien und träumte mit ihm von jenem Gesamtkunstwerk der Zukunft, das Richard Wagner dann mit dem höchsten Aufgebot technischer Hilfsmittel, aber auch mit dem dazu gehörigen Genie, zu verwirklichen trachtete. In Weimar war das erste, was sie tat, daß sie die Altenburg für ihren Abgott, um dessentwillen sie Rang, Stellung und Vermögen in die Schanze schlug, in eine Walhalla seiner Unsterblichkeit umwandelte. Ihre Feenhände statteten das nüchterne Haus mit allem aus, was den Augen des Geliebten wohlgefiel, sie bauten den gewaltigsten Apparat auf, um ein Genie in Szene zu setzen, und richteten ein Laboratorium ein, um einen Komponisten hervorzubringen, wie noch keiner zuvor gelebt hatte. Die Altenburg verband in ihren zwei Stockwerken und zahllosen Zimmern die Kirche mit dem Boudoir, den Prunksaal mit der Bibliothek, das Hotel mit der Wohnung, das Kuriositätenkabinett mit der Werkstatt. Das Ganze präsentierte sich als großartiges Liszt-Museum, dessen [79] merkwürdigstes Objekt der Eigentümer selber war, und stellte mit der Kollektion aller Huldigungen, die Liszt jemals erfahren, eine permanente riesige Schmeichelei für den Herrn des Hauses dar. Hier konnte er sich wie in hundert Spiegeln von allen Seiten betrachten, überall kam er sich selbst entgegen, und jeder seiner Schritte erweckte den in den aufgestapelten Gegenständen schlummernden Beifall – die Wände applaudierten ihm noch, wenn der Hofstaat, den er um sich versammelte, und die illustren Fremden, die ihn besuchten, müde vom Klatschen geworden waren. In dem vielbeschriebenen »blauen Zimmer«, seinem Arbeitsraume, aber hing ein ominöser Wandschmuck: der Albrecht Dürersche Kupferstich der Melancholie, und aus der Kapelle nebenan wisperte das Lied des grauen Weibes: »Bei vollkommnen äußern Sinnen wohnen Finsternisse drinnen, und er weiß von allen Schätzen sich nicht in Besitz zu setzen.«

In diesen Zauberkreis trat der schlichte Hamburger Musikantensohn mit seinem Begleiter ein, der ihm, je länger er mit ihm verkehrte, immer weniger behagte. Liszt umarmte den Landsmann und hieß den ihm von Joachim empfohlenen Fremdling schönstens willkommen. Er duldete nicht, daß die beiden in der geringen Herberge blieben, in welcher sie eingekehrt waren, und die Altenburg nahm sie als ihre werten Gäste bei sich auf.4 So [80] über jedes Erwarten warm und entgegenkommend hatte sich Brahms den Empfang in Weimar nicht gedacht. Die ungewohnte Herzlichkeit, von der sein glänzender Wirt gleich bei der ersten Begegnung überfloß, tat ihm mehr weh als wohl, denn sie beschämte ihn und drückte ihn nieder. Der zugeknöpfte Norddeutsche regte sich in ihm, und mißtrauisch fragte er sich: wie komme ich armes, unbedeutendes Menschenkind zu einer solchen Auszeichnung? Im Verlaufe der nächsten Tage belehrte ihn dann die Erfahrung, daß, was er für etwas Außerordentliches genommen hatte, bei Liszt das Gewöhnliche war. Über das erste musikalische Zusammentreffen beider wollen wir einen Augenzeugen reden lassen.

Der amerikanische Pianist und Klavierlehrer William Mason (geb. 24. Januar 1823 zu Boston) hielt sich im Jahre 1853 zur Vollendung seiner musikalischen Studien in Weimar auf. In »The Century Magazine« hat er »Memories of a musical life« veröffentlicht, die sich lebhaft mit seinen Weimarer Tagen und auch mit Brahms und Liszt beschäftigen. »Eines Abends,« erzählt Mason, »anfangs Juni 1853 schickte uns Liszt ein paar Zeilen, wir möchten am nächsten Morgen nach der Altenburg kommen, da er den Besuch eines jungen Mannes erwarte, dem als Pianisten und Komponisten großes Talent nachgerühmt werde, und dessen Name Johannes Brahms sei. Er sollte in Gesellschaft Eduard Reményis erscheinen. Als ich dann mit Klindworth auf die Altenburg ging, fanden wir Brahms und Reményi schon im Empfangszimmer mit Raff und Pruckner vor. Nachdem wir die neuen Ankömmlinge begrüßt hatten, von welchen uns Reményi par renommée bekannt war, trat ich an einen Tisch, auf welchem Musikmanuskripte lagen: einige der von Brahms damals noch nicht veröffentlichten Kompositionen. Ich begann die Seiten des zuoberst auf dem Haufen liegenden Heftes umzublättern; es enthielt das Scherzo [81] op. 4 in es-moll. Wie ich mich erinnere, war die Schrift so unleserlich, daß ich bei mir selbst dachte: wenn ich das Stück studieren sollte, so wäre ich vor allem genötigt, zuerst eine Abschrift davon zu machen. Endlich kam Liszt herunter. Nach einiger allgemeiner Konversation wandte er sich zu Brahms und sagte: ›Es interessiert uns sehr, von Ihren Kompositionen zu hören. Vielleicht haben Sie Lust, etwas vorzuspielen.‹ Brahms, der augenscheinlich sehr nervös war, versicherte, es sei ihm ganz unmöglich, in solch einem Zustande der Verwirrung zu spielen, und konnte trotz der ernstlichen Vorstellungen Liszts und Reményis nicht dazu gebracht werden, sich dem Klavier zu nähern.5 Liszt, der sah, daß auf diese Weise nicht vom Flecke zu kommen war, ging an den Tisch, nahm das erste Stück, jenes unleserliche Scherzo, zur Hand und sagte: ›Nun, so werde ich spielen müssen.‹ Er legte die Noten aufs Pult. Wir hatten oft seine ungewöhnlichen Fähigkeiten imPrima vista-Spiel bewundert und betrachteten ihn darin als unfehlbar. Aber trotz unseres Vertrauens in seine Geschicklichkeit hatten wir beide, Raff und ich, die heimliche Angst, hier könne unser Glaube erschüttert werden. Ich zitterte förmlich, als Liszt das Scherzo auflegte. Er aber las es in so wunderbarer Weise vom Blatt, indem er zu gleicher Zeit kritische Bemerkungen über das Gespielte dazwischen warf, daß Brahms erstaunt und entzückt war. Raff meinte, gewisse Partien des Stückes seien von Chopins b-moll-Scherzo beeinflußt. Mir schien [82] die Ähnlichkeit zu unbedeutend, um ernstere Beachtung zu verdienen. Brahms sagte, er habe von Chopins Kompositionen vorher weder etwas gehört noch gesehen. Liszt spielte dann auch einen Teil der C-dur-Sonate op. 1.«

Die von Raff entdeckte, von andern bis zum Überdruß monierte Analogie zwischen Brahms und Chopin beschränkt sich auf die notengetreue Übereinstimmung dreier Achtel. Bei Brahms erscheint die Figur als Modifikation des Hauptgedankes:


3. Kapitel

und er begleitet mit ihr das Thema bei der ersten Wiederholung (Takt 11) in der Gegenbewegung:


3. Kapitel

Der zweimalige Anlauf derselben Phrase erhöht die äußere Ähnlichkeit beider Stücke. Es ist bei Brahms, als ob ein phantastischer Reiter sein Roß, das immer wieder schaudernd zurückbäumt, zu dem verwegensten Ritt auf Tod und Leben ansporne, und der im zweiten Teile des Scherzos anhebende, von trostloser Schwermut zu düsterer, unablenkbarer Entschlossenheit gesteigerte Gesang scheint das Gelingen des waghalsigen Abenteuers zu verbürgen. Mit größerer Berechtigung könnte eben dieser Melodie wegen der Vorwurf eines Plagiats gegen Brahms erhoben werden; denn sie ist ihrer ganzen Ausdehnung nach von Marschner. Aber auch diese »Entlehnung« gewinnt im Zusammenhange des ganzen Stückes ein völlig anderes Ansehen.

Das es-moll-Scherzo, wie wir uns erinnern, das älteste der von Brahms veröffentlichten Werke, ist im August 1851 in Hamburg vollendet worden. Es war die Zeit, als der achtzehnjährige Brahms Beziehungen zum Theater unterhielt, die Zeit seiner ersten Liebe. Marschners »Hans Heiling« hatte einen so starken Eindruck auf ihn gemacht, daß die klagende Melodie aus [83] dem Larghetto der Ouverture sich ihm in der Erinnerung festsetzte, um dann im Hauptsatze seines Scherzos wieder zum Vorschein zu kommen. Es ist interessant, die Brahmssche Fassung mit dem Original zu vergleichen. Bei Marschner intoniert das Horn die ersten vier Takte, und die Klarinette vervollständigt die achttaktige Periode, wie folgt:


3. Kapitel

Brahms schreibt:


3. Kapitel

Durch den Dreivierteltakt und die unablässig pochende obstinate Begleitungsfigur:


3. Kapitel

ist der melancholische Charakter des Gesanges bis zur Unkenntlichkeit verändert worden, so daß der Komponist die Melodie, trotz Marschner, als sein Eigentum in Anspruch nehmen darf. Wollte man sie sich instrumentiert denken, so würden Hörner und Klarinetten nicht ausreichen, um ihren gewappneten Trotz, der jede Spur Heilingscher Empfindsamkeit verleugnet, zu illustrieren. Ein volles Orchester streitender Stimmen klingt aus dem ganzen Werke hervor, wenn es von den Händen eines Berufenen gemeistert wird.

Brahms aber hatte Recht, sich von Raffs Bemerkung verletzt zu fühlen, obwohl dieser ihn durchaus nicht als Plagiator verdächtigen wollte. Auch Louise Japha gegenüber sprach er davon und beteuerte, daß er das b-moll-Scherzo von Chopin damals gar nicht gekannt habe. Dieselbe Hamburger Jugendfreundin, die er bald in Düsseldorf bei Schumanns wiederfinden sollte, erinnert sich noch [84] daran, wie Brahms in Hamburg eines Tages zu ihr kam und ihr, vor Vergnügen strahlend, berichtete, daß sein eben komponiertes Scherzo den Beifall des berühmten Litolff erhalten habe. Heinrich Litolff hatte am 4. Februar 1851 in Hamburg konzertiert, und Brahms spielte ihm das Scherzo im Hotel vor. Da er nicht sicher war, ob das Stück nicht durch seine Länge ermüdete, beschränkte er es auf das erste Trio und die einmalige Repetition des Hauptsatzes. Es freute ihn dann um so mehr, als Litolff ihm riet, noch ein zweites Trio hinzuzukomponieren, mit dem er gleich aufwarten konnte, weil es schon vorhanden war.

Liszt muß an der fis-moll-Sonate, mit der ihn Brahms im Laufe ihres Verkehres zweifellos bekannt machte, noch größeres Gefallen gefunden haben als an dem Scherzo und der C-dur-Sonate. Entsprach doch dieses kraftgenialische, aus einem einzigen im Finale blank hervortretenden Grundmotiv


3. Kapitel

entwickelte, durch alle vier Sätze zu thematischer Einheit verschmolzene Stück in mehr als einer Hinsicht den Bestrebungen der neudeutschen Schule, die sich auf die Reduktion der über ein einziges Thema geschriebenen einsätzigen Sonate etwas zugute tat. Liszts h-moll-Sonate, das vielbewunderte Chef d'oeuvre seiner Klaviermusik, die ein Jahr später mit der Dedikation an Robert Schumann zu dessen äußerster Bestürzung vom Stapel lief6, war gerade vollendet worden, und der Meister pflegte seinen Schülern die schwere Geduldprobe, das endlos und ununterbrochen fortspielende Stück anzuhören, mit besonderer Vorliebe aufzuerlegen. Seine Zuhörer empfanden oder heuchelten immer wieder den vorgeschriebenen Enthusiasmus. Die Art, wie Brahms auf den Vortrag der Lisztschen Sonate reagierte, soll die Ursache seines plötzlichen, nicht ganz unfreiwilligen Abschieds von der Altenburg gewesen sein. Nach Masons Bericht wäre er in seinem [85] Sessel eingeschlafen, und Liszt hätte, als er es bemerkte, den Saal, ohne ein Wort zu sagen, verlassen. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um eine Klatscherei des erfindungsreichen Reményi, der den Vorgang beobachtet haben will. Denn Brahms konnte seiner Freundin Japha in Düsseldorf ein Zigarrenetui zeigen, das ihm Liszt beim Abschied verehrt hatte, und dieses Andenken war mit einer eigenhändigen Dedikation Liszts versehen, mit dem falsch geschriebenen Namen »Brams«.7

Daß Liszt, wie sein beschämter und doch von der bezaubernden Liebeswürdigkeit des herablassenden Wirtes zugleich entzückter Gast anfangs meinte, Brahms mit dem Vortrage seines Scherzos eine besondere Aufmerksamkeit hätte erweisen wollen, ist kaum anzunehmen. Es hatte dies in der Tat nichts weiter zu bedeuten, sondern war ein Coup, den Liszt öfters anwandte, um sich die Herzen junger Komponisten zu erobern. Je schlechter deren Versuche ausgefallen, und je unleserlicher die Noten geschrieben waren, desto besser für ihn. Er phantasierte dann etwas Artiges hinzu und las aus dem Manuskript mehr heraus, als darin stand, so [86] daß er die Zuhörer verblüffte, und nicht zum wenigsten den geschmeichelten Komponisten, der mit dem beseligenden Bewußtsein, den Göttern um ein Erkleckliches näher gerückt zu sein, erhobenen Hauptes von dannen ging. Wieviel Unheil stiftete Liszt mit seiner Liebenswürdigkeit an! Keiner hat seinen verderblichen Einfluß tiefer empfunden und wahrer dargestellt als Ludwig Meinardus8.

Ähnlich wie ihm mochte es Brahms zumute gewesen sein, und wenn bei den ihm gespendeten Lobeserhebungen seine Wangen glühten, so war es eher die Scham als die Freude, was ihm das Blut ins Gesicht trieb. Zu seinem Glück wußte er sich mit größerer Widerstandsfähigkeit ausgerüstet als schwächere Naturen, die in Liszts berückender und verzehrender Persönlichkeit auf- oder untergingen. Von dem anfänglichen Staunen über die in der Altenburg aufgehäuften Kostbarkeiten, Reliquien und Kunstschätze hatte er sich bald erholt; die auf Liszt geprägten Goldmünzen, die Ehrenketten, die mit seltenen Edelsteinen verzierten Ringe, Busennadeln, Dosen und Briefbeschwerer, die eingelegten Taktierstäbe, silbernen Notenpulte, Porzellanservice, die Säbel und Dolche, Tabakspfeifen und Meerschaumspitzen, die in Kupfer gestochenen, mit Bleistift und Kohle gezeichneten, in Öl gemalten, in Marmor und Alabaster gemeißelten, in Gips geformten Porträts des gefeierten Einzigen besichtigte er mit der Seelenruhe eines Reisenden, der eine Ausstellung von Raritäten besucht. Wie froh bin ich, konnte er mit dem griechischen Philosophen ausrufen, daß ich all dies nicht nötig habe! Mozarts und Beethovens Klaviere, die zu den Sehenswürdigkeiten der Altenburg gehörten, ließen ihn wehmütig der Zeit gedenken, die noch kein Panorganon und kein Kunstwerk der Zukunft zu ihrer Seligkeit brauchte. Was Brahms von den Lisztschen Partituren zu sehen und zu hören bekam, ging ihm wider seine musikalische Natur, und er begriff die aufrichtige oder geheuchelte Verzücktheit nicht, mit welcher seine ihm gleichgeordneten Weimarer Kollegen die offenkundigen Zeugnisse einer renommierenden Erfindungsschwäche begrüßten. Hie und da bemerkte er, daß es gewaltige Unterschiede in der Temperatur des allgemein zur Schau getragenen Enthusiasmus gab; die Begeisterung sank bei manchem vom Siede- bis zum Nullpunkt herab, sobald der Dalai-Lama [87] den Rücken gekehrt hatte. Seinen Ekel zu überwinden, verlor sich der ehrliche Jüngling in den duftigen Schatten des im herrlichsten Frühlingsschmucke prangenden Parkes oder suchte die prunklosen Wohnstätten der Dichter auf, die ihn in der von Hause mitgenommenen Zuversicht bestärkten, daß die Musen keine Freundinnen von übertriebenem Komfort und Luxus sind. Auf solchen von der Heerstraße des Liszt-Kultus abbiegenden Seitenwegen ging Brahms am liebsten allein, ließ sich aber bisweilen auch die Gesellschaft des Violoncellisten Bernhard Coßmann gefallen, der, solange Joachim in Weimar ansässig gewesen war, zu dessen Quartett gehört hatte. Zu dem poetisch wie musikalisch reich begabten Peter Cornelius trat er später in ein näheres Verhältnis. Von den Kunstgenossen, die Brahms durch Liszt kennen lernte, war ihm der Neffe des großen Malers weitaus der sympathischeste. In seinem redlichen, von schöner Selbstlosigkeit für die Sache, die er zu seiner eigenen machte, erglühenden Opfermute, flößte er dem um neun Jahre jüngeren Gefährten mehr Achtung ein als jene Strebernaturen, die den Namen ihres Gottes nur auf den Lippen trugen, um ihn zur Parole für ihre gewinnsüchtigen Spekulationen zu mißbrauchen. Auch dem Ideenreichtum Joachim Raffs, der, obwohl er Liszt bei der Instrumentation seiner ersten Orchesterwerke hilfreich an die Hand ging, keineswegs ein unbedingter Anhänger der von Weimar aus proklamierten neuen Richtung war, sondern den ausschweifenden Theorien Liszts und Wagners gegenüber einen vernünftigen mittleren Standpunkt zu gewinnen suchte9, hatte Brahms man che Förderung zu verdanken. Doch kam es bei der Verschiedenheit ihrer Charaktere zu keinem tieferen Einverständnis. Bei näherer Prüfung mußte Brahms erkennen, daß weder Cornelius noch Raff die Lehren und Grundsätze befolgten, welche sie verfochten. Sind doch beide bei all ihrer Wagner- und Liszt-Verehrung im Grunde werktätige Anhänger jener absoluten Musik [88] geblieben, von der sie sich losgesagt zu haben schienen. Cornelius komponierte seine Lieder und Opern, trotz Wagner, und wenn er sich die Texte dazu selbst verfaßte, so bedeutet diese notwendige Folge seiner Doppelbegabung kein Prinzip, so wenig als die poetischen Überschriften der Raffschen Symphonien eine Annäherung an die symphonischen Dichtungen Liszts vorstellen.

Mit Reményi, der, seinem Charakter gemäß, sich den Verhältnissen leicht anpaßte und das verrückte Gebaren der Liszt-Gemeinde womöglich noch überbot, stand Brahms auf gespanntem Fuße, seit der bis in den siebenten Himmel der Wonne emporgeschnellte Geiger dem Freunde öfters zu verstehen gab, wie seine gesuchte und geschätzte Person die eigentliche Ursache der Gastfreundschaft sei, die sie auf der Altenburg genossen. Der »norddeutsche Bär« aber paßte nicht in die Schar der musikalischen Höflinge. Ihm wäre es schwer gefallen, seine Begeisterung, falls er deren gehabt hätte, in Worte zu fassen, und ganz un möglich war es ihm, etwas zu sagen, was er nicht meinte. Nur zu bald merkte er, daß er Erwartungen erregte, die er niemals erfüllen konnte. Nach der allerhöchsten Billigung, die seine Erstlinge gefunden hatten, galt es für eine selbstverständliche Sache, daß er der Partei beitrat. Es wurde ihm klar gemacht, daß er in seinen Werken die für unerläßlich geltenden sträflichen Beziehungen zur Poesie angeknüpft hatte, die blauen Blümelein im Andante der C-dur-Sonate wurden als Vergißmeinnicht der »Zukunftsmusik« bestimmt, und die »fahle Heide« des Minnesängers Kraft von Toggenburg, auf der sich der zweite Satz seiner fis-moll-Sonate ergeht, mußte den willkommenen Tummelplatz für die streitbaren Geister der neudeutschen Richtung hergeben. Sie nahmen den Musiker bei dem Worte seines Dichters und hielten den verlegen Ausweichenden als einen der Ihrigen fest10.

Brahms sagte sich, daß seines Bleibens hier nicht länger sein könnte, und er sagte es sich jeden Abend beim Schlafengehen. Am nächsten Morgen aber, wenn er zu Liszt ging, um sich zu beurlauben, stand er wieder im Banne von dessen bestrickender [89] Liebenswürdigkeit und blieb. Der Abschied wurde ihm nicht leicht. Endlich raffte er sich auf und mahnte Reményi, an die Fortsetzung ihrer Konzertreise zu denken. Er wußte, daß seine Mahnungen, die lediglich Formsache war, als solche auch behandelt werden würde. Reményi, dem der Kamm geschwollen war, erklärte, er habe keine Lust mehr, nach Art der Bettelmusikanten von Dorf zu Dorf zu ziehen, Brahms möge, wenn er nicht länger in Weimar bleiben wolle, sein Heil allein versuchen. Als Liszt sah, daß seinem Gaste die persönliche Freiheit über alles ging, entließ er ihn aus der goldenen Gefangenschaft seines Hauses, aber er tat es ungern und in dem dunkeln Vorgefühl, daß Brahms nicht wieder zu ihm kommen würde. Darin sollte er sich nicht getäuscht haben.

Zwei oder höchstens drei Wochen währte Brahms' Aufenthalt in Weimar; die Tage, die ihm zuerst wie Stunden dahingeflogen waren, hatten sich dann zu Jahren hingedehnt. Was er an Welt- und Menschenkenntnis gewann, wog denn auch eine vieljährige Erfahrung auf. »Ich sah bald ein«, pflegte er seinen Freunden zu erzählen, »daß ich nicht dorthin paßte. Ich hätte lügen müssen, und das konnte ich nicht.« Für Liszts Noblesse, Herzensgüte fand er sein Leben lang rühmende Worte, und wenn er auf den Pianisten zu sprechen kam, so meinte er: »Wer Liszt nicht gehört hat, kann eigentlich gar nicht mitreden. Er kommt zuerst, und dann nach ihm eine gute Weile gar niemand. Sein Klavierspiel war etwas Einziges, Unvergleichliches und Unnachahmliches.« So sagte er auch einmal zu Klaus Groth: »Wir können ja auch Klavier spielen« – er nannte sich und einige andere – »aber wir haben alle nur ein paar Finger von seinen beiden Händen.«11

Jetzt aber wohin? Sollte er unverrichteter Sache von seiner romantischen Fahrt nach der Vaterstadt zurückkehren? Nein, das mochte, das durfte er nicht. Seinen armen Eltern wollte er nicht mehr zur Last fallen. Sie hatten zu Ende 1852 ihre Wohnung bei den »Kurzen Mühren«, wohin sie 1850 vom Dammtorwall aus gezogen waren, verlassen und in der nach St. Georg zu gelegenen Lilienstraße 7 ein größeres Quartier genommen, in der [90] Absicht, durch Zimmervermieten Geld zu verdienen. Das Glück begünstigte sie, und ihre Wohnräume waren besetzt. Da erinnerte sich Johannes der freundlichen Worte, mit welchen Joachim beim Abschied von Hannover die Aufforderung begleitet hatte, ihn in Göttingen aufzusuchen, und er reiste zu ihm. Bei ihm sollte er finden, was er bisher vergebens gesucht hatte: liebevolles Verständnis, mächtigen Vorschub nach außen und innen, selbstloses Streben nach dem hohen Ideal, das ihnen beiden in der Ferne winkte, und alles in einem, eines in allem: einen seiner würdigen, treu ergebenen Freund.

Joseph Joachim, am 28. Juni 1831 zu Kitsee (Köpcsény) bei Preßburg geboren, war der dritte ungarische Musiker, dem Brahms auf seinem Lebenswege begegnete. Doch hatte jener nichts Zigeunerisches in seinem Wesen, wie Liszt und Reményi, sondern seine weiche, sinnige, kontemplative Natur neigte, des unruhigen Blutes ungeachtet, das in ihren Adern prickelte, so ganz zur germanischen Art, daß Joachim eher für einen Schwaben oder Sachsen als für einen Magyaren gelten konnte. In der Tat hat es nie einen deutscheren Künstler gegeben als ihn, den geborenen Juden. Der tiefe Ernst, die heilige Überzeugung, die strenge Gewissenhaftigkeit und der sachliche Eifer seiner Kunst, die das Subjekt hinter dem Objekt, die Person hinter der Sache verschwinden läßt, sind lauter Eigenschaften, auf welche stolz zu sein der Deutsche ein wohlbegründetes Recht hat. Auch Joachim versetzte einmal seine Landsleute als Wunderkind in Ekstase. Das Wunderkind aber blühte zum Wunderjüngling heran, und dieser reiste zum Manne aus, der als das größte Wunder angestaunt wurde, weil er schicksallos mehrere Epochen der Kunst überdauerte und in den verschiedensten Strömungen und Trübungen des öffentlichen Geschmackes seine unanfechtbare Position felsenfest behauptete. Aus dem Eleven Josef Böhms, des Violinprofessors, der während der Vierzigerjahre des neunzehnten Säkulums eine Zierde des Wiener Konservatoriums war und die klassischen Traditionen Rodes und Viottis in seinen berühmten Schülern Hellmesberger, Ernst, Singer, Rappoldi, Straus u.a. lebendig erhielt, war schnell ein Meister geworden, der alle Rivalen im Sturmlauf überflügelte. Joachims Violine ist vielleicht das vollkommenste, gewiß [91] aber das feinste musikalische Organ gewesen, das dem Zuhörer die Gedanken großer Tondichter vermittelte. Es vereinigte in sich die von warmer Empfindung beseelte Stimme menschlichen Gesanges mit der unbedingten Zuverlässigkeit eines tadellos funktionierenden Mechanismus. Unter dem elastischen Druck seiner gefügigen Finger, unter dem in tausend Gangarten sich bewegenden, markigen, süßen Strich seines mit dem Handgelenk eines Fleuretfechters regierten Bogens lernte die Geige ihre Unselbständigkeit und Abhängigkeit von andern Instrumenten vergessen und brachte den Chorus von Stimmen zum Klingen, der in den Partitur-Sonaten Sebastian Bachs der Erweckung harrte. In Verbindung mit dem Orchester aber machte sie von den königlichen Privilegien der Solostimme Gebrauch, wie eine weise Regentin, die ihre Untertanen zu sich emporzieht, während sie sie lenkt. Ihrer angeborenen Hoheitsrechte begab sie sich nur im Streichquartett, und glänzte dann desto sicherer und widerspruchsloser als prima inter pares hervor. Sie besaß das Vermögen vornehmer Seelen, ihre Umgebung zu adeln, und wirkte durch ihr nacheiferungswürdiges Beispiel eindrücklicher und überzeugender, als gute Lehren dies imstande gewesen wären. Für die außerordentlich zarte und mannigfaltige, mit den leisesten Regungen der modernen feingestimmten Psyche rechnende Kunst eines Brahms war Joachims in die Tiefe gehender Vortrag wie geschaffen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß ohne sein intimes Freundschaftsverhältnis zu dem Komponisten, das gerade in die entscheidende Zeit von dessen künstlerischer Entwicklung fiel, Brahms die eigentümliche Fähigkeit seiner Musik, das Unsagbare, Ahnungsvolle und Geheimnisreiche auszusprechen, nicht oder doch nicht so schnell zu der von ihm erreichten Meisterschaft ausgebildet haben würde.

Joachim war dem Freunde in vielen Stücken voraus, und zwar nicht allein als reproduzierender, sondern auch als schaffender Künstler. Soweit es das Technische und Formale, die Heranziehung und Verwendung äußerer Mittel betraf, konnte er dem um zwei Jahre Jüngeren seine durch praktische Erfahrungen gewonnene Überlegenheit zeigen, und Brahms erkannte die Superiorität des Freundes mit einer naiven Freude und kindlichen Hochachtung an, die seinem arg- und neidlosen Herzen Ehre machte. [92] Mit einigen Kompositionen, in denen er der geliebten Violine die Führerrolle zuwandte (»Andantino und Allegro scherzoso für Violine und Orchester« und »Romanze inB-dur«) hatte Joachim schon während der Leipziger, im nahen Verkehr mit Mendelssohn und Hauptmann wohl angewendeten und ausgenützten Übergangszeit (1843–1849), wo er als Vize-Konzertmeister neben Ferdinand David der Theaterkapelle präsidierte, unzweideutige Proben seiner musikalischen Erfindungskraft gegeben, und in Weimar hatte sich zuerst der Symphoniker in ihm gerührt. Er trug sich mit den Ideen zu einer Hamlet-Musik, die, halb Konzert-Ouverture, halb symphonische Dichtung, dem Problem des Shakespeareschen Charakters von einer neuen Seite beikommen sollte. Die ersten Monate, die er, ganz auf sich gestellt, fern von dem schmerzlich entbehrten Freundeskreise in Hannover mehr verträumte als erlebte, hatten seinen Plan zur Reise gebracht, und ein mächtiges Orchesterwerk war entstanden, das die höchsten Erwartungen für die Zukunft des zweiundzwanzigjährigen Komponisten erregte. Am 21. März 1853 sandte Joachim das glücklich beendete Opus an Liszt. Der Brief, mit welchem er seine Sendung begleitete, enthält eine für die Gemütsverfassung des Schreibers genugsam bezeichnende Stelle12. »Der Kontrast,« schreibt er, »aus der Atmosphäre hinaus, die durch Ihr Wirken rastlos mit neuen Klängen erfüllt wird, in eine Luft, die ganz tonstarr geworden ist von dem Walten eines nordischen Phlegmatikers aus der Restaurationszeit, ist zu barbarisch! Wohin ich auch blicke, keiner, der dasselbe anstrebte wie ich; keiner statt der Phalanx gleichgesinnter Freunde in Weimar. Die Kluft zwischen dem heftigsten Wollen und dem unmöglichen Vollbringen gähnte mich verzweifelt an. Ich griff da zum Hamlet; die Motive zu einer Ouverture, die ich schon in Weimar hatte schreiben ›wollen‹, fielen mir wieder bei.«

Dem Abgeschiedenen und Verlassenen kam nun in Brahms der lebendige Inbegriff alles dessen entgegen, wonach er sich in der Vereinsamung seines liebebedürftigen Herzens sehnte. Der Schatten des »nordischen Phlegmatikers aus der Restaurationszeit«, mit welchem wohl Joachims Vorgesetzter, der hannöversche Intendant Graf Platen, gemeint war, verschwand vor der sonnigen [93] Erscheinung des phantasiereichen Jünglings. Hamlet hatte seinen Horatio gefunden. Brahms konnte Joachim noch mehr leisten als den vollen Ersatz für das in Weimar Verlorene. Seine Person nahm es mit dem geschlossenen Kriegerhaufen der Lisztschen Myrmidonen und ihrem Feldherrn auf. Die Hamlet-Ouverture aber wurde zum Symbol ihrer Verbrüderung. Das Gefühl, aus dem sie hervorgegangen, und der von Goethe dem Hamlet-Problem mitgegebene Ausspruch von der Seele, welche der ihr auferlegten Tat nicht gewachsen ist, sollte von entscheidender Bedeutung für Joachims ferneres Schaffen sein. Denn je mächtiger der Genius des Freundes seine Schwingen entfaltete, um so tiefer fühlte sich in Joachim die Produktion zurückgedrängt, die sich in einigen groß angelegten Werken nur genug getan, nicht erschöpft hatte. Es war dies ein von niemand als von Brahms aufrichtiger und leidenschaftlicher bekämpfter Prozeß psychologischer Entwicklung, der schließlich zur Resignation Joachims führte, war das Ergebnis einer Freundschaft, die als edler Wetteifer zweier Gleichstrebenden begann, bis der Entsagungsvollere von beiden seine Lebensaufgabe im reinen, selbstlosen Wirken des nachschaffenden Künstlers erfaßt hatte. Joachim, der klassische Interpret der Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn und Schumann, wurde auch der zuverlässigste Zeichendeuter, Ausleger und Vollender Brahmsscher Kunst. »Er war nicht nur der Erste überhaupt, der Brahms' Genius in seiner ganzen Bedeutung erkannte, sondern, was ungleich schwerer wiegt, er hat trotz aller Mißerfolge, von denen die meisten seiner Werke bei ihrem Erscheinen begleitet waren, ungeachtet aller persönlichen Anfechtungen, in unerschütterlicher Treue an ihm festgehalten und keinen Tag seines Lebens das volle Vertrauen auf den endlichen Sieg seines Freundes verloren.« (Moser a.a.O. p. 148.)

Kurz bevor Brahms zu ihm nach Göttingen zurückkehrte, war der große Geiger in Düsseldorf beim 31. niederrheinischen Musikfeste gewesen und hatte dort am 17. Mai mit Beethovens Violinkonzert, einer Novität für die rheinischen Feste, den glänzendsten Erfolg davongetragen. Da das von Robert Schumann zum Teil persönlich dirigierte Fest, bei welchem seine d-moll-Symphonie, die Ouverture mit Schlußchor über das Rheinweinlied und das von [94] Klara Schumann gespielte a-moll, Konzert aufgeführt wurden, eine herzliche Annäherung Joachims an das Schumannsche Künstlerpaar zur Folge hatte, so wiederholte Joachim im August seinen Besuch und sprach auch, kurz vor Brahms' Ankunft, im September, auf dem Wege zum Karlsruher Musikfeste, noch einmal bei Schumanns vor. Da konnte es denn nicht fehlen, daß er von der denkwürdigen Begegnung erzählte, die er in Hannover gehabt hatte, und von dem Zusammenleben mit seinem Göttinger Sommergaste. Sein beredtes Lob erweckte in Schumann das höchste Interesse für den so plötzlich aufgetauchten wunderbaren jungen Musiker, den Joachim als den berufenen Nachfolger Beethovens bezeichnete. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter den rheinischen Musikern die Kunde von dem neuen Genie, und der Name Brahms ging von Mund zu Munde. Schumann brannte darauf, ihn kennen zu lernen. Schwerlich wird er sich daran erinnert haben, daß Brahms vor drei Jahren in Hamburg vergebens bei ihm angeklopft hatte. Dieser verhielt sich anfangs sehr kühl gegenüber den Lobeserhebungen, mit denen Joachim von Schumanns schwärmte, und wollte von einem Abstecher an den Niederrhein lange nichts wissen. Er hatte vorläufig genug von allen Zelebritäten und fürchtete, in Düsseldorf ein zweites Weimar zu erleben. Lieber ließ er sich, mit Rücksicht auf seine erschöpfte Reisekasse, zu einem Konzert in Göttingen herbei, das unter dem für die Musenstadt verlockenden Titel »Konzert der Studierenden« in Szene gesetzt wurde und riesigen Zulauf fand. Die Ankündigung enthielt keine Unwahrheit; denn Joachim war tatsächlich akademischer Bürger der Georgia Augusta. Nicht nur sein Erholungsbedürfnis, sondern auch ein reger Bildungsdrang hatte den ehemaligen gelehrigen Schüler des Leipziger Magisters Hering und Philologen Doktor Klengel in die Universitätsstadt getrieben. Er sah, nach Mendelssohns schönem Vorbilde, im Künstler den harmonischen Menschen und benutzte jede sich ihm darbietende Gelegenheit, seine Kenntnisse zu vermehren. Darum hatte er bei den Professoren Waitz und Ritter Kollegien über Geschichte und Philosophie belegt, und mit ihm erschien auch Brahms zuweilen als Hospitant in den Vorlesungen, ohne von seiner Abneigung gegen die langweiligen Hörsäle geheilt zu werden.

[95] Als »Kneipschwänze« der »Sachsen« beteiligten sich die überall gern gesehenen und mit Auszeichnung behandelten »Philister« an mancher akademischen Lustbarkeit, und weder der »königliche Hof-und Staatskonzertmeister« noch dessen Adlatus hielt es unter seiner Würde, einmal einen Kommers oder einen Fuchsritt mitzumachen, was sie um so unbedenklicher tun konnten, als sie von den strengen Pflichten des Komments großmütig dispensiert waren und demgemäß etwaige üble Folgen des pro poena-Trinkens und ähnlicher auf den gesteigerten Bierverbrauch abzielenden Institutionen nicht zu besorgen brauchten. Brahms fühlte sich von der künstlerischen Seite des lustigen und übermütigen bunten Treibens noch mehr als von der geselligen angezogen; zumal die feierlichen Vaterlands- und Burschengesänge, wie »Wir hatten gebauet«, »Freiheit, die ich meine,« »Wo Kraft und Mut« und der »Landesvater« (»Alles schweige«), aber auch die flotten Kneiplieder taten es ihm an, und er notierte sich ihre Melodien. Bei seiner frühgewohnten Gründlichkeit ließ er sich über Geschichte, Sinn und Bedeutung des Gehörten unterrichten, und die um siebenundzwanzig Jahre später komponierte »Akademische Festouverture« beweist, wie fest die Eindrücke des Göttinger Studentenwesens in ihm saßen, und wie lebendig sie ihm blieben. Um die übrigen akademischen Gebräuche, Sitten und Unsitten wird er sich kaum bekümmert haben. Beim Couleurbummel auf der Weender- und Prinzenstraße oder bei den Ausmärschen zu den Paukereien, Tanzvergnügungen und Zechgelagen, die in den umliegenden Bierdörfern abgehalten wurden, war er schwerlich anzutreffen, eher zu früher Morgenstunde, wenn die ermüdeten Musensöhne ihren Rausch ausschliefen, auf dem mit hundertjährigen Linden bestandenen Stadtwall, der eine wechselreiche Fülle von reizenden Aussichtspunkten darbot. Die mit rotem Flachwerk gedeckten Giebeldächer der aus Holz und Lehm gebauten altertümlichen Häuser kontrastierten lebhaft mit dem hellen Grün der Blumen- und Fruchtgärten: über ihnen erhoben dunkle Kirchtürme ihre seltsam geformten Helme, und den Horizont des anheimelnden Bildes begrenzte das Gebirge mit seinen Burgruinen und seinen Erinnerungen an den Hainbund der Göttinger Dichter. Joachim und Brahms wohnten nicht weit von der [96] Promenade vor dem Tore am botanischen Garten; das Haus Rumann, Nikolausbergerweg Nr. 21, vereinigt heute auf marmorner Gedenktafel ihre Namen.

Lebendigere Andenken an die ersten Göttinger Zeiten, die sich in den nächsten Jahren, besonders im Sommer 1858, wenn auch unter anderen Verhältnissen, noch ausgiebiger wiederholten, besitzen wir in den Liedern: »Liebe und Frühling« 1 und 2, Lied aus »Iwan«, »Wie die Wolke nach der Sonne« und »Nachtigallen schwingen lustig«. Alle fünf sind im Juli komponiert, vier davon zu Texten von Hoffmann v. Fallersleben – Brahms lernte den Dichter in Göttingen persönlich kennen – aus der Sammlung von 1843, aus der Brahms sich schon in Hamburg ein halbes Dutzend Gedichte ausgezogen hatte, und in op. 3 und 6 veröffentlicht. Der Gewohnheit, Liedertexte in Taschenbücher einzutragen, ist Brahms sein Leben hindurch treu geblieben. Sie ging zuerst aus dem materiellen Unvermögen hervor, die Dichter, die er liebte, anzuschaffen, und empfahl sich zugleich als praktisch, da er seine für die Komposition bestimmte Auswahl immer bei sich tragen konnte. Dann aber wurde ihm zum Bedürfnis, was Auskunftsmittel war. Er schrieb auch die Texte ab, die er auf losen Blättern von den Verfassern geschenkt erhielt, vorausgesetzt, daß sie ihm einleuchteten, um, wie er sagte, sie sich ordentlich »anzueignen«. Erst, nachdem er mit eigener Hand gleichsam Besitz von seinen Lieblingen ergriffen hatte, betrachtete er sie als Eigentum, mit dem er als Musiker schalten und walten dürfe. Vier solcher Liederhefte sind uns erhalten geblieben, und eines von ihnen weist mit seiner schrägen, spitzen Schrift auf die Lehrjahre in Hamburg zurück. Außer zweien von den Hoffmannschen Gedichten sind noch etwa dreißig Stück anderer Autoren darin aufgeschrieben, aber nur drei davon komponiert, wie sich aus bestimmten Anzeichen schließen läßt: Brahms strich, was er komponiert hatte, immer mit einem Farbenstift aus. Daß er bei manchem für die Komposition vorgemerkten Gedicht oft viele Jahre auf den befruchtenden Moment warten mußte, in welchem äußerer Antrieb und innere Nötigung, Gelegenheit und Stimmung zusammenfielen, zeige ein Beispiel für viele. In dem Hamburger Liederhefte steht auch C.O. Sternaus Gedicht »An die Heimat«. Erst am [97] Weihnachtsabende 1863, den er einsam in Wien verbrachte, meldete sich die Melodie dazu mit jenen »heimatlich lockenden Klängen«, aus denen das sehnsuchtsvolle Soloquartett (op. 64, Nr. 1) entstand, das er im Sommer darauf ausarbeitete.

Zwei Monate brachte Brahms bei Joachim in Göttingen zu und trat auch hier in nähere Beziehungen zu dem akademischen Musikdirektor Wehner. Dann nahm er seinen früheren Reiseplan wieder auf, schränkte ihn aber, aus guten Gründen, von der anfänglich beabsichtigten Schweizerreise auf eine Rheinwanderung ein. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, vom Mittelrhein abwärts das herrliche Flußtal, mit dem Ränzel auf dem Rücken, den Knotenstock in der Faust, nach Handwerksburschenart zu durchwandern, und führte den Vorsatz im Vollgefühle seiner schwellenden Jugendkraft aus. Auch von der Natur wollte er sich nichts ohne weiteres schenken lassen, sondern sich die Genüsse, die sie ihm verschwenderisch gewährte, im Schweiße seines Angesichts verdienen. »Frei, aber einsam!« das klagende Motto Joachims, musikalisch ausgedrückt durch die an die reine Quint der Violine erinnernden Intervalle:


3. Kapitel

hatte er sich insofern angeeignet, als er ohne Begleitung reiste. Ihm war das frugalste Mahl, das ärmlichste Nachtlager, das Verwöhntere verachtet hätten, gerade recht, und manche warme, sternenhelle Sommernacht mag er im Schatten einer alten Linde oder bei Ludwig Uhlands: »Wirte, wundermild« mehr verträumt als verschlafen haben, wenn die Nixen des grünen Stromes ihm ihre Schlummerlieder sangen. In Gedanken an das goldene Sklavenleben der Gesellschaft, kehrte er das Motto des Freundes um und schrieb ein herzhaftes »Einsam, aber frei!« auf sein Panier, oder von der Quint zur Sext fortschreitend, jubelte er ein harmonisches »Frei, aber froh!« aus voller Brust in den frischen Morgen hinaus. Es ist kein Zufall, daß die durch die Terz geteilte oder vielmehr durch die Umkehrung der Terz erzielte Oktave eines der Haupt- und Grundmotive Brahmsscher Musik wurde. Wir begegnen dem leitenden Gedanken:


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[98] in mannigfachen Umbildungen und Verhüllungen von der zweiten Ballade (op. 10) an, wo er zum erstenmale blank hervortritt, bis zur dritten Symphonie, die direkt aus ihm emporgewachsen ist, und darüber hinaus; er dient ihm zum Ausdruck der höchsten Seligkeit wie der tiefsten Trauer und summt an vielen Stellen seiner Werke geheimnisvoll mit.

Je weiter der rüstige Wanderer durch die Pfalz zum Niederrhein vordrang, desto wärmer und anheimelnder fühlte er sich von Land und Leuten angesprochen. Der Wein löst dem Schweigsamen die Zunge, die Musik, die ihm aus jedem Schiffernachen, von Winzern, Bauern und Jägern entgegentönt, fordert ihn zum Mitsingen auf, und seine schon in Hamburg angelegte Sammlung von Volksliedern erfährt manche Bereicherung, Vervollständigung und Verbesserung. Hie und da begrüßt er jetzt auch das Handwerk und spricht im August bei Josef Wilhelm v. Wasielewski vor, dem Schüler Davids, Mendelssohns und Hauptmanns, der seit dem Herbst 1852 Direktor eines gemischten Gesangvereines in Bonn war. Wasielewski, der spätere Biograph Schumanns, der mit der Feder nicht weniger geschickt umzugehen wußte als mit Taktstock und Violinbogen, berichtet darüber in seinen »Lebenserinnerungen«: »Gegen Ende des Sommers 1853 wurde ich durch den Besuch eines schmucken, blondhaarigen Jünglings erfreut, welcher mir eine Visitenkarte Joachims überbrachte, auf deren Rückseite sich das humoristisch abgefaßte Signalement des jungen Ankömmlings befand. Es war Johannes Brahms. In der Richtung von Mainz kommend, hatte er das Rheintal zu Fuß durchstrichen und trat, den Wanderstab in der Hand, ein Ränzel auf dem Rücken tragend, bei mir ein. Sein frisches, natürlich ungezwungenes Wesen berührte mich sympathisch, und so hieß ich ihn ein paar Tage in meinem Hause zu verweilen, wozu er sich ohne weiteres bereit erklärte. Nachdem die ersten Stunden unseres Beisammenseins verflossen waren, hegte ich begreiflicherweise den Wunsch, meinen Gast von der musikalischen Seite kennen zu lernen. Er gab auch sogleich eines seiner noch unveröffentlichten Erstlingswerke, nämlich eine Klaviersonate, zum besten, deren Beschaffenheit mir sofort sein bedeutendes produktives Talent offenbarte. Auch anderes ließ er außerdem hören. Besonders erinnere ich [99] mich seines temperamentvollen Vortrages des Rákóczimarsches, den er mit Vorliebe und brillanter Wirkung spielte. Im Laufe unserer Unterhaltungen äußerte Brahms, daß er von Bonn aus direkt nach seiner Vaterstadt Hamburg zurückkehren wolle (?), worauf ich bemerkte, er werde doch jedenfalls, da sein Weg ihn über Düsseldorf führe, Gelegenheit nehmen, Schumann im Vorübergehen zu begrüßen. Hiezu zeigte Brahms aber keine besondere Neigung. Ich fragte ihn nach dem Grunde und erfuhr dann, daß er, als Schumann 1850 in Hamburg gewesen sei, demselben ein paar Kompositionen zur Ansicht mit der Bitte überreicht habe, dessen Meinung darüber zu hören. Schumann sei aber nicht dazu gekommen, die Manuskripte zu prüfen, und da möchte er den Meister nun nicht nochmals behelligen. Ich erwiderte darauf, wie ich nicht seiner Meinung sein könne. Er möge doch bedenken, daß ein Künstler wie Schumann, wenn er sich an einem fremden Orte aufhalte, allseitig in Anspruch genommen werde. Da bleibe ihm denn kein ruhiger Augenblick übrig. ›Auf alle Fälle,‹ fuhr ich fort, ›dürfen Sie den Vorfall nicht persönlich auffassen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie freundlich und wohlwollend Schumann gegen aufstrebende Kunstjünger ist. Wenn er damals in Hamburg Ihrem Wunsche nicht entsprochen, so ist es ihm gewiß nur aus Mangel an Zeit unmöglich gewesen. Sie sollten daher jetzt keinesfalls an ihm vorübergehen. Ich werde Ihnen einige Zeilen an Schumann mitgeben und bin überzeugt, daß Sie einer freundlichen Aufnahme seinerseits sicher sind.‹ Brahms verließ mich, ohne sich bestimmt darüber auszusprechen, was er tun werde.«

Soweit Wasielewski. Da Brahms dann doch nach Düsseldorf ging, und zwar über Köln, wo er mit Karl Reinecke und Ferdinand Hiller bekannt wurde, so vindizierte sich der Verfasser der »Lebenserinnerungen« stillschweigend das Verdienst, Brahms umgestimmt und bei Schumann eingeführt zu haben, so daß mit dem »verehrten bekannten Meister«, von dessen Empfehlung Schumann in den »Neuen Bahnen« spricht, schmeichelhafterweise kein anderer als Wasielewski gemeint sein könnte. Wir wissen, daß dem nicht so ist. Brahms bedurfte keiner weiteren Einführung, da er bereits mit Ungeduld erwartet wurde. Er hätte aber wahrscheinlich weder Joachims Bitten noch den Vorstellungen Wasielewskis nachgegeben, [100] wenn er nicht indirekt von Schumann selbst zur Änderung seines starren Sinnes bewegt worden wäre, und zwar dadurch, daß er dessen Werke noch vor dem Verfasser kennen lernte. Dies geschah in Mehlem, im kunst-und gastfreundlichen Hause des geheimen Kommerzienrates Deichmann. Der einflußreiche, weit und breit im Lande angesehene Kölner Finanzier, dessen Beziehungen bis zum preußischen Thron hinauf gingen13, besaß in der am linken Rheinufer gegenüber von Königswinter gelegenen Mehlemer Au ein prachtvolles Landgut, das im Sommer ein beliebter Zusammenkunftsort einheimischer und fremder Künstler war14. Die Musik, als die geselligste der Künste, erfreute sich im Hause Deichmanns der eifrigsten Pflege, und die Schattengänge des ausgedehnten Parkes hallten fast täglich von den Konzerten wider, welche in zwangloser Form veranstaltet wurden.

Unter den dort aufgestapelten Notenschätzen fehlten selbstverständlich Schumann's Werke nicht, der, seit er nach Düsseldorf übergesiedelt war, zu den rheinischen Musikern als deren, wenn auch keineswegs von allen, anerkanntes und verehrtes Oberhaupt gerechnet wurde. Ein Brief Wasielewskis, der in Mehlem ein häufiger, gern gesehener Gast war, hatte dem Wanderer das vornehme Musenheim geöffnet. Brahms wurde von Deichmann wie ein guter Bekannter aufgenommen, und da er musikalisch ausgehungert war, so stürzte er sich mit wahrer Leidenschaft auf die [101] Seelenspeise der Schumannschen Kompositionen. Nach dem Mißtrauen, das Brahms gegen den Autor des »Karneval« hegte – und Marxsen wird ihn in seinem ungünstigen Vorurteil noch bestärkt haben – glaubte er bei Schumann eher einen Nachtisch von Leckereien und Süßigkeiten zu finden, als die Fülle kerniger nahrhafter Musik, mit der ihn dessen Werke überschütteten. Beschämt erkannte der angenehm Enttäuschte seinen Irrtum, änderte seine Sinnesart und gab sich selbstverloren dem erhebenden Eindruck Schumannscher Symphonien, Kammermusik- und Chorstücke, Sonaten und Lieder hin; sein Erstaunen wuchs, als er sich in den von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann inspirierten Jugendwerken des Meisters wie in einem Spiegel wiedersah.

Schon während der Hamburger Lehrjahre hatte er Hoffmanns Novellen verschlungen, die in ihrer unlösbaren, durch die romantische Ironie auf geniale Art herbeigeführten Verbindung des Erhabenen mit dem Lächerlichen, des Märchenhaften mit dem Wirklichen, des Grausigen mit dem Komischen, das weltflüchtige und abenteuerlustige Gemüt des werdenden Künstlers gefangennahmen. Der feinhörige Musiker fühlte die innige Verwandtschaft zwischen dieser Poesie und seiner Kunst heraus; er merkte, daß die meisten Hoffmannschen Erzählungen auf dissonanzenreiche Harmonien gestimmt sind, welche eigentlich nur musikalisch behandelt werden können. Den mächtigsten und nachhaltigsten Eindruck hatten die »Lebensansichten des Katers Murr« und die von Jean Paul beim Publikum eingeführten Erstlinge der Hoffmannschen Muse, die Phantasiestücke in Callots Manier, in Brahms zurückgelassen. Die ebenso anziehende wie abstoßende Figur des tiefsinnig verrückten Kapellmeisters Johannes Kreisler, welche die »Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten« mit den »Zufälligen Makulaturblättern« der fragmentarischen Biographie des Musikers verbindet, hatte in der Phantasie des jungen Brahms eine womöglich noch größere Rolle gespielt, als zehn Jahre früher in der des jungen Schumann. Brahms adoptierte die in den »Kreisleriana« niedergelegten, vom feinsten musikalischen Verständnis beseelten Gedanken des Dichters und ließ sie in Tönen lebendig werden. Auch später hin blieb er den Prinzipien und Ansichten treu, die Hoffmann-Kreisler in dem unvergleichlich schönen Kapitel [102] »Über Beethovens Instrumentalmusik« entwickelt. Beim Studium Schumanns sollte er schaudernd das wunderlichste lebendige Beispiel Hoffmannscher Doppelgängerei erleben.

Ohne Näheres von den »Kreisleriana«, »Davidsbündlern« und ähnlichen Offenbarungen des großen Musikers zu kennen und zu wissen, hatte er in sich selbst die Doppelnatur des tollen Kapellmeisters Kreisler gefühlt. Auch in ihm waren oft der sanfte, schwärmerische, fast weiblich zarte »Eusebius« und der ungestüme, feurige, männliche »Florestan« hart aneinander geraten, wenngleich er den im Wesen jedes Phantasiemenschen begründeten, durch die künstlerische Form gebändigten und gelösten Zwiespalt weniger als solchen empfunden und in Sebastian Bach den zuverlässigsten »Meister Raro« von Anfang an zur Hand gehabt hatte! Er brauchte nur die Titelblätter seiner Sammelbücher, Studienhefte und Kompositionsversuche aufzuschlagen: überall blickte ihm der Name Kreisler entgegen. Denn »Kreisler junior« oder »Der junge Kreisler«, oder »Johannes Kreisler II.« nannte und unterschrieb er sich selbst.

Es steht fest, daß Kreisler junior seine geistige Verwandtschaft mit Kreisler senior (Schumann) erst in Mehlem entdeckte, und dieses Faktum schneidet alle Folgerungen ab, die Brahms zum Schüler Schumanns stempeln wollen. In dem ersten Briefe vom 12. Oktober 1853, den Brahms aus Düsseldorf an Joachim richtete, heißt es wörtlich: »Was soll ich Dir über Schumann schreiben, soll ich in Lobpreisungen seines Genies und seines Charakters ausbrechen, oder soll ich wehklagen, daß die Menschen wieder die große Sünde tun, einen guten Menschen und göttlichen Künstler so vielfach zu verkennen und so wenig zu verehren! Und ich selbst, wie lange beging ich diese Sünde! Erst seit meinem Wegsein aus Hamburg und besonders während meines Aufenthaltes in Mehlem lernte ich Schumanns Werke kennen und verehren. Ich möchte bei ihm Abbitte tun.«15

[103] In Mehlem hatte Brahms endlich (am 9. September) die Verpflichtung gefühlt, dem Göttinger Freunde Nachricht von sich zu geben. Die Kunde, daß Joachim nach dem großen musikalischen Oktoberfeste, zu welchem dieser von Liszt und Bülow in Karlsruhe erwartet wurde, mit Wehner nach Mehlem kommen werde, hat ihn hoch erfreut, und er kann ihm nicht warm genug von dem »himmlischen Aufenthalt« daselbst erzählen. Joachim werde seine Zeit hier kostbar hinbringen, und jeder im Hause werde ihm sogleich und immerfort lieb und teuer sein. Herr und Frau Deichmann seien herrliche Menschen und ihre Kinder über alle Beschreibung liebreizend. Von seiner köstlichen Rheinreise hoffe er ihm bald mündlich zu erzählen. Geschrieben habe er ihm nicht. »Es nützt kein guter Vorsatz, kein fester Wille, wenn es das Briefschreiben betrifft, ich kann es nicht aushalten.« Als er in Mehlem ankam, dachte er eine steife Visite machen zu müssen, hatte entsetzliche Furcht, durchaus keine Lust. Am nächsten Morgen jedoch war schon an kein Weggehen mehr zu denken. Jetzt sei ihm der Gedanke an den Abschied noch viel peinlicher. Wieviel Bekannte hat er schon hier gefunden, die Herren Wüllner, Breuer, Hartmann, Frl. Schloß etc. Gleich in den ersten Tagen lernte er auch die »köstlichen« Herren Wasielewski und Reimers kennen. (Mit der Chronologie nimmt es Brahms, wie man sieht, nicht genau. Wasielewski müßte denn einen neuen Irrtum verschuldet haben!) Sie besuchen das Haus zum Glück oft, und Joachim werde sie bei seinem Hiersein wohl ganz sicher antreffen. In Übereinstimmung mit dem Inhalt dieses etwas flüchtigen Schreibens berichtet Franz Wüllner in seiner kurz nach Brahms' Tode am 2. Mai 1897 im Kölnischen Konservatorium der Musik gehaltenen Gedächtnisrede: »Ich lebte (Sommer 1853) einige Monate in Honnef in regem Verkehr mit den Bonner Musikern Wasielewski und Reimers und mit der gastlichen Familie Deichmann in Mehlem, wo wir uns häufig zum Musizieren zusammenfanden. Eines Tages kam der treffliche Cellist Reimers zu mir nach Honnef und forderte mich auf, sofort mit ihm nach Mehlem zu kommen; es sei ein höchst genialer, von Joachim empfohlener junger Musiker dort, der uns seine Kompositionen spielen werde. Ich fand einen schlanken Jüngling mit langem, blondem Haar [104] und einem wahren Johanniskopf, dem Energie und Geist aus den Augen blitzten. Er spielte uns die eben fertig gewordene C-dur-Sonate op. 1, die schon früher vollendete fis-moll-Sonate, das es-moll-Scherzo und viele Lieder, darunter das oft gesungene ›O versenk‹. Wir jungen Musiker waren von seinen Kompositionen sofort entzückt und begeistert.«

Außer der musikalischen wurde auch die schöngeistige und wissenschaftliche Bibliothek im Deichmannschen Hause von Brahms fleißig benutzt. Er vertiefte sich in den »Rheinischen Antiquarius« und andere ältere und neuere Handbücher für Reisende, die Aufschluß über allerlei Merk- und Wissenswürdiges verlangen, wenn sie zum rechten Genuß der bereisten Gegenden kommen sollen. Die drei zu den Ferien in Mehlem weilenden jungen Söhne der Familie Deichmann waren bald seine unzertrennlichen Begleiter auf fröhlichen Entdeckungsfahrten. Mit Stolz sah er sich zu ihrem Mentor berufen, als ihm Frau Deichmann dreißig Taler Reisegeld einhändigte – für Brahms ein Kapital! – und ihm erlaubte, so weit mit ihnen zu gehen, wie er Lust habe. Sie machen zusammen eine Tour durchs Ahrtal, »das schönste am ganzen Rhein,« besuchen die Lavagruben von Nieder-Mandig, den sagenreichen, von ausgebrannten Kratern und erstarrten Schlackenkegeln umgebenen Laacher See und die malerisch gelegene Benediktiner-Abtei, die mit den sechs verschiedenen Türmen, dem zierlichen Kreuzgang und dem seltsamen Tabernakel ihrer Kirche ein charakteristisches Denkmal altromanischer Architektur-Symbolik ist. Von diesen, seine kühnsten Reisephantasien überbietenden, trunkenen Auges betrachteten Wunderdingen schwärmt Brahms in einem Briefe, den er am 21. September auf dem Rheindampfer zwischen Andernach und Lahnstein an Joachim schreibt. Er ist eben im Begriff, mit den Deichmannschen Söhnen ins Lahntal abzubiegen. Vor der Abreise von Mehlem hat er Briefe von Joachim, den Eltern und Marxsen erhalten, und diese Boten aus einer Welt der Arbeit und der Sorge haben ihn daran erinnert, daß der Ernst des Lebens hinter den lachenden Höhen des freien Stromes seiner wartet, ein unerbittlicher strenger Mahner, der nicht mit sich scherzen läßt. Johannes hat dem Lehrer in Hamburg die Partitur der Hamlet-Ouverture unterbreitet, um seine [105] Meinung über das bewunderte Werk des Freundes zu hören. Wider Vermuten fiel sie nicht so günstig aus, wie er gehofft hatte. Ob Joachim das Urteil Marxsens unterschreiben wird? Er, Brahms, glaubt es. Durch neue herrliche Ouverturen habe sich Joachim eine zu weite Aussicht eröffnet, eine neue, zu schöne Welt habe sich ihm aufgetan, als daß er noch an der alten, abgetanen festhalten sollte. Er kenne die Hamlet-Ouverture doch noch zu wenig, um zu wissen, ob seine Meinung sich nicht wieder ändern werde. Joachims Brief habe ihm große Lust auf das Karlsruher Musikfest gemacht, er verschiebe aber lieber den hohen Genuß, den er sich von dessen Violinkonzert16 verspricht, auf Hannover. Nach so vielen erhabenen himmlischen Genüssen wäre es übermütig von ihm, noch länger in ihnen schwelgen zu wollen. Von der Mehlemer Aue denke er nach Leipzig zu gehen und alles mögliche zu tun, um viel Arbeit zu bekommen und den Winter in Hannover dann ruhig und emsig zu arbeiten. »Mir graut vor diesem Leipzig!! Es ist ein gar zu greller Unterschied zwischen den Rheinbergen und den Leipziger Comptoirs.«

Brahms hatte also gar nicht vor, nach Hamburg zurückzukehren, was, nach Wasielewski, seine Absicht gewesen sein sollte. Aber auch von Schumann und dem Besuch in Düsseldorf, so nahe er bevorstand, ist merkwürdigerweise noch immer keine Rede. Dazu muß er sich also erst unmittelbar nach dem Ausflug ins Lahntal entschlossen haben. Vielleicht grüßte ihn von der Zinne einer der verfallenen Burgen derselbe »edle Geist«, der dort einst dem jungen Goethe die Wege gewiesen hatte, und brachte ihn auf die »Neuen Bahnen«, welche von Düsseldorf ausgingen.

Fußnoten

[106] 1 Nähere Details über die Konzertreise mit Reményi bei Florence May a.a.O. S. 92 ff.


2 Richard Heuberger »Musikalische Skizzen« p. 57.


3 In Göttingen, wohin Joachim gleich darauf abreiste, wiederholten die Beiden ihren Besuch und spielten bei Musikdirektor Wehner die Brahmssche Violinsonate in a-moll.


4 Über die Begegnung zwischen Liszt und Reményi-Brahms hat sich bereits ein Sagenkreis gebildet. Hugues Imbert, der über Brahms' Werke gutunterrichtete Pariser Musikschriftsteller, tischt in der »Revue Bleue« vom 17. Januar 1903 eine »kuriose« Geschichte auf, ohne zu sagen, woher er sie weiß. Danach sei Reményi zuerst allein zu Liszt gekommen. »Ich vermute«, sagte Liszt zu ihm, »daß Sie nicht bei Kasse sind.« Reményi erwiderte, er sei in der Tat gänzlich abgebrannt. »Nun gut, Sie können bet mir auf der Altenburg (Imbert sagt in Altenburg) wohnen, es ist Platz für Sie da.« – »Ich bin aber nicht allein, Meister.« – »Haben Sie vielleicht einen Diener mit?« »O nein, aber ein Genie.« »Was für ein Ding?« fragt Liszt. Feierlich wiederholt Reményi: »Ein Genie« und entwirft ihm ein Bild des jungen Hamburgers, den er für den größten Komponisten seit Beethoven hält. – »Ihr Genie ist vermutlich ebenfalls nicht bei Kasse.« – »Genau so wenig wie ich.« – »Na, dann bringen Sie Ihr Genie mit nach der Altenburg, und wir wollen sehen.« – Liszt habe dann beim Diner der Prinzessin Wittgenstein diese Szene auf so drollige Art zum besten gegeben, daß sich die Fürstin über Reményis Genie halbtot lachen mußte. Wenn Imbert fortfährt: »Listzt et Joachim furent si émerveillés des premières compositions du jeune musicien qu'ils l'engagèrent à aller voir à Dusseldorf Robert Schumann,« so wissen wir, daß sich die Sache anders verhielt, und nehmen auch den amüsanten Dialog zwischen Liszt und Reményi nicht für eine authentische Überlieferung. In seinen biographischen Nachrichten über Brahms ist Imbert nicht so zuverlässig, wie er sich bemüht, in seiner warmen Anerkennung der Brahmsschen Werke vorurteilslos und gerecht zu sein.


5 Brahms war auf eine solche Zuhörerschaft nicht vorbereitet. Joachim schreibt in einem unter Liszts Adresse an Brahms gerichteten Briefe: »Gleichzeitig habe ich an Dr. Liszt geschrieben, gegen den Sie unbefangen sein können, wie man großen Naturen immer am besten begegnet. Mir tut es leid, daß Sie nicht vorher einige Stücke ordentlich einspielen konnten.« – Er hatte demnach schon von dem Besuche auf der Altenburg, von der Weigerung, Liszt und den andern vorzuspielen, und von Liszts Vortrag des es-moll-Scherzos erfahren, entweder von Liszt, dem er Brahms empfohlen hatte, oder von diesem selbst. Deshalb ermuntert er nun den Eingeschüchterten, seine Scheu abzulegen. Joachims Brief ist datiert: Kassel, 15. Juni und begleitet einen zweiten, den Joachim noch in Göttingen, unmittelbar vor seiner Abreise, für Brahms empfangen hatte. Brahms kann also ein paar Tage vorher nach Weimar gekommen und dort bis zum 24. geblieben sein. Am 10. oder 11. Juni wurde Reményi, laut Polizeibericht, aus Hannover abgeschoben, nachdem er bei seinem Verhör erklärt hatte, nach Weimar gehen zu wollen.


6 Schumann äußerte zu dem Düsseldorfer Konzertmeister Ruppert Becker, als ihm Liszt die gedruckte Sonate geschickt hatte, er und Klara wären in Verlegenheit, was sie antworten sollten. Sie könnten Liszt gar nicht sagen, was sie darüber dächten; er käme ihnen vor wie eine musikalische Dirne, die mit jedem Stil und jedem Meister liebäugle.


7 Der Glaube an die Zuverlässigkeit Masons wird erschüttert durch einen mir von Frau Marie v. Bülow mitgeteilten Brief, den Mason im Mai 1889, vor der Veröffentlichung seiner »Memories of a musical life,« an Bülow schrieb. Da heißt es: »The first time I saw Brahms was in Weimar early in the Autumn of the year 1853, at wich time ho came from Hamburg in company with tho violinist Reményi, for tho purpose of seeing Liszt and securing his influence in tho publication of his compositions, yet in manuscript.« Brief und Memoir widersprechen einander. Brahms sollte im Frühherbst 1853, also Ende September, von Hamburg nach Weimar zu Liszt gekommen sein, um sich seines Einflusses für die Veröffentlichung seiner noch ungedruckten Kompositionen zu versichern? Warum nicht gar! Er war den Sommer über in Göttingen bei Joachim und schon am 9. September in Mehlem, und Liszts Protektion für seine Musenkinder zu erbitten, wäre ihm schon aus Bescheidenheit nicht eingefallen. In demselben Briefe erzählt Mason auch das schläfrige Abenteuer mit derh-moll-Sonate, aber wieder in anderer Fassung. Er meint, Brahms sei nicht dafür verantwortlich zu machen gewesen, daß er während des Vortrages von Liszt einschlief, weil er die ganze Nacht auf der Fahrt von Hamburg her schlaflos zugebracht habe. Da Mason weiter schreibt, daß Brahms schon am nächsten Tage wieder nach Düsseldorf zu Schumann abreiste, so könnte der Ruhelose kaum vierundzwanzig Stunden in Weimar geblieben sein.


8 Ludwig Meinardus, »Ein Jugendleben«, II. 171 u. ff.


9 »Raff«, schreibt Mason in seinen Denkwürdigkeiten, »war in seinen frühesten Jahren der eifrigste Pionnier der Wagnersache. Nach 25 Jahren (also 1879) fragte ich: Raff, wie halten Sie es jetzt mit Wagner? – Das Publikum, erwiderte er, ist ins andere Extrem gefallen. Sie wissen, wie schwer Wagner dem Publikum vor 25 Jahren aufzuzwingen war, und jetzt geht das Publikum wieder zu weit im andern Extrem und ist unvernünftig in seinen übertriebenen Huldigungen.«


10 Wie schnell sich die irrige Ansicht, die Brahms zu den Zukunftsmusikern warf, verbreitet, lehrt der Passus, mit welchem der Mozart-Biograph Otto Jahn seine blutige Kritik des »Lohengrin« in den »Grenzboten« einleitete.


11 Die persönlichen Mitteilungen des Meisters stimmen auch mit der Darstellung La Maras in ihren »Musikalischen Studienköpfen« überein.


12 Moser, a.a.O. p. 111.


13 Bei einem Besuche, den Brahms und Dietrich später einmal von Düsseldorf aus in Mehlem machten, ergriffen sie beide die Flucht, weil die Prinzessin von Preußen, die spätere Kaiserin Augusta, gemeldet wurde.


14 »Sein eigener Bericht über seinen Besuch in Mehlem,« heißt es in einem, dem Verfasser von Frau Louise Langhans-Japha zur Verfügung gestellten Manuskript, »steht mir klar in der Erinnerung. Er erzählte mir, daß er von Bonn zu Fuß nach Mehlem gewandert sei, mit einem Brief an Frau Deichmann in der Tasche. Dort angekommen, das Ränzel auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand, recht bestaubt, schellte er an der Tür einer Villa, um sich nach dem richtigen Hause zu erkundigen. Eine Dame sah aus dem Fenster und machte mit der Hand eine abweisende Bewegung. Er rief ihr zu: ›Wohnt hier Frau Deichmann?‹ Da zeigte sie hinüber auf eine andere Villa, wo er dann mit großer Gastfreundschaft aufgenommen wurde. Er setzte hinzu: ›Hätte die Frau sich selbst als Frau Deichmann bezeichnet, so wäre ich nicht hineingegangen nach solcher Abweisung.‹ – Von was für unbedeutenden Zufällen hängt oft das Schicksal des Menschen ab!«


15 Brahms sagte in Düsseldorf zu Louise Japha, die ihre Verwunderung darüber aussprach, daß er für Schumann, den er früher abgelehnt hatte, nun in so hohem Grade eingenommen sei: »Man hatte ihn mir bisher nur von der Seite gezeigt.« Er wies dabei auf die leere Rückseite eines Notenheftes, das er in der Hand hielt.


16 Über das Konzert (g-moll, op. 3), das Joachim am 3. Oktober, dem ersten Festtage, in Karlsruhe spielte, berichtet der Zukunftsapostel Hoplit (Richard Pohl) in der »Neuen Zeitschrift f. Musik«, daß es, durchaus symphonisch und vollkommen originell gedacht, einen unnachahmlichen (!) Gesamteindruck gemacht habe, bei dem (!!) die Sologeige viel mehr zurücktrete und im ganzen wirke, als man von Konzerten sonst gewohnt sei.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 69-107.
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