I. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms.

[278] Mit Rückkehr-Schlüssen von G. Jenner.


1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms

[278] Lösung.


1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms


1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms

1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms

[281] Der Brahmssche Kanon à 4 stellt, so wie er vorliegt, zunächst die Aufgabe, zu der einen vorhandenen und beginnenden Altstimme die übrigen fehlenden drei Stimmen zu finden. Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, welche Fülle von Möglichkeiten die Kanonform bietet, innerhalb derer auch die Lösung des vorliegenden Kanons zu suchen ist; es genüge zu sagen, daß die Lösung dieser Aufgabe im gegebenen Falle eine sehr leichte genannt werden muß´. Wir haben es zu tun mit einem Kanon für zwei Sopran- uns zwei Altstimmen geschieht Takt um Takt in der Reihenfolge: Erster Alt, erster Sopran, zweiter Alt, zweiter Sopran. Die beiden Altstimmen bilden unter sich einen Kanon, indem sie die Melodie vom selben Tone aus so singen, wie sie vorliegt; die beiden Sopranstimmen bilden unter sich ebenfalls einen solchen Kanon, ihre Melodie ist aber aus der gegebenen dadurch entstanden, daß alle Intervalle, wie sie aufeinander folgen, in der Bewegungsrichtung umgekehrt sind. Jede Altstimme bildet daher mit jeder Sopranstimme, wie man sagt, einen Kanon per motum contrarium, einen Kanon in Gegenbewegung. In folgenden Leitern stehen sich die in beiden Melodien einander entsprechenden Töne gegenüber:


1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms

Man ersieht daraus, daß die Intervalle innerhalb der Melodie nicht genau nachgeahmt sind, da die durch Bögenangedeuteten Halbtöne nicht an derselben Stelle liegen. Anders mußten die Leitern so angelegt sein:


1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms

wenn man nicht die strenge Nachahmung durch Versetzungszeichen erzielen will, wodurch der Kanon ungemeinkompliziert und schwierig wird, auch die einheitliche Tonalität leicht verliert, da die Stimmen dann in verschiedenen Tonarten singen. Ein schönes Beispiel, ohne Gegenbewegung, in dem vier Stimmen, Sopran, Alt, Tenor und Baß, dieselbe Melodie mit genauen Intervallen von verschiedenen Tönen aus nachahmen, hat Brahms uns hinterlassen indem Kanon: »Töne, liebender Klang«, mit besonders seiner Rückkehr.

Abgesehen von dieser Lösung stellt der Brahmssche Kanon aber noch eine zweite bei weitem schwierigere Aufgabe. Der Kanon, der sicherlich als Canon infinitus, als Kanon ohne Ende, angelegt ist, hat keine Rückkehr in den Anfang, d.h. das eigentliche Problem des Kanons ist ungelöst. Brahms [282] gab den unfertigen Kanon seinem Freunde Hermann Levi und stellte ihm die Aufgabe, eine gute Rückkehr zu finden. Vielleicht brach Brahms die Komposition des Kanons an jener Stelle ab, oder aber, was mir gerade bei ihm wahrscheinlicher ist, er behielt eine Lösung zurück, von deren Existenz jedoch nichts bekannt geworden ist.

Eine Lösung von Hermann Levi liegt vor; sie be friedigt aber nicht, weil sie Gerade das Problem umgeht:


1. Unvollendeter Kanon von Johannes Brahms

Sie setzt nach den beiden Verlegenheits-Taktpausen ein auf der letzten Note des auslaufenden Kanons, ist also gänzlich überflüssig, weil hier ebensogut und mit viel schönerer Wirkung der erste Akt mit seinem (Anfangs-d den Kanon wieder beginnen könnte, so daß an das Brahmssche Fragment nur jene beiden verlegenen Pausen angesetzt werden könnten, um ihn zu schließen; das ist aber eben eine Umgehung des Problems.


G. Jenner.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 2, 3. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1912, S. 278-284.
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