Vorwort.

Das vorliegende Buch ist der erste Teil einer auf zwei Bände berechneten Biographie des Tondichters Johannes Brahms. Sein Text begleitet den Künstler vom Knaben- bis zum Mannesalter und macht den Versuch, die bisher so gut wie unbekannt gebliebenen Entwicklungsjahre des Meisters im Zusammenhange darzustellen.

Als ich, bald nach Brahms' Tode, mich entschloß, ein solches weitausschauendes Werk in Angriff zu nehmen, war ich mir der außerordentlichen Schwierigkeiten meines Vorhabens wohl bewußt. Bei dem eigentümlichen Charakter des in jeder Beziehung großartigen Menschen und Künstlers, der von Jugend auf eine starke Abneigung vor der Öffentlichkeit hatte und gewöhnt war, seine Musik für sich sprechen zu lassen, stand zu erwarten, daß die Quellen zur Geschichte seines Lebens nur spärlich fließen würden, wenn sie nicht gar von ihm selbst verschüttet worden waren. In seinen letzten Jahren steigerte sich die Scheu vor der geschäftigen Neugier zudringlicher Kundschafter und Beobachter bis zum heftigen Widerwillen, und er traf Anstalten, von Dokumenten alles zu beseitigen oder zu vernichten, was ihn persönlich anging. Die Aussichten für den Biographen waren also nicht gerade ermutigend.

Gleichwohl fühlte ich mich in meinem Entschlusse bestärkt durch die wiederholte Wahrnehmung, daß ich von Brahms, vom Tage unserer persönlichen Bekanntschaft an (29. Dezember 1874 in Breslau), während unseres vieljährigen Wiener Verkehrs, der vom Februar 1880 bis zu seinem Ableben (3. April 1897) ein ununterbrochener war und sich immer herzlicher gestaltete, doch mancherlei Interessantes über ihn erfahren hatte, was anderen verborgen blieb, und was der Vergessenheit entrissen zu werden verdient. In den von Josef Viktor Widmann, Albert Dietrich und Julius Spengel publizierten Erinnerungen traten überraschende Aufschlüsse über Brahms aus Licht, und es schien sich für mich nunmehr darum zu handeln, daß ich die dort abgerissenen Fäden wieder anknüpfte und neue Beziehungen aufsuchte, um jene wertvollen biographischen Fragmente zu einem[4] befriedigenden Ganzen verbinden und abrunden zu können. Aber meine Arbeit wäre gleich der meiner Vorläufer Bruchstück geblieben, hätte ich nicht von näheren und entfernteren Freunden und Genossen des Verewigten, mit denen er auf schriftlichem oder mündlichem Wege Empfindungen und Gedanken austauschte, in ungeahnt ergiebiger Weise mächtige Förderung erhalten.

Wenn daher, wie ich hoffe, mein Buch den Ein druck lebendiger Wahrheit und geschichtlicher Treue macht, wenn das in ihm wiedererstehende Bild unseres geliebten Meisters die charakteristischen Züge seines guten ehrlichen Angesichts trägt, so sind diese tatsächlichen oder eingebildeten Vorzüge zum größten Teile das Verdienst meiner freundlichen stillen Mitarbeiter1.

Gern möchte ich jedem einzelnen an dieser Stelle sagen, wie tief ich mich in seiner Schuld fühle, und wie erkenntlich ich ihm für seine mir zugewendete Güte, Geduld und Nachsicht bin. Es sind ihrer aber so viele, daß ich mich damit begnügen muß, ihre meist wohlbekannten Namen in einem besonderen Anhange dieses Buches anzuführen. Ich bitte sie, mit dieser bescheidenen Ehren- und Gedenktafel vorlieb nehmen zu wollen.

Noch aber bleibt mir die angenehme Pflicht übrig, ein besonderes Wort des Dankes auszusprechen: der Hamburger Stadtbibliothek (Herrn Kustos Julius Thias), der Wiener Hofbibliothek (Herrn Direktor Hofrat Dr. Josef Karabaczek und Herrn Dr. Rudolf Beer), der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Herrn Archivar Professor Dr. Eusebius Mandyczewski) und den Erben des Brahmsschen Nachlasses, beziehungsweise deren Wiener Vertreter Herrn Dr. Josef Reitzes, welcher in dem leider unvermeidlich gewesenen Erbschaftsstreite seine schwierige und verantwortungsvolle Stellung mit seltener Umsicht und seinem Takte behauptet und es verstanden hat, die gesetzlich begründeten Ansprüche seiner Klientel mit der schuldigen Pietät gegen den letzten, nicht legalisierten Willen des Verstorbenen zu versöhnen.


Wien, am 3. November 1903.

Max Kalbeck.

Fußnoten

1 Es würde mich freuen, wenn der erste Teil meiner Brahms-Biographie mir neue Mitarbeiter für den zweiten gewänne. Außer einigen Säumigen und Zögernden, die sich allzulange bedenken, mir die erbetene Hilfe zu leisten, gibt es gewiß noch manchen, der in persönlichen Erinnerungen oder Briefen wertvolles biographisches Material besitzt. Ihnen allen diene zur geneigten Kenntnis, daß mir auch der unscheinbarste Beitrag willkommen ist, und daß im Anschluß an die Biographie des Meisters eine Sammlung seiner Briefe zur Herausgabe von mir vorbereitet wird.

D.O.


Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 4-6.
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