VI.

[236] Es gibt Werke der Kunst, die, vom Odem der Ewigkeit durchweht, die Witterung des Unvergänglichen haben. Sie, die erkoren sind, zu der Menschheit Höhen emporgehoben zu werden, um mit reinem, nimmer verlöschendem Lichte den Wandel der Zeiten zu überglänzen, verkündigen ahnungsvoll schon dem Mitlebenden ihren Beruf und lassen ihn des beseligenden Glaubens inne werden, daß ein höheres Leben besteht im Geiste und in der Wahrheit. Wir preisen die Begnadigten, denen die Sonne Homers lächelte, die mit Äschylos und Sophokles den olympischen Spielen beiwohnten, die Dantes Terzinen und Petrarcas Sonette von den lippen ihrer Dichter vernahmen, die Rafaels, Michelangelos und Tizians Schöpfungen zuerst bewundern konnten, die Shakespeares gigantische Gestalten aus dem Chaos der Nacht heraufsteigen sahen, die Goethes und Schillers goldene Tage miterlebten und die Werke eines Bach und Händel, Mozart und Haydn, Beethoven und Schubert unmittelbar aus den Händen ihrer Meister zum Geschenk empfingen. Wir beneiden diese Glücklichen, ohne danach zu fragen, ob sie sich auch würdig zeigten dieser auserlesenen Gnade und Gunst des Schicksals; wir versetzen sie unter die Heroen und unsere schaffenden Genien unter die Götter und vergessen gern, daß sie nur Menschen waren wie wir. Andere werden nach uns kommen, die wieder unseres Glückes wegen uns rühmen und es nicht begreifen werden, wie wir zagen und zweifeln und in das alte, ohnmächtige und feige Klagelied des Epigonentums einstimmen konnten, von dessen trübseligen Klängen die Jahrhunderte widerhallen. Dank sei den Künstlern und ihren Werken, die den Schleier von unseren Augen wegziehen und uns Kurzsichtige hellsehend machen, daß wir die Schönheit in ihrer Allgegenwart, die an keine Zeit gebunden ist, von Angesicht zu Angesicht schauen, Dank vor allem Johannes Brahms und seinem Requiem, diesem [236] nie versiegenden Quell schmerzstillenden Trostes, erlösenden, göttlichmenschlichen Mitleidens und beseligenden reinen Himmelsfriedens!

Ein deutsches Requiem hat Brahms seine Trauermusik genannt, zum Unterschiede von der in der katholischen Kirche gebräuchlichen lateinischen Totenmesse. Sein Requiem aber ist nicht etwa bloß in dem Sinne deutsch, daß es eine Übersetzung oder Umdichtung des alten lateinischen Textes wäre, was es nicht sein will, es ist deutsch seinem Charakter nach, der sich in der nachdenklichen, gewissenhaften Wahl seines Textes ausspricht. Man könnte auch sagen, das Requiem sei protestantisch, wenn man den Begriff des Protestantismus weiter faßt, als ihn die Orthodoxen fassen, und das freie Forschen in der Heiligen Schrift zu seinen hauptsächlichsten Merkmalen rechnen will. Der Deutsche hat das Recht der Bibelfreiheit für den Laien mit seinem Blute erstritten und damit der priesterlichen Gewalt ihre stärksten Waffen entwunden; der deutsche Künstler gebrauchte also nur sein protestantisches, gutes Recht, als er sich erlaubte, aus den Schriften des alten und neuen Testaments Stellen herauszulesen und zusammenzufügen, wie sie ihm für seinen idealen Zweck tauglich zu sein schienen. Ihm schwebte der eines Weltweisen würdige, einfache und humane Gedanke vor, daß nicht die Toten, sondern die Lebenden der Ruhe und des Trostes bedürfen. Dieser Gedanke ist weltlich, und doch nicht irreligiös, er ist philosophisch, aber er ist fromm und schön, und er ist durchaus antidogmatisch. Denn er umfaßt in seiner schlichten Größe und schrankenlosen Liebe alle Bekenntnisse und öffnet weit die unbekannten Pforten eines neuen Hypäthraltempels, dessen Dach die blaue Himmelswölbung ist, und dessen mit Zypressen der Trauer und Rosen der Liebe bekränzte Halle bereit steht, die Leidtragenden aller Nationen und Sekten als eine einzige, durch heilige Schmerzen verbundene Brüder- und Schwesterngemeinde in sich aufzunehmen.

In ihrem lateinischen Requiem legt die Kirche das schwerste Gewicht auf die Sequenz des Thomas a Celano, jene, ehernen Fußes ohne Erbarmen einherschreitenden furchtbaren Terzinen des »Dies irae«, welche die Schrecken des jüngsten Gerichts wie mit niederschmetternden Posaunenstößen gewaltig verkündigen. Der plötzlich aus dem Leben Abberufene, der vielleicht »in seiner Sünden Maienblüte« dahingerafft wurde, muß im Fegefeuer [237] büßen, und die zahllosen Opfer und Fürbitten seiner Hinterbliebenen können bestenfalls vielleicht die Qualen des Gepeinigten lindern und abkürzen, wenn er keine anderen als läßliche Vergehen zu büßen hat. Alle aber, sie mögen noch unter den Lebenden wandeln oder schon gestorben sein, gleich demjenigen, für welchen gerade ein Seelenamt gefeiert wird, müssen auf die Wiederkehr des Himmelsrichters sich vorbereiten und gefaßt machen: er sitzt zur Rechten Gottes und wird am letzten Tage kommen, »wie der Dieb in der Nacht«, zu richten die Lebendigen und die Toten. Da wird sein Heulen und Zähneklappen, und nicht einmal der Gerechte wird sicher sein vor dem Zorne der beleidigten göttlichen Majestät. Diese entsetzliche, ungewisse Aussicht auf das, außer aller menschlichen Berechnung Liegende und die ihr entspringende Angst vor der ewigen Verdammnis sind die Gefühle, welche der alte Text als einziges Band um Leben und Tod geschlungen wissen will. Anstatt beruhigt und getröstet zu werden, sehen sich die Trauernden neuen Sorgen und Schmerzen überantwortet. Zu dem Jammer um das Abscheiden eines geliebten Menschen gesellt sich die Bekümmernis um sein und ihr ewiges Heil, und die für gute Werke ihren Segen verheißende Kirche reicht den Gläubigen zwar die erwünschte Hoffnung hin auf einen möglicherweise frohen Ausgang am Ende aller Dinge, neutralisiert die Gabe aber mit einem starken Antidotum von Zweifeln und hat keinen heilenden Balsam für die Wunden ihrer zerrissenen Herzen. Wenn wir freidenkenden Weltkinder uns bei den geweihten Klängen einer Mozartschen oder Cherubinischen Totenmesse beruhigen und, von Schauern bewundernder Ehrfurcht durchrieselt, vor einer Glaubensmacht uns beugen, die wir nicht begreifen, so ist doch immer die Musik das Medium unserer Gefühle, nicht der Text. Ja, oft ist es uns, als habe die mit Engelsflügeln über ihm dahinschwebende Musik einen ganz anderen Sinn als die von ihr gesungenen Worte, und in den allumfassenden Ausdruck der Töne legen wir Deutungen und Beziehungen, die uns teuer sind.

Anders bei Brahms. Das Wort Christi1 aus der Bergpredigt: [238] »Selig sind, die da Leid tragen«, steht als Motto über dem Eingang seines Friedenstempels, und mit dem Spruch aus der Offenbarung Johannis: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben« werden wir entlassen. Zwei Seligpreisungen schließen das Ganze ein; beide sind motiviert: »Denn sie sollen getröstet werden« und »Denn ihre Werke folgen ihnen nach«. Das Werk selbst bringt die tiefere und eingehendere Begründung bei. Es führt die Leidtragenden an die Quelle ihrer Schmerzen, indem es sie zur Teilnahme an der Totenfeier teuerer Entschlafener heranzieht und ihnen an einem gegenwärtigen, in bedrohliche Nähe gerückten tragischen Beispiele zeigt, daß »alles Fleisch wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen« ist. Aber was gepflanzt ist verweslich, wird aufgehen unverweslich. Den Leichenzug geleiten Genien verklärter Geister, die ihr Trostlied in das Wehklagen der Trauernden mischen, und wer die Stimmen der Unsichtbaren vernimmt, kann sich an ihrer Prophezeiung aufrichten, daß »die Erlöseten des Herrn wieder gen Zion kommen werden mit Jauchzen, und daß ewige Freude über ihrem Haupte sein werde«. So hat es das Wort des Herrn verheißen, und sein Wort »bleibet in Ewigkeit.« Da steht einer aus der Gemeinde auf, ihr Oberhaupt, und redet mit seinem Gotte, wie Hiob einst mit dem Herrn gegrollt und gehadert. Aus ihm spricht der ganze Jammer der zum Tode verurteilten, schwachen und hinfälligen Kreatur: »Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!«, und er fragt erwartungs-, fast vorwurfsvoll: »Nun Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf Dich.« Auch diese Hoffnung hängt im Ungewissen und steht dem Zweifel näher als der Zuversicht. Was wird der Herr antworten, um [239] seinen Knecht zu beschwichtigen? Er reckt nur die Hand aus wie der Schöpfer des Michelangelo und überläßt die Antwort seiner himmlischen Heerschar, die ihn in der Wolke seines Mantels umschwebt: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an.« Die Sterblichen schauen erschüttert umflorten Auges empor, und siehe: der Himmel tut sich vor ihnen auf in seiner Herrlichkeit. Hier denken wir an Rafaels »Disputa« in den Stanzen des Vatikan. »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.« Wie die »Una poenitentium, sonst Gretchen genannt«, am Schlusse des Goetheschen »Faust« hervortritt, um ihr Mittleramt an dem Geliebten ihrer Jugend auszuüben, so sondert sich eine der Himmelsbewohnerinnen von den übrigen ab und erhebt ihre sanfte Stimme zu der persönlichen Mitteilung: »Sehet mich an: ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt, und habe großen Trost funden.« Alle haben sie gekannt, als sie noch in Dürftigkeit unter ihnen lebte, und das Wunder der Danteschen Beatrice, die ihrem Dichter das Paradies erschloß, scheint sich zu wiederholen. Die gegenwärtige Erde bietet ihren Bürgern keine bleibende Statt, also laßt uns die zukünftige suchen! Der Zweifler von vorher ist durch das sichtbare Wunder bekehrt worden, und nicht das allein, es hat ihn erleuchtet wie den Apostel Paulus. Als begeisterter Seher steht er wieder auf und verkündet der Gemeinde in gottestrunkener Ekstase: »Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, und dasselbige plötzlich in einem Augenblick zu der Zeit der letzten Posaune.«2 Nun [240] ist »der Tod verschlungen in den Sieg«, der finstere Triumphator ist entthront, und seine Macht für immer gebrochen: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« Das blöde, kurzsichtige Geschöpf ordnet sich dem Ratschlusse seines allhinschauenden Schöpfers unter, der »würdig ist, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft«, durch dessen Willen »alle Dinge ihr Wesen haben«, nach dem sie geschaffen worden sind. Der Dichter des Requiems kann mit der beruhigenden Gewißheit abtreten: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an.«

Wer unserer Darstellung des Textes aufmerksam gefolgt ist, wird nicht mehr über die Zusammenhangslosigkeit oder das »lose [241] Gefüge des Deutschen Requiems« klagen, als einen Mangel, der, wie Friedrich Spitta im schönen Lobeseifer für Herzogenbergs »Totenfeier« sagt, »für jeden unbefangen Urteilenden auf der Hand liegt«.3 Sind wir befangen, so sind wir es nur durch unsere Hingebung an die Brahmssche Musik, die wahrlich kein sacrifizio del intelletto von uns verlangt, sondern uns, wie in vielen anderen Fällen, so ganz besonders in diesem, über mancherlei Verborgenes und Eigentümliches, das nicht für jedermann auf der Hand liegen mag, aufklärt und belehrt. Auch die Musik des Deutschen Requiems ist, gleich jeder Brahmsschen Textkomposition, nichts weiter als der persönliche, denkbar treueste und prägnanteste sinnliche Ausdruck des abstrakten Wortes, und sie führt die konventionelle Sprache des Dichters aus ihrer Allgemeinheit, in individueller, genialer Weise auf den dunklen Untergrund des Gefühls zurück, um sie heller zu erleuchten, als alle gelehrten Kommentatoren der Bibel dies zu tun imstande wären.

Von welchem Gesichtspunkte aus immer wir das Werk betrachten mögen, der Eindruck des Großen und Einfachen, Erhabenen und Natürlichen bleibt uns trotz des reichsten Aufwandes von echten Kunstmitteln überall gesichert. Es ist wie ein nach verschiedenen Seiten gleichmäßig ausladender Dom, der uns jedesmal die Hauptfassade zuzukehren scheint. Je länger wir den Grundriß dieser wundervollen musikalischen Architektur studieren, desto inniger werden wir von der Einsicht und Kraft des in ihr sich kundgebenden Künstlergeistes durchdrungen: Brahms wußte, was er wollte, und warum er es wollte, und er konnte auch, was er wollte. Fehlgriffe, Irrtümer, tastende Unsicherheiten und verkehrte Berechnungen kommen nicht vor. Der Plan ist groß und kühn genug, aber nicht größer und nicht kühner als der Künstler selbst. In der völligen Überwindung und Vergeistigung des Materials, in der innigen Vermählung des Stoffes mit der Form, in der reinen Objektivation seines Schöpferwillens zeigt sich hier der wahre und ganze Künstler, im Gegensatze zum falschen und halben, der, vom Stoffe überwältigt und erdrückt, die Zerrbilder und Fratzen unklarer Phantasmen mit der Größe seiner Intentionen [242] zu entschuldigen meint oder fremde Wissenschaften und Künste zur Gevatterschaft für die Mißgeburten seiner Einbildung bittet. Wir bemerken einen sinnreichen Parallelismus, der unter den sieben Abschnitten des Werkes waltet, wie unter den Gliedern eines in Kreuzesform gebauten Gotteshauses. Satz eins und sieben, Eingang und Abschluß, können die Endpunkte der Längenachse bezeichnen, Satz zwei und sechs greifen mit gewaltigen Armen nach beiden Seiten des Querschiffes aus und werden von einem Paar himmelanstrebender, frei vom Fundamente (in fugiertem Maßwerk) aufgeführter Türme flankiert; Satz drei und fünf vervollständigen den Stamm des liegenden Kreuzes ober- und unterhalb des Durchschnitts, und Satz vier, der den Himmel öffnet, schwebt in der Mitte als Kuppel über den einander schneidenden Schiffen. Dieser Konstruktion entspricht Sinn und Bedeutung der einzelnen Teile. Jeder von ihnen ist wieder in der Weise gegliedert, daß man die fast allen Sätzen zugrunde liegende dreiteilige Liedform erkennen kann. Der Introitus (F-dur) empfängt uns mit einer vierzehntaktigen Orchestereinleitung und einem Chor, welcher an die Seligpreisung der Bergpredigt, die ebenfalls chorisch behandelten Worte des Psalmisten: »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten« anreiht (Des-dur). Schon der zweite Takt der Einleitung, der die Tonart mit der Septime Es alteriert, hat den modernen Charakter des Werkes festgestellt Geteilte Violen und Violoncelle – die Violinen fehlen – beherrschen das Orchester und verleihen ihm einen tiefen, warmen Glanz, die Harmonie der Holzbläser tritt dem Chor gegenüber, dessen Modulationen leise an die alten Kirchentöne mahnen, und die Harfen begleiten die Verheißungen des Psalmisten (im Mittelteile) mit seraphischen Akkorden. Ein Strahl überirdischen Lichtes verklärt die Erdennacht zu rosiger Dämmerung und kündigt die Helle jenes Tages an, dem kein verblutendes Abendrot ferner den Untergang bereitet. Noch tiefere Ruhe atmet der Schlußchor, der uns unvermerkt wieder zum Anfange hingeleitet; die Stille eines idealen Friedhofes umfängt uns, sie läßt nur das leise Rauschen der Fittiche eines sanften Todesengels hören: der Genius mit der umgestürzten Fackel heißt die Armen ruhen von ihrer Arbeit und eilt mit seiner Seelenbeute der neuen ewigen Heimat zu.

[243] Den Tod in seiner furchtbaren Gestalt als Verwüster und Würger alles Lebendigen lehrt uns der zweite Satz (b-moll) kennen, nachdem wir gerüstet sind, den schrecklichen Herrn ohne Furcht zu empfangen. Er kommt als Herrscher eingezogen auf einem mit schwarzen Rossen bespannten Triumphwagen, den scharlachroten Purpur um die klappernden Knochen gewickelt, die Kaiserkrone auf dem kahlen, augenlosen Schädel, eine Majestät der Angst und des Schreckens, festlich bekränzt mit bunten Grabesblumen, übersäet mit glitzernden Flittern und umqualmt von brennenden Fackeln, unzählige Leichen in seinem Gefolge. Über ihm in der schwülen, matten Luft ziehen die Keren, die Unheilsgöttinnen; sie spreizen ihre dunkeln Flügel aus und singen mit hohler Stimme eintönig den Hymnus der Vernichtung zum Preise ihres Gebieters – »das Gras ist verdorret, und die Blume abgefallen«. Unter dem unabwendbaren Schritte des gleichförmigen, gefesselten Basses


6. Kapitel

erdröhnt der Boden. Die ihm entgegengeführte Melodie des langsam im Tanzrhythmus des Dreivierteltaktes sich nähernden Marsches schaukelt Särge auf ihren Tonwellen, Violinen und Violen sind dreifach geteilt, die doppelt besetzten Holzbläser überglänzt die Pikkoloflöte mit ihrem grellen Licht, die Pauken hämmern im gleichen Rhythmus fort:


6. Kapitel

um ihn dann wirbelnd umzukehren in:


6. Kapitel

und die Harfe schlägt in vollen Akkorden nach. Das Ganze wirkt anfangs gespenstisch wie ein Luftbild, eine Traumvision, bis der Zug mit der handgreiflichen Gewißheit seiner grausigen Realität uns vor Augen zu stehen scheint. Schauerlich den Humor der alten Totentänze beschwörend, klingen die ersten Takte des in einem instrumentalen Zwischenspiele nach Dur transponierten, über dem Orgelpunkt F aufgebauten Themas; tiefe Hörner rufen dissonierend ihre leeren Oktaven und Quinten hinein, dann bricht das volle Orchester mit Trompeten, Posaunen, Baßtuben und drei Pauken nebst dem Unisonochor fortissimo in b-moll los, als sollte jede Hoffnung zu Boden geschmettert werden. Als kontrastierendes Trio des Totenmarsches ertönt ein wunderlieblicher, pseudo-homophoner vierstimmiger Gesang (zu beachten ist der imitierende melodische Baß!), [244] der wie ein warmer Frühlingsregen (von Flöte und Harfe in fallenden Tontropfen gemalt) die von Dünsten geschwängerte Atmosphäre reinigt. Der Marsch wird wiederholt, und der Tod glaubt zu triumphieren – da zerreißt ein blitzartig niederfahrendes »6. Kapitelber« (Poco sostenuto) die schwüle Spannung, und durch das hell aufjauchzende A-dur (»Des Herrn Wort«) wendet sich der Chor über d-moll (»bleibet«) und G-dur (»bleibet in«) nach B-dur (»Ewigkeit«). Trompeten, Flöten und Oboen nehmen das Thema des angehängten, von Freude glühenden fugierten Satzes voraus, und die Vokalbässe verkündigen die frohe Botschaft des Propheten: »Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen.« Besonders hervorgehoben sei noch die für Brahms und seine antichristliche, lebenbejahende Anschauung, die nichts von Askese hören will, bezeichnende Stelle: »Und Schmerz und Seufzen wird weg müssen.« Der Chor schüttelt beides mit einem Grimm ab, der an Verachtung grenzt.

Eine solche gleichzeitige Vereinigung verschiedener Gefühlsmomente, realer und idealer Werte und entgegengesetzter Stimmungen zur höheren Einheit eines Seelengemäldes, das in der Großartigkeit seiner Konzeption wie in der charakteristischen Entschiedenheit seiner Ausführung in der gesamten Musikliteratur ohnegleichen dasteht, gehört ausschließlich dem Reiche der Töne an und wäre in jeder andern Kunst ein Unding. Diesem in Zeichnung und Farbe, in Kraft und Zartheit des Ausdrucks unübertrefflichen Satze ein ebenbürtiges Pendant gegenüberzustellen, scheint ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Und doch ist dem Tondichter das Außerordentliche gelungen: er überbietet sich selbst. Sein vollgültiges Gegengewicht erhält der Totenmarsch in dem, Hölle und Tod siegreich überwindenden sechsten Satze (c-moll), welcher nach dem Kampfe der Entscheidung sich mit Riesengliedern bis zum Sitze des Allerhöchsten hinausreckt und den Himmel mit dem Trotz und der leidenschaftlichen Impetuosität eines Titanen-Ansturms erobern will. Eiger und Mönch, die zum Einsiedler des Züricherberges hinübergrüßen, werden auf die Jungfrau getürmt, wie Pelion auf den Ossa, um Zeus-Jehovah auf seinem Throne erzittern zu lassen und die Gestirne herabzureißen. Hier haben wir den zureichenden Ersatz für das fehlende »Dies irae« des lateinischen Requiems, [245] einen Ersatz, wie ihn eben nur Brahms schaffen konnte. Das Malerische des zweiten Satzes wird im sechsten zum Dramatischen gesteigert, und der Chor aus seiner dort dem Orchester untergeordneten Stellung in die erste Reihe hinausbefördert. Im Anfang des dreiteiligen Tonstückes scheint alles zu gleiten und zu schwanken, als erbebe die Erde in ihren Grundfesten, und als wäre kein fester Halt zu gewinnen. Die entsetzten Menschenkinder tappen durch die Finsternis des in Nacht verwandelten Tages; sie wissen, daß sie keine bleibende Statt hienieden haben und darauf angewiesen sind, die zukünftige zu suchen. Aber sie finden sie nicht, trotz alles ängstlichen Hin- und Herfragens. Ihrer Ratlosigkeit macht der aus ihrer Mitte erweckte Prophet ein Ende, um ihnen das Geheimnis seiner Eingebung zu verraten. Eine erwartungsvolle Stille folgt seiner Anrede. Das Orchester moduliert enharmonisch nach fis-moll, und der Solo-Bariton verkündiget sein: »Wir werden nicht alle entschlafen« in einer seltsam auf- und absteigenden mystischen Melodie. Wie mechanisch wiederholt der Chor die Worte des Redners, als wolle er sie sich einprägen, ohne noch ihren Sinn zu verstehen. Alles dies geschieht in scheuem, halb geflüstertem Pianissimo, bis der Prophet mit der »letzten Posaune« sein Geheimnis enthüllt. Drei Posaunen und Baßtuben beschleunigen und verstärken das Crescendo zum Fortissimo, das volle Orchester entfesselt einen Orkan der Instrumente, und die proleptische Vorstellung des letzten Gerichts beginnt. Wunderbar ist es, wie der Chor, anstatt nun erst recht zu verzagen, mit einer Art wilder Begeisterung dem Weltuntergange zufliegt, als wäre er froh, der quälenden Ungewißheit ledig zu sein, willens, allen Schrecken die Stirn zu bieten und dem jüngsten Tage den Herrn und Meister zu zeigen. Und tatsächlich nimmt die Melodie des von sämtlichen Bläsern gestützten Massengesanges das glückliche Ende aller Dinge voraus:


6. Kapitel

6. Kapitel

[246] Sie kehrt wieder, sobald der Prophet die Verheißung der Schrift aussprechen will und fängt ihm das Wort: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« vom Munde ab, als wisse nun der erleuchtete Chor bereits, was kommen soll Ein erhabener Einfall! Den Trauernden ist es nur um die verbürgte Sicherheit zu tun, daß ihre Toten wieder auferstehen, und sie in gleicher Gestalt mit ihnen werden vereinigt werden. Alles übrige bekümmert sie nicht. Im ewigen Bunde mit den verklärten Geliebten fühlen sie sich jeder Lage gewachsen, und wenn nicht berufen, so doch fähig, die alten Feinde der Menschheit, Tod und Teufel, aus eigener Kraft aus dem Felde zu schlagen. Sie brauchen keinen Vermittler mehr: Gott selbst hat sie zum Kampfe ausgerüstet, und sie werden siegen. So hat Brahms das Paulinische Wunder der Transfiguration verstanden Die in den Weltraum hinausgeschleuderten Fragen: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg«« sind von der Musik mit blutigem Hohn und beißender Ironie gewürzt. Gleich Donnerkeilen fahren sie nach unten und oben hin, und es könnte dem Vater im Himmel vor der Verehrung seiner durch den Schmerz zu Halbgöttern umgewandelten Enakssöhne bange werden, wenn sie sich nicht mit der lobsingenden gloriosen Doppelfuge, die sich durch die Verselbständigung der zweiten Hälfte des Hauptthemas:


6. Kapitel

[247] zur Tripelfuge verdichtet, ihm anbetend zu Füßen legten: Der Weg geht vom trüben Moll zum strahlenden Dur.

Ehe der Mensch sich aus der Tiefe seiner bitteren Not bis zu dieser schwindelnden Höhe der Selbst-und Weltüberwindung emporarbeiten konnte, bedurfte er der Gewißheit des endlichen Sieges durch göttlichen Beistand. Der dritte Satz ist die notwendige Voraussetzung des sechsten. Hilfe und Sieg sollen nur der mit blutig gerungenen Händen verdiente Lohn sein für treue Arbeit und unerschütterliches Vertrauen (»Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!«), das in jenem vielberufenen, sechsunddreißig Doppeltakte lang ausgehaltenen Orgelpunkte sich ausbreitenden fugierten Satze »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand« so felsenfest und überzeugend zum Ausdruck gelangt. Das ist das Fundament Brahmsscher Ethik. Aus dem vorangehenden Baritonsolo (d-moll), dessen Baß (dumpfes pizzicato der Kontrabässe und Pauken):


6. Kapitel

auf den Totenmarsch zurückgreift, brach der Schmerz über die Vergänglichkeit und Unsicherheit des menschlichen Daseins mit eindringlicher Beredsamkeit hervor, und der persönliche, dramatisch geführte Charakter der Solostimme erhöhte noch die erschütternde Wirkung des Gesungenen. Gehaltene Harmonien der Bläser breiten pp das Gespinnst der Sorge um das Haupt des Unglücklichen aus, für den es kein Entrinnen gibt. Wie eine fixe Idee schraubt sich die Tonfigur.


6. Kapitel

in sein Hirn und wird zum Motive des Alternativs zwischen Solo und Chor, die abwechselnd das allgemeine Leid der Menschen besingen, immer schneidender, immer drohender. Das sind nicht Seufzer und Tränen mehr, das sind Vorwürfe und Anschuldigungen der empörten Kreatur. Die Klage wächst zur Anklage an, und die Frage: »Nun Herr, wes soll ich mich trösten« mußte »den Schlafenden da droben« wecken. Und er läßt sich nicht länger bitten, sondern winkt seinen Engeln, daß sie [248] den Jammer stillen. Das Fugenthema des Orgelpunkts stellt die aus dem Motive der Frage abgeleitete Antwort dar mit dem Hinweis, daß die Zweifelnden da drunten auch zu den »Gerechten« gehören werden, die »keine Qual anrührt«.

Den Einblick in die Wohnungen des Himmels, die auch jene Armen einmal aufnehmen sollen, eröffnet der liebliche vierte Satz (Es-dur). Brahms, der als frommer Schüler Marxsens vor dem problematischen Anfang des ersten Gesanges der Schumannschen Peri zurückschauderte,4 findet kein Arg mehr darin, selbst mit dem Dominant-Septakkord zu beginnen; allerdings erscheint dieser nur als Folge der Umkehrung der vier Takte später auftretenden Gesangsmelodie. Mit Unrecht wird der reizende Engelschor von vielen Beurteilern des Deutschen Requiems gegen andere Sätze zurückgestellt. Er darf nicht bloß als lyrischer Ruhepunkt nach den vorhergegangenen Aufregungen angesehen werden, sondern verdient den bevorzugten Platz in der Mitte des Werkes in jeder Hinsicht. Erinnert Brahms im Titanismus zyklopischer Blockmusik an Bach und Beethoven, so läßt er uns hier an Mozart zurückdenken. Wie bei diesem Meister verbirgt sich die Kunst strenger musikalischer Arbeit hinter dem göttlichen Spiele mit der Form; die Chorstimmen scheinen ihre Selbständigkeit aufzugeben, des gefälligen, melodischen Flusses wegen, die Polyphonie wird latent und bequemt sich zum homophonen Stile, – die lieben, klugen Englein können gar nicht schöner singen. Man glaubt sie musizierend sitzen zu sehen, auf den weißen Lämmerwolken, welche das strahlende Auge Gottes als Braue umgeben – eine rafaelische Vision neben michelangelesken Phantasien!5

Aus den »Vorhöfen des Herrn« bewegt sich ein Zug seliger Geister, und sie führen den verklärten Schatten einer Sterblichen herbei (Satz 5, G-dur). Das in Terzen und Sexten intonierte Thema des dreiteiligen Adagios glauben wir früher gehört zu haben; es klingt an das Trio des Totenmarsches an, als wäre der Solosopran, der jetzt seine Stimme erhebt, schon zugegen gewesen, [249] als der erquickende »Morgen- und Abendregen« herniederträufelte, um die glühenden Wangen der Trauernden zu kühlen. Bei den verheißungsvollen Worten der Repetition »Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen« offenbart die Melodie ihre Fähigkeit, sich selbst in der Vergrößerung zu begleiten:


6. Kapitel

Der Mittelsatz in B-dur bringt jene Anrede, auf deren persönlichen Charakter schon bei der Besprechung des Textes hingewiesen wurde. Dem verzweifelten Erdensohne erklingt die wohlbekannte liebe Stimme wieder, die er oft gehört in den unvergeßlichen Tagen der Jugend ... die Teure, um welche er trauert, spricht zu ihm von einer Freude, die niemand von ihm nehmen kann; ihre Begleiter ordnen sich ihrer Autorität unter und pflichten ihr bei: »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.«

Nach der großen Fuge des sechsten Satzes wäre eine Schlußsteigerung schlechterdings nicht mehr möglich gewesen, wenn sie überhaupt im Plane des Tondichters gelegen hätte. Ihm genügte der kurze, milde und feierliche Epilog, den er den vorangegangenen lyrisch-dramatischen Szenen im siebenten Satze (F-dur) folgen läßt. Das kühle Silbergrau jenes oben erwähnten »idealen Friedhofes« erwärmt sich in einem Zwischenspiele des Orchesters zu leuchtenderen Farben. Der harmonische Reichtum desA-dur-Teiles erinnert an die bunten Glasfenster einer im Lichte der scheidenden Sonne erglühenden Münsterrose. Heiliger Abendfriede und die träumerische Stille der Feierstunde nach vollbrachtem heißen Tagewerke laden zur Andacht und sinnenden Beschaulichkeit ein, »Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit,« und der wie aus der Himmelsferne herniederschallende leise Ruf der Posaunen sagt Amen dazu: »Ihre Werke folgen ihnen nach.«6 [250] Tränenmüde Augen schließen sich zum Schlummer, die Lebenden ruhen mit den Toten, die Verheißung des Bergpredigers ist erfüllt, und das Ende, das in den Anfang zurückleitet, schließt den Kreis, den Schlangenring, als Symbol der Ewigkeit. – Das »Deutsche Requiem« ist das Hohelied des Trostes, das Brahms der Menschheit gegeben. Wie er sein eigenes bekümmertes Gemüt mit ihm beschwichtigte, so haben Tausende und Abertausende nach ihm bei seinen Klängen den Frieden der Versöhnung gefunden und werden ihn kommende Geschlechter immer wieder finden. Denn hier sind ewige Wahrheiten in ewiger Form ausgesprochen, auf ebenso kunstvolle wie allgemein verständliche Weise, und die Liebe, welche den Tondichter diese Universalsprache des Herzens lehrte, »höret«, wie der Apostel Paulus sagt, »nimmer auf, wenn auch die Offenbarungen und Weissagungen aufhören werden«.

Aus den Umständen, welche das Entstehen und Erscheinen des Werkes begleiten, ist von den Freunden des Tondichters der Schluß gezogen worden, Brahms habe das Requiem auf den Tod seiner Mutter gesungen, und er selbst hat ihnen weder zugestimmt noch widersprochen. So betonte Joachim in der schönen Gedächtnisrede, die er am 7. Oktober 1899 bei der feierlichen Enthüllung des ersten Brahms-Denkmals in Meiningen hielt, daß die »erschütternden Klänge, die kaum in der Kirche verrauschten, dem frommen Gemüt eines um die heißgeliebte Mutter Trauernden entquollen«, und rief aus: »In der ganzen Kunstgeschichte gibt es kein edleres Denkmal kindlicher Pietät zu verzeichnen!« Reimann, der erste, allzu flüchtige Biograph des Meisters, beginnt sein Requiem-Kapitel mit den Worten: »Brahms hat das Requiem nach dem Tode seiner von ihm auf das innigste geliebten Mutter geschrieben.« Vorsichtiger drückt sich Deiters in seinem Essay über Brahms aus (»Sammlung musikalischer Vorträge« Nr. 23, 24 und 63), wenn er sagt: »Die erste Entstehung eines solchen Werkes in der Seele des Komponisten entzieht sich natürlich der Kenntnis, und ob es eigene Erlebnisse waren, die ihm den Impuls gaben, würde nur er selbst sagen können.« Und gerade Deiters hätte sich darauf berufen können, daß Brahms, als er ihm 1868 den fünften Satz in Bonn vorspielte, bei den Worten »Ich will[251] euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet«, zu erkennen gab, er habe dabei an seine eigene Mutter gedacht.7

Ist dem nun so, und hat Brahms sein Requiem wirklich auf den Tod der Mutter geschrieben? Mit dieser Frage hängt die andere nach der Entstehungszeit des Werkes eng zusammen, und wenn diese beantwortet ist, ergibt sich die Antwort auf jene von selbst. Die Leser unseres Buches werden gelegentlichen Zwischenbemerkungen, welche den fraglichen Gegenstand betreffen, entnommen haben, daß Gründe vorliegen, der allgemein verbreiteten Ansicht entgegenzutreten. Schon 1885, also zwölf Jahre vor dem Tode des Meisters, schrieben wir in einer eingehenden Besprechung des »Deutschen Requiems« folgende herausfordernde Zeilen: »Brahms war nicht der erste, der daran dachte, ein solches Werk zu schaffen. In Schumanns ›Projektenbuch‹, dessen Manuskript zum Nachlasse des Komponisten gehört, findet sich neben anderen, unausgeführt gebliebenen Entwürfen auch ein ›Deutsches Requiem‹ notiert, aber nichts weiter als dieser dürftige Titel. Wie weit Brahms zu seiner Komposition von Schumann persönlich angeregt worden ist, entzieht sich unserer Kenntnis, und wir sprechen nur eine Vermutung aus, wenn wir sagen, der Jünger habe bald nach dem Heimgange des väterlichen Freundes und Meisters den Beschluß gefaßt, das Gedächtnis des Entschlafenen mit der Ausführung eines seiner Lieblingspläne zu feiern. Wer Brahms kennt, wird es kaum für bloßen Zufall halten, daß thematische Bestandteile des Requiems, zumal aus dessen ersten Sätzen, auf Hauptwerke Schumanns (›Peri‹, B-dur-Symphonie, ›Faust‹, ›Manfred‹) anspielend hinweisen. Zum Glück sind diese Beziehungen so äußerlicher Art und so geschickt verborgen, daß kein Böswilliger sie zum Ziel einer Reminiszenzenjagd machen kann. Nur für das Auge der Liebe, nicht für den scheelsüchtigen Blick des Hasses, für das Ohr jedoch überhaupt kaum vorhanden, sollen diese stillen Denkmäler wohl an das fruchtbare Wirken eines großen Verstorbenen mahnen und zugleich in bescheidener Weise den schuldigen Dank des Lebenden abstatten; aber mehr zur inneren Genugtuung des Trauernden als zum [252] Schaugepränge für die Welt. Ein zweiter Todesfall, der den Komponisten noch näher anging und noch tiefer bewegte, mag dem allmählich herangedeihenden Werke die entscheidende Wendung gegeben und seinen Abschluß herbeigeführt haben.« – Unsere Vermutung, die uns, obwohl sie indirekt von Brahms bestätigt wurde,8 damals nicht weiter beschäftigte, erhielt einen merkwürdigen Zuwachs durch den (Bd. I 166 erwähnten) Bericht Albert Dietrichs, er habe 1854 bei Brahms in dessen erster, verunglückter Symphonie (dem d-moll-Konzert) die unter dem Eindruck der Katastrophe Schumanns entworfen war, und zwar in ihrer Fassung als Sonate für zwei Klaviere, ein »langsames Scherzo im Sarabandentempo« gesehen, das er später im Anfange des Totenmarsches im Requiem wiedererkannte. Brahms betrachtete sich, wie wir wissen, als Vollstrecker von Schumanns letztem Willen; die ihm von dem Freunde auferlegte Mission zu erfüllen und das verpfändete prophetische Wort der »Neuen Bahnen« einzulösen, war und blieb die Aufgabe seines Lebens. (»Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geisterwelt bevor.«)9 Um nicht, wie bei dem d-moll-Konzert, sein eigentliches Ziel wieder zu verfehlen, bereitete er sich auf beide Teile seiner Aufgabe besser vor; aber er konzipierte doch schon seinec-moll-Symphonie (1855), und nahm um weniges später, das ihm von Schumann zudiktierte »Deutsche Requiem« in Angriff. Wie die beiden Serenaden und[253] die Haydn-Variationen als Vorbereitungen zu seinen Symphonien anzusehen sind, so dürfen seine vielen kleinen chorischen Werke für Studien zu dem Requiem gelten, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß das Jahr 1858 oder 59 die ersten Anfänge des »Deutschen Requiems« gesehen hat. Das »Ave Maria«, der »23. Psalm«, die »Drei geistlichen Chöre für vier Frauen stimmen«, die »Drei Gesänge für sechsstimmigen gemischten Chor a capella«, die »Marienlieder«, der »Begräbnisgesang« und – das »Wechsellied zum Tanze« entstammen alle miteinander derselben Zeit. In dem Espressivo der »Zärtlichen« im, As-dur-Satze des »Wechselliedes« aber erkennen wir die Schwestermelodie zu dem Trio des Totenmarsches; beide sind Töchter des Schlummerchors aus Schumanns »Peri«. So Zärtlich-Süßes, Reinliebenswürdiges und Naives hat Brahms später kaum wieder gesungen. Auf die Detmolder Periode, in der das »Wechsellied zum Tanze« entstanden ist, weist auch die Instrumentation des ersten Requiem-Satzes zurück. Brahms war von der eigentümlichen Wirkung des Orchesterklanges ohne Violinen, den er in seiner A-dur-Serenade (1859) verwendete, überrascht, und es lag nahe, daß er denselben Effekt bald wiederholte, um so näher, als die schwermütige Nachtviolenstimmung des Serenaden-Adagios der den ersten Satz des Requiem beherrschenden verwandt ist. Doch das sind subjektive Empfindungen und keine stichhaltigen Gründe.

Zur Unterstützung unserer Hypothese wollen wir zunächst die Handschrift des Requiems heranziehen.10 Sie besteht aus 1171/2 losen Blättern verschiedenen Formats, die, mit verschiedener Tinte geschrieben, verschiedene Federn und verschiedene Charaktere erkennen lassen. Schon der Totaleindruck des Originalmanuskripts ist ein derartiger, daß auf den ersten Blick für jedermann die Tatsache feststeht: das Manuskript ist zwar von derselben Hand, aber nicht zu derselben Zeit geschrieben worden. Ein halbwegs geübter Graphologe, der die Handschrift mit anderen Autographen von Brahms vergleicht, wird konstatieren, daß die zeitlichen Zwischenräume [254] zwischen einzelnen Abschnitten des Manuskripts beträchtliche gewesen sein müssen. Dem äußeren Ansehen nach ist der zweite Satz der älteste; Noten- und Textschrift erinnern manchmal noch an die schräge spitze Hamburger Schulschrift im Kampfe mit der sich an Joachim-Mendelssohns Hand heranbildenden steilen runden. Das Stück zählt 39 paginierte Seiten – jeder Satz ist für sich paginiert – von Seite 25 an wechselt das Papier zweimal, die Schrift einmal, Seite 33–39). Der Zwischensatz des angehängten Fugatos »Freude und Wonne werden sie ergreifen«, mit der gleichzeitigen Vergrößerung des Themas im Tenor – Brahms hat sich desselben Kunstmittels in dem 1868 nachkomponierten fünften Satze bedient! (s.o.) – und der Engführung des Hauptthemas, sind auf demselben steifen Papier geschrieben wie einige, mit Siegellack im zweiten und siebenten Satze eingeklebte Änderungen, zu denen Brahms die freie Rückseite einer verdorbenen Violoncell-Stimme seines (Horn-)Trios op. 40 benutzte. Er zerschnitt das Notenblatt in drei Streifen und siegelte diese dann in das Manuskript ein. Da nun das Trio in drei Ausgaben (für Waldhorn oder Violoncell oder Bratsche) 1868 bei Simrock erschienen ist, so können die Korrekturen nicht vor 1865, dem Kompositionsjahre des Trios, vorgenommen worden sein, dürften also von 1866 oder 1867 herrühren. Die Wahrscheinlichkeit spricht für den August 1866, wo Brahms die Redaktion des Requiems in Lichtental vollendete. Als der zweitälteste Satz präsentiert sich der erste. Er und der fünfte, 1868 nachkomponierte, weisen auf Hamburg als Entstehungsort hin. Das für beide benützte Notenpapier trägt am linken Rande den erhaben eingeprägten Stempel: »Pap: hndl: v: N.D.D. Köster Hamburg«. Die Köstersche Papierhandlung bestand von 1860–1868 in Hamburg und hatte ihren Laden am Valentinskamp Nr. 64. Da das Notenpapier von Satz 1 nur 14 Systeme, anstatt 15, wie sie Brahms brauchte, das von Satz 5 aber 18, d.h. drei mehr, als in der Partitur stehen, enthält, so können beide Papiersorten nicht zu derselben Zeit gekauft worden sein. Der Partiturschreiber würde im ersten, wie im zweiten Falle, lieber einige Systeme mehr, als eins zu wenig gehabt haben. Satz 1 des Manuskripts enthält die erste Niederschrift der Partitur, eine Reinschrift aus dem [255] Kopfe. Denn es zeigt sich bei der Aufstellung der Instrumentalstimmen, daß Brahms ursprünglich Klarinetten und Pauken verwenden wollte, sie aber, da er sich die Sache sofort anders überlegte, schon wieder gestrichen hatte, als er mit der Ausfüllung der Systeme begann. Satz 3 steht auf demselben steifen Karton wie der Schluß von 2 und die auf die Violoncellstimmen gesetzten Korrekturen, ist also von badischer Provenienz und gehört ins Jahr 1866, da wir wissen, daß das d-moll-Stück in Karlsruhe begonnen, in Winterthur beendet worden ist. Zum Beweis diene der folgende, an den Verleger des Requiems gerichtete Brief de dato Hamburg 29. Mai 1868 mit den von uns unterstrichenen, hierher gehörigen Stellen: »Lieber Herr Rieter, ich nehme eine neue Feder, um Ihnen zu schreiben, daß ich das Requiem schicke. Es ist allen Ernstes außerdem ein Opfer der Freundschaft; meinethalb bleibe es liegen. Ich schicke die Stimmen gut korrigiert, die Partitur und den Klavierauszug von Köln aus, wohin ich zu Pfingsten gehe, Sie auch vielleicht sehe? – Es ist nun eine siebente Nummer hinzugekommen, Nr. 5, Sopransolo mit 16 Takten Chor etwa. Diese werde ich überhaupt erst später schicken, da ich sie erst ausschreiben lassen muß und einen Ort suchen, wo ich sie für Geld und gute Worte mir vorspielen lassen kann. Deshalb notiere ich, daß sie in meiner Partitur 17 und im Klavierauszuge 6 Seiten lang ist, also können Sie sich danach einrichten. Soll im Klavierauszuge der C-Schlüssel für Sopran, Alt und Tenor beibehalten werden? d.h. darf er? kann er? Mir wär's lieb. Ich meine, der Text muß der Partitur und dem Klavierauszuge vorgedruckt werden? Und zwar genau nach beiliegendem Textbuch – strophenweise!!11 Die Posaunen [256] können oft auf ein System kommen, müssen bisweilen zwei einnehmen .... Was ich an Stiefelin Winterthur und Baden durchlaufen, um den berüchtigten Orgelpunkt zu finden, rechne ich noch nicht. Praktisch an dem Werk ist wohl vor allem, daß man durchaus jeden Satz einzeln aufführen kann (!). Bei der Wiederholung in Bremen waren wir lange zweifelhaft – es wurde schließlich ganz gemacht12. – – Die Orgelstimme13 fehlt noch, und ich bin zweifelhaft, ob sie auch in die Partitur kommen soll. Recht sehr möchte ich bitten, mir leibhafte Napoleons zu schicken: Ehrensold muß Gold sein, nicht Papier.«

Satz 4 steht in neuerer Schrift wieder auf einer anderen Papiersorte, die nur ein einziges Mal, eben bei diesen 23 Partiturseiten, vorkommt. Doch ist eine plausible Erklärung dafür leicht gegeben. Größere Schwierigkeiten für Chronologie und genauere Datierung bereitet der sonderbare Umstand, daß Satz 2, 6 und 7, die doch ihrer Entstehung nach um fast ein Dezennium auseinander liegen, auf demselben Papier notiert sind. Aber auch sie werden aus dem Wege geräumt, wenn wir annehmen, daß das zu den drei Sätzen verwendete Papier einem Vorrat entstammt, den sich Brahms 1858 in Detmold für die Komposition seiner Trauerkantate anlegte. In der kleinen Lippeschen Residenz war Notenpapier mit 20 Systemen, wie es der Komponist des Totenmarsches brauchte vermutlich nicht aufzutreiben. Daher mag sich Brahms ein größeres Quantum seinen Kanzleipapieres in Folio gekauft und dessen Blätter eigenhändig rastriert haben, in der Absicht, auch die Partitur der folgenden Sätze darauf zu schreiben. Nun wurde aber vorerst nur der zweite Satz, und auch dieser nur bis zum Eintritt des fugierten Abschlusses fertig. Brahms nahm die vollgeschriebenen Blätter gewiß mit nach Hamburg und ließ wahrscheinlich das leere Papier in der »Stadt Frankfurt« [257] oder bei Bargheer zurück. Bei seinem letzten Besuch in Detmold (im Dezember 1865) erhielt er dann sein Eigentum wieder, so daß er, mit der Fortsetzung und Vollendung des Werkes beschäftigt, den alten Papiervorrat wieder benutzte, je nachdem er gerade diese oder eine andere Sorte zur Hand hatte.

Es handelt sich nur noch darum, jenes im vorigen Kapitel erwähnte mysteriöse Blatt richtig zu deuten. Ein Zufall hat uns dieses unschätzbare Dokument zur rechten Zeit herangeweht, wie der Wind das Blatt eines Baumes – »wo Lindenblätter fallen, da ist die Linde nah!«14 Besagtes Notenblatt in Querfolio zeigt, daß es auf der einen, etwas gebräunten Seite dem Lichte länger und anhaltender ausgesetzt war als auf der anderen, und daß es früher oder später, in zwei ungleiche Teile gefaltet, in ein größeres Buch gelegt wurde, dessen Einband es völlig bedeckte. Der Bruch geht nicht durch die Mitte, sondern teilt das Blatt in der Proportion des goldenen Schnittes, so daß sich das seitlich gebrochene Folio dem Quartformate seines Aufbewahrungsortes wohl anpassen konnte. Auf dieser, sagen wir, Bucheinlage befindet sich die Disposition des »Deutschen Requiems«, d.h. die übersichtliche, nach Sätzen eingeteilte Zusammenstellung des Textes in zwei Gruppen. Die ersten vier Sätze sind genau so abgeteilt und strophisch geordnet, wie in dem gedruckten Textbuche,15 nur werden überall in Klammern die Bibelstellen nachgewiesen, also bei Nr. 1 »Matth. 4, 5. Psalm 126, 5, 6.« etc. Diese Gruppe weicht nicht nur im Charakter der Schrift und in der Farbe der Tinte, die ein tiefes Schwarz ist, von der andern ab, welche die drei letzten, mit einer blassen, wässerigen Dinte geschriebenen Sätze umfaßt, sondern diese unterscheiden sich von jener noch besonders dadurch, daß ihre Zeilen formlos, ohne strophische Gliederung, hintereinander fortlaufen. In sich aber differieren die ersten vier Sätze wieder insofern, als nur 1 und 2 Beziehungen zur Musik [258] aufweisen. Vor »Selig sind, die da Leid tragen« steht: »F-dur 6. Kapitel Andante«, vor »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«: »B-moll 3/4 Andante«, und hinter den Worten »bis er empfahe den Morgenregen und Abendregen« unterstrichen das Da capo-Zeichen, welches nach dem Trio die Wiederholung des Totenmarsches verlangt. Daraus ergibt sich, daß zur Zeit, als der Komponist die Disposition von 1–4 entwarf, der erste Satz bereits ganz, der zweite bis zur Repetition des Marsches komponiert worden war; denn Tempo, Takt und Tonart der fugierten Koda (B-dur, 6. Kapitel Allegro non troppo) sind nicht mehr notiert. Außerdem fällt uns als bemerkenswert auf, daß in Nummer 4 und 5 die römischen Zahlenüberschriften doppelt hingesetzt, beziehungsweise mit Bleistift korrigiert worden sind. Brahms war also, nachdem er die zweite Textgruppe der ersten angereiht hatte, unschlüssig, welchem Satz er den Vortritt lassen sollte, und vertauschte IV und V, um sie später wieder in die alte Ordnung zurückzurufen.

Jetzt ist nur noch die Frage, wann Brahms den Plan des Werkes in der vorliegenden Fassung entworfen, d.h. aufgezeichnet hat. Die Antwort steht auf der Rückseite der Textdisposition, der Vorderseite des Blattes. Da springt uns der von seiner Hand geschriebene Schluß des vierten Magelonenliedes in die Augen: »Liebe kam aus fernen Landen«, das, wie wir im ersten Bande16 erfahren haben, 1861 mit drei anderen im Juli in Hamm bei Hamburg entstanden ist. Brahms mochte gerade kein anderes Papier zur Hand gehabt haben, um sich den für die Komposition bestimmten Requiem-Text aufzuschreiben, und so benutzte er dazu die letzte leere Seite des eben fertig gewordenen ersten Magelonenheftes, schrieb die neun Notenzeilen der vorletzten Seite noch einmal für den Druck ab, riß das Blatt heraus, faltete es und ließ es nachdem er mit dem Text acht Tage lang resultatlos im Harz »spazieren gegangen war«, samt dem Quartanten, der ihn begleitete, in Hamburg liegen, bis er es 1866 dort wiederfand Erst in Winterthur und Zürich, da er sah, daß das anfänglich als kleinere Trauerkantate gedachte »Deutsche Requiem« in Satz 2 und 3 zu mächtige Dimensionen angenommen hatte, um mit dem lieblichen [259] Lobe des Herrn, das unter andern Umständen einen ganz guten Schluß abgegeben hätte, beendet werden zu können, setzte er seine 1861 unterbrochene Bibelforschung weiter fort, ließ sich von Frau Rieter und ihrer Tochter Ida in Winterthur dabei helfen,17 in Zürich ebenso die freundliche »Mitarbeiterschaft« des ihm schon von Hamburg her bekannten Pfarrers von Beatenberg, Lizentiaten Dr. A. Löwe, dabei gefallen (die ihm nichts nützte), schleppte die »große Konkordanz« aus der Stadtbibliothek auf den Zürichberg hinauf und ergänzte dann Plan und Text des Werkes zu seiner gegenwärtigen Vollständigkeit.

Rekapitulieren wir die wichtigsten Momente unserer umständlichen Untersuchung, so ergibt sich folgende ganz natürliche, aus Annahmen und Tatsachen kombinierte Schöpfungsgeschichte des »Deutschen Requiems«, die keine wesentlichen Lücken aufweist. Nach Schumanns Tode mit der Durchsicht und Ordnung seines handschriftlichen Nachlasses beschäftigt (Oktober 1856 in Düsseldorf), fand Brahms im »Projektenbuche« des Meisters die Notiz »Ein deutsches Requiem«. Sie blieb ihm im Gedächtnis haften und trieb ihn an, den von Schumann unterlassenen Versuch zu wagen.18 Bei der 1857 erfolgten Umwandlung der tragischen, d-moll-Symphonie in das semiseriöse Konzert op. 15 wurde das Scherzo des zweiten Satzes weggelassen. Es war dies, wie wir uns erinnern, jene Sarabande, welche im Faschingszuge den vom Wahnsinn umnachteten großen Davidsbündler heimgeleitete. Aus der beseitigten Danse macabre aber wurde eine Marche funèbre gemacht: [260] gleich dem »Marsch der Davidsbündler gegen die Philister« bewegt sie sich im Dreivierteltakte. Mit dem Kontrapunkt des Chorals »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras« ausgestattet, bildete nun der neue Totenmarsch den zweiten Satz der 1859 in Detmold projektierten Trauerkantate. Die beiden Serenaden und andere Kompositionen kamen dazwischen, und das Gefühl, der Aufgabe noch nicht gewachsen zu sein, stumpfte den Vorsatz ab. In Hamm bei Hamburg exzerpierte sich Brahms geeignete Bibelstellen und schrieb den Text seiner vorerst auf vier Sätze berechneten Kantate auf die Schlußseite des frisch komponierten ersten Magelonenheftes (Oktober 1861). Er nahm das Blatt auf einer Fußreise durch den Harz mit, kehrte aber unverrichteter Sache nach Hamburg zurück und verlor seinen Plan, mit neuen Aufgaben beschäftigt, aus den Augen. Blatt und Buch blieben in Hamburg liegen. Dann kamen »Rinaldo« und die unruhige Wiener Zeit. Der Tod der Mutter (1865) gab den Anstoß zur Wiederaufnahme des Requiems. Im Zusammenbruche des Vaterhauses schien der mühevoll zusammengestellte Text verloren gegangen zu sein, jenes Blatt war nicht aufzufinden. Erst im Januar 1866 gelangte das vermißte Buch zum Vorschein, das gesuchte Blatt fiel heraus, Brahms faßte sofort den Entschluß, das Requiem zu vollenden und reiste im Winter nach Karlsruhe. Dort schrieb er bei Allgeyer den, d-moll-Satz Nr. 3 und in Winterthur (Mai 1866) den fugierten Orgelpunkt. Auf dem Züricherberge erweiterte er den Plan des Werkes und bereicherte es mit den Sätzen 4 und 6. Aus der Schweiz im August nach Lichtental bei Baden-Baden zurückgekehrt, komponierte er den Schlußsatz, gab dem zweiten Satz die noch fehlende Koda, unterzog das Ganze einer sorgfältigen Redaktion und setzte unter das Ende der Partitur das Datum: »Baden-Baden 1866.«

Danach könnte es scheinen, als ob er den Gedanken, das Sopransolo mit Chor, jenes einzige, bereits vorgemerkte Stück, das an die Mutter erinnert, zu komponieren, wieder aufgegeben, oder als ob es erst wieder einer besonderen Veranlassung bedurft hätte, ihn an die Erfüllung seines Vorhabens zu mahnen. Waren es sachliche Bedenken, die ihn zurückhielten? Wollte er, daß das Totenopfer seiner Kindesliebe gleichsam an Ort und Stelle gebracht würde? Wir glauben das letzte. Nur in der heimischen Luft wollte[261] ihm die rührende Grabesspende gedeihen und zur Vollendung reisen. Erst als er im April 1868 von der Bremer Aufführung mit dem Vater nach Hause gereist war, die teuern Stätten der Kinderzeit alle wiedergesehen und seinen fünfunddreißigsten Geburtstag mit einem Morgenbesuch auf dem Friedhofe begonnen hatte, kam ihm die rechte Weihe für seinen Engelssang. Der »nachkomponierte Satz« war am 24. Mai fertig.

Jene öfters berührte Bremer Aufführung des »Deutschen Requiems« fand am 10. April 1868, am Karfreitage, statt. Lange Verhandlungen waren ihr vorangegangen. Dietrich hatte den Freund 1866 um eine Symphonie für seine Oldenburger Kapellkonzerte gebeten, da er wußte, daß von der c-moll-Symphonie bereits 1862 der erste Satz fertig vorlag. Aber die Symphonie war liegen geblieben. Brahms schrieb dem Freunde, er könne mit keiner Symphonie aufwarten, aber sein »so genanntes« »Deutsches Requiem« möchte er ihm vorspielen. Im Frühjahr 1867 konzertierte er in Pest mit ungeahntem Erfolge. Da hätte er, wie er meinte, sein Requiem los werden können. Nun wolle er es Dietrich schicken, damit dieser, wenn er nach Düsseldorf geht, es mitnehmen, es Hermann Deiters in Bonn und anderen Freunden mitteilen könne. Ehe er mit dem Vater die Gebirgstour nach Steiermark und Salzburg unternahm, schickte er die Partitur des Requiems nach Oldenburg ab und legte Dietrich nahe etwas für die Aufführung des Werkes zu tun. Antragen wolle er sich nicht; dagegen wäre ihm ein Anerbieten aus Bremen höchst erwünscht. Ein Konzertengagement müßte freilich damit verbunden sein. Kurz, das Requiem, müßte wohl Reinthaler19 geradezu so gefallen, daß er etwas dafür täte. Übrigens verschlage es ihm nichts, derartige Sachen, die ihrer Natur nach kein allgemeines Publikum haben und eigentlich nur in majorem Dei gloriam komponiert seien, ruhig liegen zu lassen. »Abstrapazieren tue ich mich nicht dafür.« Als Brahms bei der Rückkehr von der oberösterreichischen Reise wieder nach Wien kam, ohne daß etwas Entscheidendes in der Sache geschehen war, forderte er die Partitur zu rück. Er streckte [262] einen Fühler nach Basel aus, zog ihn aber wieder ein, da man dort Umstände machte. Inzwischen hatte Herbeck Lust bekommen, einen Teil des Werkes im Wiener Gesellschaftskonzert aufzuführen; mit welchem Erfolge dies dann geschah, haben wir bereits gehört. Nach dem Konzert sagte Brahms in Beziehung auf das Werk zu Frau Marie Grün: »Ich bin froh, daß es aus dem Haus ist; denn so lange ich es in Händen hatte, war ich unzufrieden damit und wollte es besser machen.« Reinthaler aber hatte sich bereits entschlossen, das Werk aufzuführen, und wollte mit dem ihm von Dietrich gegebenen Manuskript nicht herausrücken. In Folge dessen schrieb ihm Brahms:20 »Ich erfahre soeben von Joachim, daß Sie im Besitz meines ›Deutschen Requiems‹ sind. Darf ich Sie ersuchen, mir dasselbe jedenfalls umgehend zukommen zu lassen? Ich erwartete es lange mit Ungeduld von Dietrich oder Joachim zurück, und nur meine Schreibfaulheit läßt mich erst heute erfahren, daß ich es von Ihnen zu erbitten habe. Ich kann nicht unterlassen, zu bemerken, daß es mir einigermaßen peinlich ist, mein Werk bei Ihnen zu wissen. Es trägt noch so arge Spuren von Flüchtigkeit und eiligem Schreiben, daß es sich nur guten Musikern zeigen kann, die ich zugleich nachsichtige Freunde nennen kann. Wollten Sie dies freundlichst nachträglich bemerken und damit recht vieles einstweilen entschuldigen. Trotzdem wäre es mir eine große Freude, wenn Sie mir in kurzem oder langem Ihre aufrichtige Meinung über das Werk sagen möchten. Möglicherweise habe ich in ganz kurzer Zeit hier eine Aufführung – und deshalb wiederhole ich meine Bitte um sofortige Zusendung des Manuskripts, damit ich es gebührend betrachten und bearbeiten kann.«

Reinthaler beruhigte ihn völlig, sagte ihm, wie innig er von der hohen Bedeutung des Werkes durchdrungen sei, und bat um die Erlaubnis, es im Bremer Dom aufführen zu dürfen. Darauf antwortete Brahms: »Auf Ihren werten Brief wünschte ich recht sehr mit Behagen antworten zu können. Briefschreiben ist jedoch [263] so wenig meine Sache, daß ich mich auch diesmal darauf vertrösten muß, Ihnen etwa persönlich zu begegnen, und dann nach Herzenslust einiges zu plaudern. Doch habe ich nötig, Ihnen zu schreiben, wie große Freude mir die herzliche Teilnahme machte, mit der Sie mein Werk gelesen. Ich anerkenne sie doppelt, seit ich das Werk mit einigem Schrecken wiedersah und tüchtig darin herumwirtschaftete mit der Feder. Die Musik anlangend, habe ich so viel mehr beantwortet, als Sie nachsichtig genug gefragt und gesagt haben. Was den Text betrifft, will ich bekennen, daß ich recht gern auch das ›Deutsch‹ fortließe und einfach den ›Menschen‹ setzte, auch mit allem Wissen und Willen Stellen, wie z.B. Evang. Joh. Kap. 3, Vers 16, entbehrte.21 Hinwieder habe ich nun wohl manches genommen, weil ich Musiker bin, weil ich es gebrauchte, weil ich meinem ehrwürdigen Dichter auch ein ›von nun an‹ nicht abdisputieren oder streichen kann. Aber – ich höre auf, ohne ausgesprochen zu haben, und will noch eine Sache erwähnen, die mir nicht bloß angenehm, sondern wichtig wäre. Das ist eine Aufführung im Bremer Dom, von der Sie schreiben. Ich werde hier (am 1. Dezember) aus mancherlei Gründen die erste Hälfte aufführen und schwerlich Gelegenheit haben, das Ganze zu hören. Mögen Sie sich für eine Aufführung in Ihrer Stadt ernstlich interessieren, so verbinden Sie mich außerordentlich. Einigermaßen wäre da freilich auch wohl das Pekuniäre zu bedenken, vielleicht könnte ich in einem der Abonnementskonzerte spielen, vielleicht auch ein eigenes Konzert geben? Kurz, ich werde sehr begierig nach einem etwaigen weitern Brief von Ihnen ausschauen und sehr froh sein, wenn sich die Sache realisiert. Namentlich [264] von Ende Januar ab bin ich durchaus frei, und hält mich nichts ab, nach Belieben mich in Ihrer Stadt und Gegend aufzuhalten.«

Nach dem Wiener Mißerfolge verbreitete sich das Gerücht, Brahms wolle der Kaiserstadt für immer den Rücken kehren. Die Kunde davon war auch nach Bremen gedrungen, und Reinthaler interpellierte ihn deswegen. Brahms entgegnete, daß er durchaus nicht daran denke, Wien zu verlassen und nach Bremen oder »sonst wohin«22 überzusiedeln. Komme er überhaupt bald fort, so wolle er sich bis zur Bremer Aufführung, also ein Vierteljahr in Norddeutschland herumtreiben, d.h. konzertieren. Am 5. Januar 1868 meldete Brahms noch von Wien aus in den Schanzengarten, daß das Requiem am Charfreitag im Bremer Dom aufgeführt werden solle, und fragt Rieter, ob er da nicht zuhören und es sich dann gleich mitnehmen könnte. »Bis jetzt kostet mich das Stück schon ein Erkleckliches, es ist, als ob ich ein Kind zu erhalten hätte!« Gleich nach seiner Ankunft (Mitte Januar) in Hamburg kündigte Brahms seinen Besuch bei Reinthaler an und fuhr, so oft er konnte, zu Chorübungen, die an jedem Montag stattfanden, mit der noch immer nicht außer Kurs gesetzten »Schnelldroschke« hinüber, zuletzt am 16. Februar, nachdem er in einer Quartett-Matinee Auers seine Händel-Variationen gespielt hatte. Seine Eigenschaft als Virtuose, schreibt er, werde ihn, wie es scheint, für längere Zeit abhalten, dem Einstudieren des Werkes beizuwohnen. Die Konzertreise mit Stockhausen kollidiere in empfindlicher Weise mit den Bremer Vorbereitungen, und umgekehrt. Aber, wie er an Arthur Faber in Wien schreibt, der sich nach einer neuen Wohnung für ihn umsehen mußte, tue er wieder einige Schritte »der Million entgegen«. »Ja, wenn meine Bremer Aufführung nicht wäre,« seufzt er, »ginge ich mit Stockhausen nach Petersburg!« Da er in Reinthaler einen firmen, gründlich gebildeten Musiker, der selbst produktiv war, und einen ebenso gewissenhaften und tüchtigen Dirigenten kennen gelernt hatte, so wußte er sein Werk in den besten Händen und konnte in dieser Beziehung ruhig mit seinem Sangesbruder durch die nordischen [265] Haupt- und Provinzstädte reisen. Seine einzige Sorge war ob die Bremenser in ihrem schönen Eifer nicht etwa erkalteten. »Gestehen will ich,« schreibt er von Stettin an Reinthaler, »Sie wundern zu müssen, wenn wir in der Charwoche recht vergnügt sein können. Mein Werk ist doch recht schwer, und in Bremen geht man doch bedächtiger zum hohen A hinauf als in Wien. Ich schicke hierbei die Partitur der drei ersten Sätze, da ich herzlich wünsche und hoffe, Sie lassen das Streichquartett sich beteiligen an den Singproben; es wäre sehr schön, wenn die Geiger hernach die Sache kennten. Stockhausen, der Sie bestens grüßen läßt, will sich die Geschichte anhören und dabei (aus Gefälligkeit) das Solo gerne übernehmen. Einstweilen fahren wir nach Kopenhagen ... Ich sage Ihnen, es möchte kein Hund so länger leben. Patti-Ullmann ist Kinderei gegen Stockhausen-Brahms«. Vorher konzertierten sie noch in Kiel.23 Von Oldenburg, der letzten [266] Station seiner Konzertreise fuhr Brahms am 4. April direkt nach Bremen, um die Hauptproben des Requiems zu überwachen, und stieg bei Reinthaler ab. Viele Gäste von auswärts hatten sich angemeldet. »Nun fehlt mir nur noch Frau Schumann, die ich schwer vermissen werde,« klagte er seinem Freunde Dietrich.24 Dies wurde ihr sofort heimlich mitgeteilt, und Brahms konnte zu seiner freudigen Überraschung, die schmerzlich Entbehrte, die die weite Reise von Baden-Baden nicht gescheut hatte, mit ihrer Tochter Marie in Bremen begrüßen. Mit Hamburger Freunden war auch der Vater in der Hansastadt an der Weser angelangt. Sein getreues Hamburger Frauenquartett war ebenfalls auf dem Platze und sang im Chore mit. Josef und Amalie Joachim, die in dem Kirchenkonzert mitwirkten, waren von Berlin, Albert Dietrich und Frau von Oldenburg, Max Bruch von Sondershausen, Dr. A. Schubring (derDAS-Korrespondent der »Neuen Zeitschrift für Musik« und der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung«) von Dessau, Melchior Rieter-Biedermann von Winterthur, F. Gustav Jansen, der Schumann-Forscher, von Verden, John Farmer, ein leidenschaftlicher Brahms-Verehrer, aus England25 und viele andere aus verschiedenen Ländern und Städten herbeigekommen, um der Aufführung des Werkes beizuwohnen. Über zweitausend Menschen füllten den alten Bremer Dom bis auf den letzten Platz – es war ein Publikum, wie es Brahms sich nicht besser wünschen konnte, mehr ein ins Große erweiterter Freundeskreis als das gewöhnliche Konglomerat der gleichgültigen, zerfreuungssüchtigen, sensationslüsternen Menge. Und alle diese Menschen lauschten [267] ergriffen in der dämmerigen Kirche der neuen, künstlerischen Heilsoffenbarung, zur Stunde, da der von Brahms geflissentlich umgangene Sohn Gottes seinen Geist auf Golgatha ausgehaucht hatte. Aber der große Freund der Mühseligen und Beladenen ließ sich nicht von seiner Gemeinde ausschließen, sondern kehrte, nach seinem Worte: »Wo Zwei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« unter den erhabenen Klängen der Musik als des Menschen Sohn in dem heiligen Tempel ein, der, genau wie das Brahmssche Requiem, das Zeichen des Kreuzes in seinem Grundriß trägt. Die ehrwürdige, dreischiffige, nicht allzu große romanisch-gotische Kirche, deren Rundpfeiler in Spitzbogen auslaufen, mit ihrem erhöhten, in eine kapellenähnliche Apsis mündenden Mitteltrakt, mit ihrem unter der Münsterrose ziemlich tief gelegenen Orgelchore, der durch einen an der Fassade reich mit steinerner Bildhauerarbeit geschmückten, palastartigen gotischen Vorbau vom Auditorium getrennt wird, mit ihren verhältnismäßig niedrigen, von bunten Fenstern spärlich erleuchteten, schaurig anheimelnden, traulich ernsten Hallen – dieses von zwei zierlichen Türmen überragte gemütliche Gottes haus ladet zu einer Andacht ein, die nichts Erkältendes, Isolierendes hat, sondern sich gesellig zu verbreiten wünscht. Man muß den Charfreitag, der bei den Protestanten dem Ostersonntag den Rang abläuft, insofern er allerorten mit reichen musikalischen Stiftungen bedacht worden ist, einmal in Mittel- und Norddeutschland erlebt haben, um den eigentümlichen Zauber, wie ihn Wagner in seinem »Parsifal« zu bannen suchte, im sehnsüchtig-dämmerseligen Herzen aufnehmen zu können. Um die sechste Stunde, da, wie es im Evangelium heißt, eine Finsternis über das ganze Land ward, bis zu der neunten Stunde, glimmen leise die Kerzen an den Galerien der Kirche auf und verwandeln das Zwielicht des sinkenden Abends in mystische Dämmerung. Der stummen Musik der geweihten Feierstunde wird die Zunge gelöst: die Orgel präludiert, Chor und Instrumente fallen ein und beginnen die ewig neue, niemals zu erschöpfende »Historie vom bitteren Leiden und Sterben unseres Herrn und Heilands«. Da ist es, als ob unsichtbare Geister den unterirdischen Krypten entschwebten, als ob die goldenen Sterne von der das Firmament bedeutenden Wölbung sich hernieder [268] neigten, als ob die Boten einer künftigen, besseren Welt durch die geschlossenen Fenster und Türen in wallenden Wolkengewändern aus- und eingingen, um den vibrierenden, vom Körper fortstrebenden Seelen der verzückten Zuhörer das Geheimnis der Auferstehung zu verraten ...

»Die Wirkung des wundervollen und herrlich aufgeführten Werkes,« berichtet Dietrich, »war geradezu überwältigend, und es wurde dem Zuhörer jetzt schon klar, daß das Werk zu dem Höchsten gehört, was in der Musik erschaffen worden ist.« Eine heitere gesellschaftliche Nachfeier versammelte die Künstler und deren Gäste um die berühmte »Rose« des Ratskellers, und der dort verzapfte Wein begeisterte viele zu neuen »Phantasien im Bremer Ratskeller«, die sich in Tischreden und Trinksprüchen entluden. »Uns alle,« sagte Rheinthaler, »die wir das Werk gehört haben, darf es mit Stolz erfüllen, weil uns die Überzeugung geworden, daß deutsche Kunst noch nicht ausgestorben ist, sondern daß sie sich wieder zu regen beginnt und daß sie wachsen werde so herrlich wie zuvor. Es war eine lange, stille, trübe Zeit, fast schien es, als sei der Abend hereingebrochen, als wir den letzten teuren Meister (Robert Schumann) begraben hatten; aber heute, nach der Aufführung des Requiems, können wir uns sagen, daß die Schüler jener großen Meister vollenden werden, was sie so herrlich begonnen.« Seine Rede gipfelte in einem Hoch auf Brahms, dem Meister des »Deutschen Requiems« und wurde von diesem mit wenigen schlichten Dankesworten erwidert. Von Hamburg aus aber schrieb Brahms dem neu gewonnenen Freunde, der sich so hoch um ihn und sein Werk verdient gemacht hatte: »Nun hätte ich Dir längst die schönste Rede halten sollen auf einem viel größeren Papier als diesem. Unverzeihlich, daß ich's nicht getan; denn was ich auch jetzt schreiben mag, es schaut doch nur wie eine Quittung aus. Aber nein, Du weißt ja so gut wie ich, daß ich nur das Kleinere abtue, wenn ich sage, daß mich der Brief des Vorstandes und die Beilage aufs angenehmste überrascht hat. Wir wissen denn auch beide gleich gut, für welche Freuden ich Dir dankbar bin. Durch alles mögliche – die Gastfreundschaft ist nicht das letzte – hast Du mir ein paar Tage geschaffen, die mir unvergeßlich sein werden. Das klingt banal! Aber banal [269] klingt auch: ich liebe Dich, und wer Teufel macht denn erst Variationen, wenn er so etwas sagen will. – Ich reise doch Sonntag Abend mit der Bremer Post? Ich denke, sonst hättest Du geschrieben, und meine Freudentafel war eine so wohlbesetzte, daß der Nachtisch nicht fehlen kann. Aber ich muß noch einmal ans Glas stoßen. Gib doch einliegenden Brief – aber an wen? ab.26 – Ich freue mich zweifach, nach Bremen zu kommen; das Schreiben ist überhaupt eine verfl. – Sache und gar, wenn man recht viel und recht Herzliches zu sagen hätte. Grüße Deine liebe Frau schönstens, die Kindlein kleine, und sei selbst herzlich und herzlich dankbar gegrüßt von Deinem Johs Brahms.«

Das »Deutsche Requiem« hatte den Bremensern so wohl gefallen, daß gleich nach der ersten, von Brahms geleiteten Aufführung im Dome der Wunsch nach einer zweiten im großen Saale der »Union« laut wurde, an welcher sich das profane Konzertpublikum beteiligen könnte. Sie ließ denn auch nicht auf sich warten: am 28. April wurde das Requiem wiederholt, und zwar unter Reinthalers Direktion »zum Besten der Musiker-Witwen- und Unterstützungskasse«. Die zweite »Freudentafel« war zwar nicht so wohlbesetzt wie die erste, aber immerhin noch höchst anständig gedeckt. Das Baritonsolo, welches am 10. April von Stockhausen mit der ganzen Meisterschaft seiner, bis in den Kern der Sache eindringenden Kunst gesungen worden war, fand am 28. in dem Berliner Opernsänger Franz Krolop einen nur stimmlich seiner hohen Aufgabe gewachsenen Interpreten, und an Stelle der Frau Joachim, welche, von der Violine ihres Gatten begleitet,27 die h-moll-Arie aus der Matthäuspassion und »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« aus Händels »Messias« gesungen hatte, trat Frau von Voggenhuber mit der Agathen-Arie aus Webers »Freischütz« auf. Das Orchester eröffnete das Konzert mit Beethovens A-dur-Symphonie.

Keine der beiden Bremer Aufführungen darf Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da, wie bereits erwähnt, der noch fehlende [270] fünfte Satz mit dem Sopransolo erst im Mai des Jahres vollendet wurde. Brahms nahm ihn mit an den Rhein. Das goldene Jubiläum der Niederrheinischen Musikfeste lockte deren regelmäßigen Besucher nach Köln. Es wurde zu Pfingsten, am 1. und 2. Juni 1868, gefeiert, und Brahms wußte, daß er dort viele alte und neue Freunde und Bekannte treffen würde. Das Ehepaar Joachim war an den Konzerten beteiligt. Im »Messias« sangen Louise Dustmann und Amalie Joachim die Solopartien (neben Dr. Gunz und Dr. Schmitt a. Wien). Niels Gade dirigierte am zweiten Tage eine neue Ouvertüre; dazu wurden Bachs Pfingstkantate, Mendelssohns 8. Psalm, der zweite Akt aus Spontinis »Vestalin« und Beethovens Neunte Symphonie gemacht Der dritte Tag brachte eine Ouvertüre von Hiller, eine Schumannsche Symphonie und das Joachimsche Violinkonzert. Wie 1860 blieb Brahms wieder am Rhein hängen und nahm in Bonn Quartier. In einer am Kessenicher Wege Nr. 6 mitten im Garten gelegenen reizenden Villa der Frau Endemann bezog er das obere Stockwerk.28 Dort stellte er mehrere Hefte aus den seit 1864 komponierten Liedern zusammen, in die sich die Verleger Rieter und Simrock christlich teilten (op. 43 und die drei letzten Hefte der Magelonengesänge29 erschienen bei Rieter-Biedermann, die einundzwanzig Lieder op. 46–49 bei Simrock), unterzog das Requiem einer letzten Revision für den Druck und komponierte den zweiten Schlußchor zu seinem »Rinaldo«, der nun erst bei Simrock30 herauskam. Auf die Lieder op. 46–49 kommen wir noch zurück. Hier genüge die vorläufige Bemerkung, daß sie in ihrer bunten [271] Reihe kein höheres Prinzip der Ordnung vorstellen, es wäre denn das, eine wahre Musterkarte der vielseitigen Brahmsschen Lyrik zu geben. Bei dieser Gelegenheit trat das Haus Simrock zum ersten Male als gefährlicher Wettbewerber gegen das Haus Rieter auf. Wie Brahms seinem Schweizer Verleger schreibt, hätten sich Simrock senior und junior heiß um das Requiem bemüht, an dem bereits gestochen wurde. Den fünften Satz wegzugeben, konnte sich Brahms nicht eher entschließen, als bis er ihn gehört hatte. Mit einer Privataufführung, wie er sie wünschte, sah es bei der vorgerückten Jahreszeit und dem Mangel einer geeigneten Sängerin sehr unsicher aus. In Köln, wohin er zuerst dachte, war sie nicht zu ermöglichen. Endlich hörte er, daß sie, auf Rieters Intervention, im September in Zürich statthaben könnte.

Zugleich erhielt er die Nachricht, daß Stockhausen, der ewig Unruhige, mit dem Stabe seiner besten Schüler von Hamburg nach der Schweiz reisen und vorher in Remagen am Rhein Station machen wollte. Unter den Schülerinnen befand sich auch die arme Rosa Girzick aus Wien, die schon als zwölfjähriges Mädchen 1862 in der Wiener Singakademie mitgesungen hatte. Sie war, um sich der Kunst zu widmen, auf eigene Faust und ohne Subsistenzmittel 1863 nach Hamburg gereist, wo sie, da ihre Kasse von den Kosten eines Billetts vierter Klasse erschöpft war, in einer Singspielhalle unterschlüpfte. Aus dieser unwürdigen Position wurde sie von der Familie Brahms befreit, die sich des Kindes liebevoll annahm und dem hoffnungsvollen Gesangstalente der kleinen Rosa in ihren Kreisen einige gutmütige, nicht allzu bemittelte Gönner verschaffte. Seit Rosa den Schumannschen Faust von Stockhausen hatte singen hören, war es ihr einziges Verlangen, seine Schülerin zu werden. Ihr Wunsch wurde erfüllt, und so folgte sie ihrem angebeteten Lehrer an den Rhein, ohne sich viel um die materiellen Konsequenzen ihrer unüberlegten Studienreise zu sorgen Nun saß sie in Remagen fest auf dem Trockenen und hätte weder vorwärts noch rückwärts weiter gekonnt, wenn ihr nicht in Brahms ein rettender Engel erschienen wäre. Ihm gefiel das resolute junge Mädchen, das überdies eine Freundin seiner Schwester Elise war, und er ermunterte sie, in Bad Neuenahr ein Konzert zu geben, zu welchem er seine und Stockhausens Mitwirkung zusagte. Die [272] andern Schüler und Schülerinnen des Gesangsmeisters waren natürlich auch dabei, und so fand am 25. Juli im Saale des Kurhauses zu Neuenahr »zur Vorfeier des zehnten Jahrestages der Quellenweihe durch Ihre Majestät die Königin Augusta« ein sehr lustiges Konzert statt, mit welchem Rosa Girzick ihr Glück machte. (Billetts à 1 Taler waren im Bureau und »bei dem Herrn Oberkellner« des Kurhauses zu haben.) Rosa sang außer einer Arie aus Rossis »Mitrane« Schuberts »Wanderer« und mit ihrem Lehrer Duette von Brahms, Stockhausen seine beliebte Arie aus Boieldieus »Le chaperon rouge« und mit Fräulein Asmann und Herrn Eglinger das Terzett aus Mozarts »Titus«, Brahms trug nicht nur Klavierstücke und »Wiener Walzer« vor, die stürmischen Jubel erregten, sondern begleitete auch alle zehn Nummern des ausgiebigen Programms und war in der allerbesten Laune. Unter den »Wiener« Walzern waren einige aus op. 39, aber auch mehrere andere von besonders reitzender, sangbarer Melodie. Bei einem Spaziergange, den die ganze jugendlich übermütige Konzertgesellschaft durch das Ahrtal nach Altenahr machte, sagte Brahms zu Fräulein Girzick, er wolle fürs erste nur noch Walzer, Wiener Walzer komponieren, und schwärmte dabei von seiner geliebten Kaiserstadt an der Donau, nach der er sich herzlich sehnte. »Nächstens,« beteuerte er, »werden Sie was davon zu singen bekommen!« Die Idee seiner »Liebeslieder« war in ihm aufgetaucht, und es meldeten sich täglich neue Melodien bei ihm an, die er Mühe hatte, alle aufzuschreiben.

Seinen Schützling verlor er nicht aus den Augen, sondern gab am 15. November desselben Jahres im großen Saale des Hamburger Konventgartens mit Stockhausen eine Matinée musicale »unter gefälliger Mitwirkung von Fräulein Girzick«, und richtete die von Sorgen Gedrückte im Januar 1869 von Wien aus mit folgendem herzlichen Schreiben auf, das seinen oft bewiesenen Edelmut im schönsten Lichte zeigt: »Sehr wertes Fräulein, Ihr Brief und Ihr Bild sehen zum Glück lange nicht so trostlos aus, als Sie meinen, und so wird denn wohl dem jungen Blut das bißchen Zagen und Unruhe, das es eben jetzt durchleben muß, nicht gerade schaden. Mit meinem Rat wollen Sie sich noch etwas konfuser machen? Da rate ich vor allem, nicht [273] zuviel darauf zu geben und ihn nur beim Zipfel zu fassen, wenn gar kein besserer da ist. Für's erste würde ich auch an Ihrer Stelle durchaus nicht erst anfangen, Stunden zu geben Um noch etwas Positives zu sagen, würde ich, im Fall der verehrte Lehrer nicht sorgt, und sich kein Engagement findet, nach Berlin reisen zum Musikdirektor Julius Stern. Bei diesem sehr tüchtigen und angesehenen Manne würden Sie die nötigen Rollen lernen und durch seine Vermittlung gewiß sehr leicht alsdann die gehörige Stellung finden. Hr. Stern würde sich auch gewiß darauf einlassen, daß Sie erst als berühmte Sängerin anfangen können, ihm Ihre Dankbarkeit in preuß. Kurant zu bezeugen. Sonst würde dieser einstweilige Aufenthalt in Berlin ja leicht zu ermöglichen sein, und sollten Sie da noch ein Teilchen Bankier gebrauchen, so glaube ich, dieses dürfte von meiner Größe und Qualität genügen. Besprechen Sie Ihre Angelegenheiten und etwa diesen Plan mit Stockhausen? Gibt Ihnen dieser einen Brief mit? Es ist wohl immer eigen, wenn ich dies hinter seinem Rücken tue. Sonst könnten Sie sich mit meinem Gruß oder Brief an den Verleger Fr. Simrock, Jägerstraße 18, wenden Dieser würde Sie dann gern bei Stern einführen und gewiß auch sonst, samt seiner liebenswürdigen Frau, für Sie sorgen. Schließlich aber den besten Rat: bleiben Sie hübsch lustig – oder beides. Vertreiben Sie sich die Grillen mit Wiener Walzern und recht oft mit Briefschreiben. Wenn Sie meine Schwester sehen, die bitte ich zu grüßen, und seien Sie selbst herzlich gegrüßt von Ihrem ergebenen J. Brahms.«31

In der Schweiz traf Brahms dann im September 1868 wieder mit Stockhausen und seinem Anhang zusammen. Vater Johann Jakob, der in seiner Gesellschaft war, erkundigte sich in Bönigen am Brienzer See gewissenhaft, wo sie denn eigentlich wären, weil sein überlustiger Sohn ihm nie den Namen einer Stadt oder eines Berges nennen wollte. Johannes hatte den Vater nach Bonn kommen lassen, um rheinaufwärts mit ihm zu fahren und ihm endlich das berühmte Schloß zu zeigen, dem der Alte (nach der Salzburger[274] er daran glauben, auch an das Berner Oberland. Zuvor wohnten sie mit einander der Probe bei, die Hegar mit dem nachkomponierten Requiem-Satze auf dem alten Musiksaal beim Fraumünster in Zürich abhielt. Frau Suter-Weber übernahm das Sopransolo, Mitglieder des »Gemischten Chores« und das Orchester der »Tonhalle« führten das übrige aus. Frau Karoline Brahms erzählt, daß der Vater, als er wieder am 20. September mit dem Sohne am Anscharplatze auftauchte, sie mit den Worten ans Herz drückte: »Nu awwer, Line, bekömmt mich Hannes nich widder hin!« Aber er war artig genug, eine Dankepistel an Rieter abzufassen, mit der er den Empfang eines Wechsels auf 100 Taler bestätigte. Darin heißt es: »Die Erinnerung an die Schweiz bleibt mir unvergeßlich. Der Selisberg und die drei Tage, die wir in Zürich zugebracht haben, mit Herrn Kirchner zusammen, waren schön, überhaupt alle Erlebnisse und Schönheiten der Schweiz sind schön.«

Die erste Aufführung des nunmehr vollständigen, siebensätzigen, Anfang November 1868 als op. 45 in Partitur, Stimmen und Klavierauszug32 erschienenen Requiems fand am 18. Februar 1869 [275] im siebzehnten Abonnementskonzerte des Gewandhauses in Leipzig statt und rief die widersprechendsten Urteile hervor. Der Verleger war außer sich über die Art, wie ein Teil der Leipziger Kritik mit seinem Lieblingswerke umsprang, und er drückte dem Autor seine Entrüstung darüber aus. Brahms antwortete am 25. März 1869: »Lieber Herr Rieter, mir muß ein Brief von Ihnen nicht zugekommen sein, denn ich vernehme heute zum erstenmal Ihr gewaltiges Geschrei über die Leipziger Requiem-Beurteilung. Ich habe sie gelesen, aber sie war mir gar nicht weiter aufgefallen – Sie kennen mein rohes Gemüt wohl! Nur eines fällt mir jetzt wieder auf: wie unpraktisch es ist, wenn ein Verleger, und ein so zärtlicher wie Sie, eine Zeitschrift herausgibt! Wie wenn nun Chrysander mein Werk nicht loben möchte und dann irgend einen Hasenfuß den Stellvertreter sein ließe! – Ich küsse der Frau die Hand, daß sie mir all den schönen Honig aufs Brot geschmiert, d.h. höchst zierlich auf Papier geschrieben. Haben Sie Bedürfnis, Ihren Verlagsartikel gelobt zu sehn, so lassen Sie sich nur die Neue evangelische Kirchenzeitung kommen: Nr. 11, 13. März, Berlin, Fr. Schulze ...«

Der mit P. Kleinert33 unterzeichnete, an der Spitze des Blattes stehende fünfspaltige Aufsatz ist nicht nur eine der günstigsten, sondern auch eine der sachlichsten Besprechungen, vielleicht überhaupt die beste, welche das Werk gefunden hat. Kleinert weist sich über seine gründliche Bibelkenntnis durch die genauen Angaben der Textquellen aus und zeigt sich auch in der Satzkunst wie in der musikalischen und poetischen Literatur wohlbewandert. Er rühmt die Art, wie Brahms die Schranke der Tradition durchbrochen hat, nennt die Zusammenstellung der Bibelstellen sinnig, ja tiefsinnig und tritt für den neuzeitlichen Geist der Musik ein, mit den bemerkenswerten Worten: »Brahms hat den alten Meistern das Geheimnis ihrer Kunst, das nicht in der Form steht, sondern auf dem Grunde der Seele quillt, abgelauscht und ist dann seinen eigenen Weg gegangen, die Schwingungen der Gegenwart in seiner Seele. Wir [276] haben moderne Musik vor uns. Modern in dem schmucklosen Aufriß gegenüber den wundersamen Schnörkeln der Bachschen Gotik und den bunten Farbenspielen der Händelschen Tonmalereien. Modern in dem Überwiegen des reflexiv-lyrischen Elements; in den bezaubernden Klangwirkungen der Instrumentation; modern auch darin, daß nicht mehr so sehr die Harmonik als die Rhythmik die oberste Stelle behauptet.« Er geht die Meister und Schulen durch, von denen Brahms Belehrung und Anregung empfangen hat, und sagt: »Gegen die Zukunftsmusik hat er dadurch, daß er das Lebensfähige und Bedeutende in ihr, die sinnvolle Beziehung zwischen Musik und Idee des Textes und die charakterisierende Färbung der Klangzusammenstellungen, in seinen Bau hereinnimmt, den Beweis geführt, daß sie für ihn bereits eine Vergangenheitsmusik ist. Mit Goethe zu reden: ›er hat, an allen Tafeln unverdrossen, nirgends gestohlen, immer genossen.‹ Und wenn wir von einem Genius erwarten, daß er eine neue Tür auftut, durch welche der Strom dessen, was in der Zeit lebt, sich ergießend auch alles mit fortreiße, was die Vergangenheit an Leben überliefert, so wird man Brahms nach diesem Requiem den Ehrennamen schwerlich versagen dürfen.«

Es bedurfte noch einer guten Weile und sehr vieler Reproduktionen des Werkes, ehe das deutsche Publikum zur Erkenntnis der hier ausgesprochenen Wahrheit durchdrang.34 Denn nichts bricht sich langsamer Bahn als das Neue, das ohne Lärm und ohne die anmaßende Prätension auftritt, das absolut Niedagewesene zu sein. Christi Wort: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen« gilt auch für die Kunst.

Fußnoten

[277] 1 Das Zitat aus der Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums ist die einzige Relation zwischen dem Requiem und Christus. Sein Name wird in dem Werke überhaupt nicht genannt. In einem Gespräch mit Wendt erklärte Brahms, auf die Bemerkung des Freundes (Wendt), daß wir ja sehr gern den felsenfesten Glauben der strengen Christen annehmen würden, der doch eigentlich über alle Not hinweghelfen müsse: »Diese Zuversicht ist doch auch bei den Pietisten sehr selten. Ungemach und Unglück tragen sie meist um nichts leichter, und ein vernünftiger Mensch, der in solchen Fällen aufrecht stehen bleibt, ist doch eine ungleich erhebendere Erscheinung. – In Bremen wird mein Requiem jährlich im Dome gesungen. Aber da der Name Christus gar nicht darin vorkommt, so wird die Erlaubnis zur Benutzung der Kirche nur unter der Bedingung erteilt, daß diesem Mangel durch eine Einlage abgeholfen werde. In der Regel nehmen sie dazu Händels ›Ich weiß, daß mein Erlöser lebt‹.«


2 J.V. Widmann machte sich als Dichter der tiefsinnigen »Maikäferkomödie« Sorgen, Brahms könne es ihm verübeln, daß er die Stelle aus dem Paulinischen Korintherbriefe »Siehe, ich sage euch ein Geheimnis«, welche Brahms so ergreifend behandelt, in satirischem Sinne gebraucht habe, und hielt es für geboten, sich deswegen bei dem Verfasser vorliegenden Buches brieflich zu rechtfertigen: die Verwendung sei erlaubt, weil es unmöglich sei, daß Brahms zu jener Bibelstelle bei seiner Komposition in einem anderen Verhältnisse gestanden habe als in dem des Künstlers zu einem seiner Phantasie sich darbietenden Stoffe. Ein Vernunft- oder Gemütsverhältnis wäre nicht denkbar: denn diese Worte seien aus dem zur Zeit des Apostel Paulus allgemein verbreiteten Glauben herausgeschrieben, das Weltgericht werde demnächst hereinbrechen, so daß noch viele der Zeitgenossen des Paulus es erleben würden, wo denn nun angedeutet werde, wie solchen ihr irdischer Leib in einen verklärten werde verwandelt werden, damit sie den früher Verstorbenen, jetzt Auferstandenen gleich seien, ohne daß sie deshalb sterben müßten. Die Emphase, mit der dieses »Geheimnis« im Korintherbriefe verkündet wird, habe für uns, auch sogar, wenn wir gläubig wären, keine Berechtigung usw. Diesen Brief brachte ich dem schon erkrankten Brahms in der Festwoche zwischen Weihnachten und Neujahr 1897, und Brahms, dem Widmanns »tragikomisches Gedicht« so außerordentlich wohlgefiel, daß er es in sechs Exemplaren kaufte und verschenkte, sagte: »Sieh mal an, das habe ich gar nicht gewußt«, und stimmte mit mir darin überein, daß es zwar unnötig gewesen sei, sich mit solchen Bedenken zu plagen, der Ernst und die Gewissenhaftigkeit unseres Dichters aber dabei im schönsten Licht erscheine. Bei derselben Gelegenheit bekannte er, daß er weder damals, als er das »Requiem« schrieb, noch jetzt an die Unsterblichkeit der Seele glaubte. Die Apostelstelle habe ihm nur als musikalisch verwendbares Symbol tiefen Eindruck gemacht, und es sei ihm etwa so »kurios« zumute gewesen, wie einem künstlerisch empfindenden Weltkinde, wenn der Geistliche in der katholischen Messe die Monstranz erhebt. (Vgl. hierzu I 384.) Widmann kommt bei einer späteren Erörterung derselben Angelegenheit (im Berner »Bund«) zu dem richtigen Schlusse: »Es leuchtet jedermann ein, daß es somit vor dem vernünftigen Denker keinen Sinn hat, diese Worte – ein ursprüngliches Mißverständnis, eine getäuschte Hoffnung der ersten Christen – pathetisch zu nehmen und mit allen Schönheiten auszustatten, welche der Musik zur Verfügung stehn. Aber ebenso leuchtet jedem Musikverständigen ein, daß sie rein durch ihre sprachliche Fassung – ›Ich sage euch ein Geheimnis‹ – und durch den Hinweis auf die Weltgerichtsposaune, welche die Verwandlung begleiten werde, einen unermeßlichen Phantasiewert für den Tondichter in sich bergen, dem gegenüber alle Erwägung ihrer logischen Bedeutungslosigkeit nicht ins Gewicht fallen konnte.«


3 Friedrich Spitta: »Heinrich von Herzogenberg und die evangelische Kirchenmusik.«


4 I 36.


5 Im Sommer 1865 ließ sich Brahms von Allgeyer die Sammlung der Propheten und Sibyllen Michelangelos komplettieren, in deren Anblick er sich stundenlang versenken konnte.


6 Hier begegnet sich Brahms mit Heinrich Schütz, der Kap. 14, V. 13 aus der »Offenbarung« ebenfalls für Chor komponiert hat.


7 Nach einer persönlichen Mitteilung von Deiters.


8 Wir haben diese Zeilen eine Herausforderung genannt; denn sie waren in der Absicht geschrieben, Brahms zu einer authentischen Äußerung über jenes obenerwähnte, schon damals kursierende Gerücht zu bewegen. Er beehrte mich auch, gleich, nachdem er den Artikel gelesen hatte, mit seinem Besuche und plauderte eine Stunde lang über alles mögliche. Beim Abschied, als er in der Tür stand, drehte er sich noch einmal um, und sagte wie einer, der etwas vergessen hat: »Wollen Sie mir einen Gefallen tun? Dann schicken Sie doch das gestrige Morgenblatt der ›Presse‹ an Frau Schumann mit einem schönen Gruß von mir.« Es widerstrebte ihm offenbar, sich über einen Gegenstand, der ihn so nahe berührte, auszusprechen, und ich unterließ es, darauf zurückzukommen. Sein Wunsch aber zeigte, daß ich das Richtige getroffen hatte.


9 Aus Schumanns letztem Aufsatz »Neue Bahnen«.


10 Brahms hat das Manuskript, nachdem es 1892 in der Wiener »Musik- und Theaterausstellung« ausgelegen hatte, dem Archiv der »Gesellschaft der Musikfreunde«, die ihn darum bat, geschenkt.


11 Das »beiliegende Textbuch« war das für die Aufführung im Bremer Dome hergestellte. Konform mit ihm ist der Text der Partitur vorangestellt worden. Im Klavierauszug hat ihn der Verleger aus praktischen Gründen weggelassen. Ebenso ist die Vorliebe, die Brahms für die alten Schlüssel hatte, nur in der Partitur respektiert worden: der Klavierauszug bedient sich der dem Laien geläufigen Violin- und Baßschlüssel. Ein Geschäft war der Verlag des Requiems fürs erste nicht, und das uns heute gering erscheinende Honorar von 110 Napoleondors, zu welchem noch 160 Taler für ein vierhändiges Arrangement kamen, für die damaligen Verhältnisse ein höchst anständiges.


12 Dieser laxen, allzu liberal auf die Interessen des Verlegers Rücksicht nehmenden Auffassung hatte es Brahms zuzuschreiben, daß, ähnlich wie bei den Magelonen- und später wieder bei den »Liebesliedern«, von der Kritik die zusammenfassende Einheit des Werkes bestritten wurde.


13 Die bei der Aufführung im Bremer Dome benutzte Orgelstimme blieb leider weg.


14 Siehe das Faksimile der Beilage!


15 Die strophische Abteilung des, einem ganz anderen poetischen Prinzip (dem Parallelismus) untergeordneten Bibeltextes ist ein Beweis mehr für das empfindliche Formgefühl des Tondichters: er brauchte hier das architektonische Bild abgeteilter Verse, um das Wort zum Erklingen zu bringen. Auch die zweite Gruppe der als Polymeter angesehenen rhythmisierten Prosa wurde später in Verszeilen von ihm abgeteilt.


16 I 438.


17 Nach einer Mitteilung des oben erwähnten Herrn C. Brückwald in Leipzig.


18 Wenn es nach alledem noch eines Beweises, daß Brahms das Requiem nicht auf den Tod seiner Mutter, sondern auf den Schumanns komponiert bat, bedürfte, so würde er von einer Briefstelle des Jahres 1873 erbracht. Als Brahms bei der für Bonn projektierten Schumann-Feier mitwirken sollte, deren Arrangement in Joachims Händen lag, wunderte er sich, daß Joachim von der Aufführung des Requiems Abstand nehmen zu müssen glaubte, weil er (Brahms) sich nicht entschieden dafür ausgesprochen habe. Brahms hatte dies aus Bescheidenheit unterlassen und sagte, wenn Zoachim über die Sache und ihm gegenüber »einfach« gedacht hätte, so müßte er wissen, »wie sehr und innig ein Stück wie das Requiem überhaupt Schumann gehöre«. Joachim aber verstand die Meinung des Freundes nicht, der ihm deswegen grollte.


19 Karl Reinthaler (1822–96) war seit 1858 städtischer Musikdirektor, Domorganist und Dirigent des Domchors und der Singakademie zu Bremen.


20 Frl. Henriette Reinthaler, die Dochter Karl Reinthalers, hatte die Güte, diesen und die folgenden von Brahms an ihren Vater gerichteten Briefe für uns zu kopieren.


21 Ein außerordentlich wichtiges Bekenntnis des in allen derartigen Dingen sonst so zurückhaltenden Brahms! Die aus dem Johannesevangelium angezogene Stelle, von welcher Brahms schreibt, daß er sie »mit allem Wissen und Willen entbehrte«, lautet: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.« Christus, der Erlöser und Überwinder, das Opferlamm Gottes, das die Sünden der Welt auf sich genommen hat, um die Gläubigen vom ewigen Tod und ewiger Verdammnis zu erretten, wurde mit guter Absicht vom Texte zum »Deutschen Requiem« ausgeschieden: das reformatorische Werk sollte, wie wir oben ausgeführt haben, allen Konfessionen ohne Unterschied, der ganzen Menschheit dienen und gewidmet sein.


22 Er meint Hamburg, wohin er gern gegangen wäre, wenn seine werten Mitbürger dies gewollt und ihm nicht wieder bei dem Direktionswechsel der Philharmonischen Konzerte einen Fremden (Bernuth) vorgezogen hätten.


23 Klaus Groth erzählt folgende hübsche Episode des dortigen Aufenthaltes: »Einige Tage vor dem Konzert war Stockhausen schon längere Zeit, bei mir im Hause, und wir warteten auf Brahms, der sich verspätet hatte. Ich ging vor die Pforte und den Schwanenweg entlang, um nachzusehen, wo er blieb, und ob er bald käme. Da ging mir der alte Komponist Löwe am Arm eines Matrosen, der ihn zu führen pflegte, auf dem Wege vorbei. Er hatte verschiedene Schlaganfälle gehabt und konnte ohne Führung keine weiteren Wege machen. Gleich darauf begegnete mir Brahms, und ich sagte: ›Du, kennst Du den Mann, der Dir eben vorbeiging, den alten großen schönen Mann? Das ist Löwe.‹ Da wandte Brahms sich rasch um und sah ihm mit offenbar großem Interesse nach, und wie wir nach Haus zu Stockhausen kamen, sagte er dem: ›Wir sind eben Löwe begegnet, singst Du etwas von ihm? Hast Du etwas von seinen Kompositionen in Deinem Repertoire?‹ Auf die verneinende Antwort Stockhausens bemerkte er ihm: ›O, Du könntest sehr wohl ein paar Sachen von ihm singen.‹ Bekanntlich kannte Brahms alles, was Musik heißt. – Dann sagte er zu meiner Frau: ›Haben Sie nicht vielleicht die Ballade von Heinrich dem Vogler?‹ Die war allerdings da, wurde sogleich herausgesucht, und die beiden Meister führten sie uns vor. ›Ja,‹ sagte Brahms ›Du könntest auch gern einige Kompositionen von Löwe zu altdeutschen Texten in Dein Repertoire aufnehmen!‹ Indem wir so von Löwe sprachen, sagte er: ›Wohnt der hier in Kiel, dann besuchen wir ihn; die Ehre müssen wir ihm antun‹. Wir machten uns also auf nach dem Schloßgarten, wo er in einem der Lampschen Häuser wohnte, und trafen ihn, Frau und Tochter. Wir hatten unsere Karten hineingeschickt, wurden natürlich wohlwollend aufgenommen; Stockhausens Name war ihnen allen bekannt. Mit dem wurde also auch die Unterhaltung hauptsächlich geführt. Wir beiden anderen waren ihm augenscheinlich ganz unbekannte Größen. An Brahms wurde das offenbar; denn als sie hörten, daß Stockhausen und er ein Konzert geben wollten, fragte die Tochter wohlwollend: ›Spielen Sie auch Klavier?‹, worauf Johannes in seiner Manier ganz bescheider antwortete: ›Ein wenig.‹ Der alte Herr sprach kein Wort. So wurden mir entlassen. Einige Tage nachher erschien der alte Löwe bei mir im Garten mit seinem Matrosen und sagte: ›Sind Ihre Freunde noch da?‹ Ich mußte ihm leider gestehen, daß sie fort seien. Da entschuldigte er sich, daß er bei unserem Besuche ganz stumm geblieben sei; er sei sehr leidend. Dann übergab, er mir drei von seiner Hand geschriebene kleine Zettel mit Dank und Gruß für jeden von uns.«


24 A.a.O.


25 Florence May, »The life of Joh. Brahms« II.


26 Ein an den Vorstand gerichtetes offizielles Dankschreiben.


27 Nach dem dritten Chor des Requiems spielte Joachim noch zwei Andantes von Bach und Tartini und, wohl mit Rücksicht auf die anwesende Klara Schumann, das von ihm transponierte »Abendlied« ihres Gatten.


28 Siehe »Ein Brahms-Bilderbuch«, Tafel XXV 2.


29 Er wollte wohl nur, daß ihm widersprochen würde: als er Rieter den horribeln Vorschlag machte, die Magelonengesänge mit anderen beliebigen zu vermengen, weil jener geklagt hatte, daß die zwei ersten Hefte schlecht gingen!


30 Den ungeduldigen Simrock vertröstet Brahms mit den Worten: »Danken Sie Gott, wenn Ihre besseren Komponisten nicht zu schreibselig und ja nicht zu schnell druckfertig sind. Es ist denn doch nicht leicht, ein irgend gescheites Wort auszusprechen, und so immer einige Überlegung und einiges Zagen wohl am Platz – wenn man schon aus irgend einem Grund nicht weiter darüber nachdenkt, daß es in den meisten Fällen überhaupt das Gescheiteste sei, das Maul zu halten.«


31 Frau Professor Rosa Bromeisel geb. Girzick lebte noch vor wenigen Jahren als angesehene Gesanglehrerin in Wien.


32 Das vierhändige Arrangement kam erst 1869 heraus. Brahms schreibt darüber seinem Verleger in launiger Weise am 31. Januar 1869 von Wien: »Etwas gelacht habe ich bei Ihrem Brief, der so tut, als ob Sie den Baslern für ihre Aufführung nicht bloß die Orchesterstimmen, sondern auch das Vierhändige schaffen wollen. Doch hat er meine Freundschaft warm gekitzelt und mich an dem Schreibtisch festgehalten. Ich habe mich der edlen Beschäftigung hingegeben, mein unsterbliches Werk auch für vierhändige Seelen genießbar zu machen. Jetzt kann's nicht untergehen. Übrigens ist es ganz vortrefflich geworden und außerdem sehr leicht spielbar, wirklich ganz und gar leicht und flott zu spielen. Frl. Ida wird es nicht bloß leichter ablaufen als die Gebirge mit ihrem Papa, sondern ihr gött-, nein doch, götziger Meister wird sie gar nicht im Andante-Schritt halten können. [Frl. Ida Rieter war eine Schülerin von Hermann Götz.] Die Hölle ist absolviert, und ich denke, der Tage es Ihnen zuzuschicken. Wenn ich mir nun 30 Nap. dafür ausbäte, so scheint mir, es hätte auch kein Schlechtester die vielen Noten dafür geschrieben oder vielmehr die wenigen aus den vielen herausgesucht. Wie es scheint, werde ich das Ding den Winter nicht zu hören kriegen, trotz aller Einladungen Ende Februar kommt hier mein Rinaldo, und im März soll ich leider nach Holland ... Womit ich die Ehre habe zu sein dero und sonderlich dero werten Damen gehorsamster Diener J. Brahms. – Hier ist übrigens meine Adresse: Hotel Kronprinz, an der Aspernbrücke.«


33 Identisch mit dem berühmten evangelischen Theologen Hugo Wilhelm Paul Kleinert, der damals außerordentlicher Professor an der Berliner Universität war.


34 Eine Übersicht der ersten Aufführungen wird im Anhange mitgeteilt.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 2, 3. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1912, S. 236-278.
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