IX.

[487] Ehe wir Brahms in seinem neuen Schweizer Sommersitz aufsuchen können, haben wir noch eine ganze Reihe denkwürdiger Ereignisse aus den Jahren 1884 und 85 nachzutragen.

Bülow hatte, von dem Wiener Hofmusikverleger und Konzertunternehmer Albert J. Gutmann mit der Kapelle zu einer Tournee nach Wien und Graz engagiert, sich vorgenommen, so, wie er als Brahmsscher Generalissimus die Schlüssel von Leipzig seinem Herrn und Meister zu Füßen legte,1 auch das neuerdings ein wenig treulose, mit illegitimen Kronprätendenten liebäugelnde Wien dem echtgeborenen Dauphin wieder zu erobern. Es kam ihm aber selbstverständlich ebensoviel, wenn nicht noch mehr darauf an, in der Stadt der Klassiker dem Publikum zu beweisen, daß es außer den »Philharmonikern« und Hans Richter noch andere Leute gäbe, die sich auf ihren Brahms und Beethoven mindestens ebensogut verständen wie jene. »Wien-Brahms beflügeln die Ambition. Dem Ideale des Kollektivvirtuosen wird immer annähernder entsprochen.« (Bülow an Steyl.)2 Brahms freute sich, wie er sagte, sehr auf die Konzerte und erklärte sich bereit mitzuspielen und zu dirigieren, was von ihm verlangt würde. Er höre so gern, fährt er etwas zweideutig fort, ein Konzert von sich spielen und sehe es so gern dirigieren, als er beides selber tue. Der Doppelsinn bedeutet eine Konzession gegen den Freund und eine reservatio mentalis für sich selbst. Daß er nicht gegen das von Bülow beliebte Bravourstück Einsprache erhob, seine und Beethovens Klavierkonzerte ohne Dirigenten vorzuführen, was durchaus gegen [487] seinen Geschmack war, muß einzig seiner freundschaftlich rücksichtsvollen Gesinnung zugeschrieben werden. Bülow, der über München nach Wien kam, befand sich in der rosigsten Siegerlaune. Seiner Frau schrieb er am 18. November 1884 von München: »Brahms ist endlich hier inthronisiert. Ein Tag meiniges hat mehr gewirkt als ein Jahrzehnt levitisches. Das freut mich infiniment: so haben wir pränumerando Brahms' Wiener Propaganda für uns bezahlt«, und am 22. d. M. von Preßburg: »Gestern in Wien wars noch sehr nett. Brahms ungeheuer liebenswürdig – die Wiener Musiker behaupten alle, ich habe seinen ganzen Charakter umgewandelt – seitdem ich seine Partei ergriffen, sei er um 662 2/3 Prozent humaner geworden. Glauben wir's.« In solchen, eine innere Gewissensangst verratenden Übertreibungen und Illusionen, an die er schließlich selbst glaubte, gefiel sich Bülow und mußte sich dann um so schmerzlicher von Tatsachen überraschen lassen, die ihm weniger gefielen.

Die erste der drei »Musikaufführungen der Hofkapelle S. H. des Herzogs von Sachsen-Meiningen«, die »unter Leitung ihres Intendanten Herrn Dr. Hans von Bülow« im November und Dezember in Wien stattfanden, enthielt nur Beethoven, die beiden letzten brachten von Brahmsschen Orchesterwerken dieF-dur-Symphonie und die Haydn-Variationen. Am 25. November spielte Bülow ohne Dirigenten das erste, am 2. Dezember Brahms das zweite Klavierkonzert, bei welchem Bülow den Dirigenten am Pulte nur markierte, daneben wurden Werke von Raff, Weber, Beethoven, Berlioz und Wagner aufgeführt, so daß keine der drei großen Musikaufführungen ein eigentliches Brahms-Konzert genannt werden konnte. Zwischen der zweiten und dritten wurde zugunsten des Unternehmens am Nachmittag des 1. Dezember noch eine vierte eingeschoben, die sich in mehr als einem Sinne zum »außerordentlichen Konzert« gestaltete.

Speidel hatte durch eine abfällige Kritik im »Fremdenblatt« den Zorn des Beethoven-Interpreten erregt, und dieser beschloß sich dafür zu rächen. Wer aber das Bad ausgießen mußte, war – Brahms. Auf dem Programm stand als letzte Nummer Beethovens Egmont-Ouvertüre, und zwar mit dem Beisatz »Auf mehrseitiges Verlangen«. Bülow betrat das Podium mit dem Programm [488] in der Hand, sah hinein, als ob er sich überzeugen wollte, daß auch wirklich die Egmont-Ouvertüre darauf stehe, schüttelte den Kopf, lächelte bedeutungsvoll und wendete sich, anstatt dem Orchester das Zeichen zu geben, an das Publikum. – »Silentium! Herr v. Bülow hat das Wort!« – Er machte das unschuldigste Gesicht von der Welt und sprach ungefähr folgendes: »Meine hochverehrten Damen und Herren! Ich habe Ihnen zu danken für die Ehre und Gastfreundschaft, welche Sie uns hier erwiesen haben. Da wir als Fremde wohl auch das Fremdenblatt lesen und uns darin von einem gewiegten Beethoven-Kenner« – hier sah er höhnisch nach dem Platze hinüber, wo er den bösen Kritiker vermutete – »vorgeworfen wurde, daß wir beim neulichen Vortrage der Egmont-Ouvertüre gegen den Geist des Komponisten gesündigt hätten, möchte ich nicht durch die Wiederholung dieses Attentates die Rücksichten, die man uns Fremden erwiesen, mit einer Rücksichtslosigkeit gegen das Wiener Fremdenblatt erwidern. Deshalb gestatten Sie uns, daß wir an Stelle jenes Werkes lieber die – ›Akademische Fest-Ouvertüre‹ Ihres Meisters Brahms spielen.« Die Zuhörer, anfangs konsterniert, faßten sich schnell, gaben ihrem »mehrseitigen Verlangen« den stärksten Nachdruck und bestanden auf der Egmont-Ouvertüre. Umsonst waren die ironischen Einwände des Dirigenten, der unter anderm bemerkte, man würde anno 18!0 (dem Kompositionsjahre des Beethovenschen Werkes) wahrscheinlich eine Ouvertüre von – Josef Weigl noch lieber gehört haben. Das Publikum ließ nicht ab, »Beethoven!« zu schreien, und der Lärm wuchs, als Bülow beide Ouvertüren noch einmal ausdrücklich zur Wahl stellte. Die Noten mußten herbeigeholt werden, und die Egmont-Ouvertüre wurde unter allgemeinem Hurra gespielt. Brahms war bei dem improvisierten Plebiszit, allerdings höchst ehrenvoll (gegen Beethoven), durchgefallen, und der Beethoven-Interpret triumphierte über den »Beethoven-Kenner« auf Brahms' Kosten – wenn auch gegen eigenen Wunsch und Voraussicht.3

Auf solche Weise in einen öffentlichen Skandal verwickelt zu [489] werden, bedeutete für Brahms, der ohnehin kein Freund der Öffentlichkeit war, das Ärgste, und er würde die schweren Geduldproben, die ihm von seinem hitzköpfigen, leidenschaftlichen und unbesonnenen Apostel auferlegt wurden, kaum bestanden haben, wenn ihm nicht seine Freunde gut zugeredet hätten. Er fragte sich manchmal ernstlich: Entspringt Bülows Eifer für mich und meine Werke nicht etwa dem Widerspruchsgeist, der Bekehrungslust und dem Sensationsbedürfnis des Apostaten? Würde er nicht, in Ermangelung meiner ihm ehemals wenig sympathischen Erscheinung auch einen Geringeren als mich auf den Schild gehoben haben? Sollte nicht das Gefühl dafür in der weiten musikalischen Welt ebenso stark sein wie mein eigenes, und nicht nachhaltiger wirken als das augenblickliche, künstlich hervorgerufene Gefallen an meinen immerhin problematischen Sachen? Wenn er aber dann an dem ehrlichen Enthusiasmus, der ihm aus allem entgegenloderte, was Bülow mit Hintansetzung seiner Wohlfahrt und Gesundheit für ihn tat, sein Herz wärmte, bat er dem Freunde im stillen wieder ab, was er in Gedanken an ihm gefrevelt hatte. Daß Bülow, getreu dem Wahlspruch seines altadeligen Geschlechts »Alle Bülow'n ehrlich«, es aufrichtig mit Brahms meinte, bedarf wohl kaum einer Versicherung und keines Beweises mehr.

Bülows Wiener Aufenthalt währte, Unterbrechungen durch musikalische Ausflüge nach Budapest und Graz abgerechnet, über eine Woche und war reich an bunten, meist heiteren Episoden.4 Brahms traf am 23. November abends zur zweiten der beiden [490] Musikaufführungen, die am 22. und 24. d. M. stattfanden, in Budapest ein. Nach der Matinee in der er seinB-dur-Konzert gespielt hatte, speiste er mit Bülow und Liszt bei der Baronin Eötvös, der Witwe des ungarischen Dichters und Staatsmannes, zu Mittag. Bülow hatte dem Großmeister im Konzert mit einer symphonischen Dichtung aufgewartet, obwohl dessen »Ideale« längst nicht mehr die seinen waren, und Liszt quittierte lächelnd für diese Artigkeit mit der Teilnahme, die er neuerdings dem B-dur-Konzert zuwendete, das ihm der Komponist vor zwei Jahren hatte schicken müssen.5 Brahms war, nach Bülows Rechenschaftsbericht »sehr nett gelaunt und human«. Die wahren Empfindungen der drei Tischgäste zu analysieren, wäre eine dankbare Aufgabe für den Psychologen.

Wenige Tage darauf, nachdem wir, Brahms, Bülow und der Verfasser, in weniger anspruchsvoller Umgebung in Wien beim »Roten Igel« unter den Tuchlauben zu Mittag gegessen hatten, gingen wir durch den Stadtpark zum Kurpavillon, wo Brahms nach Tische seinen schwarzen Kaffee zu trinken pflegte, er mehrere Schritte vor uns her, die in graue baumwollene Handschuhe gesteckten Hände auf dem breiten Rücken gekreuzt und den Hut aus der mächtigen Stirn geschoben. Da packte mich Bülow plötzlich am Arme, gestikulierte dabei so wild mit der Rechten, daß die Leute verwundert stehen blieben, und schrie mit heiserer Stimme: »Sehen Sie ihn an, den da, wie er breit und sicher und gesund vor uns hergeht! Ihm verdanke ich, daß ich noch zur Vernunft gekommen bin –– spät, aber hoffentlich nicht zu spät, – daß ich überhaupt noch lebe!! Drei Viertel meines Daseins habe ich an meinen Ex-Schwiegervater, diesen alten Komödianten, und seine Meschpoche vergeudet, der Rest aber gehört den wahren Heiligen der Kunst und vor allem ihm! ihm!! ihm!!!«6 Mich befremdete die an Wut grenzende Leidenschaftlichkeit dieser Expektoration, und ich begriff nicht, was ihn so erregt haben konnte. Brahms, mit dem ich darüber sprach, meinte: »Ja, der arme Kerl hat traurige [491] Erfahrungen gemacht« und schilderte mir die oben (S. 377) mitgeteilte Szene, die er 1883 mit Bülow in Meiningen erlebte.7 Er deutete auch an, daß er auf Bülows verändertes musikalisches Kredo nicht soviel gebe wie auf kleinere, noch unzweideutigere Beweise freundschaftlicher Gesinnung, die andere vielleicht gar nicht beachten würden. In Graz habe er (Brahms) nach einem der Meininger Konzerte des Abends spät Migräne bekommen und nicht schlafen können. Da sei Bülow, obwohl er selbst tödlich ermattet war, anderthalb Stunden in der Nacht von einer Apotheke zur andern gelaufen, um ihm ein erprobtes Mittel zu verschaffen, das er dann endlich in der dritten Apotheke erhalten habe. »Ich weiß, was Bülow für mich bedeutet, und was ich ihm bin, vielleicht noch besser als er, und es braucht es mir niemand zu sagen«, fügte er wie abweisend hinzu.

An Empfindlichkeiten und Mißverständnissen fehlte es trotzdem beiderseits nicht, einer fühlte sich immer vom andern provoziert, und jeder zahlte der menschlichen Schwäche den schuldigen Tribut. So verdroß es Brahms, der ja bei aller Bescheidenheit auch als Dirigent und Klavierspieler etwas auf sich halten durfte, wenn er hinter Bülow zurückstehen sollte, und zwar, seiner Meinung nach, vor allem deshalb, weil er die Mittel verschmähte, die jener ohne Bedenken gebrauchte, um die Menge aufzuwühlen und zu haranguieren. Louis Rée, der mit seiner Frau Susanne die Haydn-Variationen in der (selbständigen) Fassung für zwei Klaviere (op. 56 b) in Wien und auf Konzertreisen viel öffentlich vortrug, auch im Wiener Tonkünstlerverein, dem anwesenden Meister zu besonderem Danke, kam dadurch mit Brahms in näheren Verkehr. Sie sprachen einmal über d'Albert und dessen wundervollen [492] Vortrag des B-dur-Konzerts, das, wie ein Dritter bemerkte, ihm niemand nachspielen könnte, auch Brahms nicht, der natürlich Besseres zu tun habe, als Klavier zu üben. Darauf entgegnete Brahms: »Klavierspielen kann ich so gut wie ein anderer auch, nur muß man täglich öffentlich spielen, was ich seit vielen Jahren nicht mehr tue. Aufs Üben kommt es nicht immer an.« Im Anschluß daran erzählte er: »Als ich in Wien mit Bülow und den Meiningern mein B-dur-Konzert spielte, sagte ich Bösendorfer, ich brauchte keinen neuen Flügel auszusuchen, er möge mir nur den schicken, auf dem Bülow acht Tage vorher das d-moll-Konzert gespielt habe, von dessen Vortrag alle Welt entzückt war. Nach dem zweiten Konzert hieß es dann: ›Schade, daß Bülow damals nicht dasselbe Klavier hatte wie Brahms, dasd-moll-Konzert hätte dann noch einmal so schön geklungen.‹ Für mich und mein Klavierspiel hatte kein Mensch ein Wort der Anerkennung. Nun machte es mir doch Freude, daß die Leute wenigstens indirekt meinen Anschlag lobten.«8

Bei einem gemeinschaftlichen Besuche, den wir Bülow nach seinen glücklich bewältigten vier Beethoven-Abenden im Februar 1887 im Hotel Impérial abstatteten, sprach dieser davon, daß er in Wien und anderswo gern wieder als Pianist auftreten würde, wenn er sich eine neue bedeutende Aufgabe, die vor ihm noch keiner gelöst habe, stellen könnte. »Es wird Ihnen nichts übrigbleiben«, sagte ich, »als das ganze ›Wohltemperierte Klavier‹ an einem Abend zu absolvieren«. Bülow nahm die scherzhaft gemeinte Äußerung ernst. »Es ist freilich schwer«, erwiderte er, »beinahe unmöglich, die vierundzwanzig Präludien und Fugen so in den Kopf und die Finger zu bekommen, daß man sich getrauen [493] darf, sie fehlerlos zu spielen. Aber es muß gehen. Ich selbst habe schon daran gedacht. Was meinst Du dazu?« wandte er sich an Brahms. »Mir imponiert das nun ganz und gar nicht«, entgegnete dieser, »wenn Ihr versprecht, Euch nicht stören zu lassen, sondern weiter zu plaudern, spiele ich sie alle vierundzwanzig sofort. Da dies aber zu lange dauerte, so könnt Ihr mich auf die Probe stellen mit einem beliebigen Viertel oder Sechstel.« Er setzte sich lächelnd ans Klavier; jeder nannte zwei Tonarten, und Brahms spielte die dazu gehörigen Präludien und Fugen in so vollendeter Klarheit und mit so tiefer Empfindung, daß das Gespräch verstummte und wir hingerissen zuhörten. »Vor einer solchen Konkurrenz streiche ich die Segel«, sagte Bülow, als Brahms mit der es-moll-Fuge geendet hatte, und brannte eine neue Zigarette an.

Und wie mit dem Klavierspielen verhielt es sich mit dem Dirigieren. Auch hier fiel der tägliche Verkehr mit der Kapelle coram publico, die Routine, entscheidend ins Gewicht, neben dem Genie, das Bülow seinem hohen Freunde auch in dieser Beziehung abzuerkennen gewiß der letzte war. Julius Grosser, der mit Simrock zur ersten Aufführung der e-moll-Symphonie im November 1885 von Berlin nach Meiningen gekommen war, weiß davon zu erzählen. In seinem, von Marie v. Bülow reproduzierten Zeitungsberichte erwähnt er nicht nur, daß der dritte Satz da capo gespielt werden mußte, daß nach dem letzten der Herzog und mit ihm das ganze Haus dem Komponisten zu Ehren sich erhob, und daß Brahms, der auf Wunsch des Herzogs zwei Sätze des Werkes im geräumten Saale wiederholte, mit seinem Feuer das Orchester elektrisierte, sondern auch, daß Bülow dem Referenten gestanden habe, er kenne neben Wagner keinen Dirigenten, der, wenn er sich für ein Werk interessiere, so zu dirigieren verstehe wie Brahms. Desto mehr mußte es diesen verletzen, wenn er in den Zeitungen, namentlich in solchen, die Ursache hatten, seine Verdienste so viel wie möglich zu schmälern, immer wieder zu lesen bekam, nicht ihm, dem Schöpfer, sondern Bülow, dem Ausleger, sei es zuzuschreiben, wenn seine Symphonien dem Publikum gefielen, – wie sich nach Brahms' Tode der sonst so feinsinnige und gerechte Paul Marsop zu der Hyperbel verstieg, [494] nur Einer habe es verstanden, »hier einen satten Vollklang, dort erschütternde instrumentale Akzente in das Brahmssche Orchester hineinzubannen«, und das sei Hans v. Bülow gewesen. Nach dessen Ableben hätten viele »ein größeres Maß von Frische und Eigenart bei den Brahmsschen Symphonien vorausgesetzt, als jene ihrem Wesen nach bieten konnten«. Demgegenüber darf nicht verschwiegen werden, was Brahms im Sommer 1887 zu Wendt äußerte: »Bülows Dirigieren ist immer auf den Effekt berechnet. Sobald eine neue musikalische Phrase einsetzt, läßt er eine kleine Pause machen und wechselt auch gern ein wenig das Tempo. Ich habe mir das in meinen Symphonien ernstlich verbeten; wenn ich es haben wollte, würde ich es hinschreiben.«9

In den Konzerten, wo Bülow mit Brahms musizierte oder sich in die Direktion mit ihm teilte, wurde er nur zu fühlbar von dessen überragender Persönlichkeit an die Wand gedrückt; der »kleine Leopard« konnte zwar den »großen Löwen« im Sprunge überholen, kam aber doch nicht gegen ihn auf.10 Dies machte sich für Bülow immer empfindlicher geltend im Laufe der Expedition nach dem Niederrhein und Holland, die auf Brahms' Anstiften im Anschluß an die Meininger Premiere unternommen wurde. Vor ihrer großen Reise machten die Freunde noch eine kleine nach Weimar.11 Brahms hatte sich, wie wir wissen, lange [495] vergebens danach gesehnt, die klassische Stätte wieder zu betreten, die auch für ihn einmal von persönlicher Bedeutung gewesen war. Nach zweiunddreißig Jahren wandelte er wieder unter den heiligen Schatten des Dichterhaines, ohne daß er die von Liszt hineingesetzte Schlange dieses Paradieses, die Zukunftsmusik, mehr zu fürchten brauchte, und er war höflich genug, gleich anderen »Fremden von Distinktion« in der »Hofgärtnerei« seine Visitkarte für den abwesenden Hausherrn zurückzulassen. Jetzt besaß das nachbarliche Meiningen die musikalische Suprematie; vor der Orchester- und Dirigentenschule Bülows mußten sich die Tastenwüteriche beiderlei Geschlechts verstecken. Da ihm die Zukunft der Musik mehr am Herzen lag als die schon halb zur Vergangenheit gewordene Zukunftsmusik, so begrüßte Brahms ein vielverheißendes Talent, das er bei Bülow kennen lernte, mit aufrichtiger Freude. Der junge Richard Strauß, durch Bülows Vermittlung zum zweiten Kapellmeister in Meiningen ernannt, und sein prädestinierter Nachfolger, hatte am 1. Oktober 1885 nach Senecas: »Homines, dum docent, discunt« seine Dirigententätigkeit unter Bülows Ägide begonnen und schon am 18. mit Mozarts c-moll-Konzert als Pianist, mit seiner eignen f-moll-Symphonie aber als Komponist und Dirigent sehr glücklich debütiert. Schon in Mürzzuschlag interessierte sich Brahms, der die von den Meiningern in ihrem Programm geführte Bläserserenade (Suite für dreizehn Blasinstrumente op. 7) kannte und schätzte, für das Debut, das zufällig mit dem seiner e-moll-Symphonie zusammentraf, und bat, damit bis zu seiner Ankunft zu warten. Er bestellte sich für deren Tag und Stunde die Partitur aufs Schloß, wo ihm der Herzog eine Flucht von sechs Zimmern eingeräumt hatte, und las sie sofort durch, um für den Abend gerüstet zu sein. Richard Strauß erzählt in seinen »Persönlichen Erinnerungen an Hans v. Bülow«12 darüber: ... »Hierauf dirigierte ich meine f-moll-Symphonie. Unter den Zuhörern befand sich kein Geringerer als Johannes Brahms, und ich war äußerst begierig, sein Urteil über meine Symphonie zu hören. In seiner wortkargen Art sagte er mir nur ein ›Ganz hübsch‹, fügte aber eine beherzigenswerte Lehre [496] bei: ›Junger Mann, sehen Sie sich genau die Schubertschen Tänze an und versuchen Sie sich in der Erfindung einfacher und achttaktiger Melodien‹. Ich verdanke es hauptsächlich Johannes Brahms, daß ich seitdem nicht mehr verschmäht habe, eine populäre Melodie (so gering eine solche von der Schulweisheit der hohen Kritik heutzutage auch eingeschätzt werden mag, fallen sie einem doch sehr selten und nur zu guter Stunde ein) auch wirklich in meine Arbeiten aufzunehmen. Ein weiterer Vorwurf des großen Meisters: ›Ihre Symphonie enthält zuviel thematische Spielereien. Dieses Übereinanderschachteln vieler, nur rhythmisch kontrastierender Themen auf einem Dreiklang hat gar keinen Wert‹, ist mir deutlich haften geblieben. Damals habe ich eingesehen, daß Kontrapunkt nur berechtigt ist, wenn eine poetische Notwendigkeit zwei oder mehrere, nicht nur rhythmisch, sondern gerade harmonisch aufs stärkste kontrastierende Themen zu vorübergehender Vereinigung zwingt ...

Wenige Tage darauf fand die Uraufführung der Vierten Brahmsschen Symphonie statt. Bülow hatte fabelhaft probiert, und sein Eifer und seine rührende Gewissenhaftigkeit hatten oft in seltsamem Gegensatz gestanden zu der Gleichgültigkeit, die Brahms selbst bezüglich der Dynamik und des Vortrages seiner Werke ganz offen zur Schau trug.13

[497] Das Fest wurde von der Akademischen Festouvertüre beschlossen, in der, um Brahms eine persönliche Huldigung zu bringen und um die wenigen Streicher des Meininger Orchesters nicht noch mehr zu dezimieren, Bülow die Becken und ich die große Trommel übernommen hatte, wobei sich das ergötzliche Schauspiel ergab, daß keiner von uns beiden Pausen zählen konnte« ...

Die gemeinschaftliche Konzerttournee mit Bülow dauerte vom 3. bis 25. November 1885. Welche Städte sie berührte, wurde schon oben gesagt (S. 456). Überall dirigierte Brahms als zugkräftige Novität seine Vierte Symphonie – im ganzen neunmal, Bülow das übrige Programm. Wer die Bulletins, die Bülow während des Monats an seine Gattin abschickte, auf das zuvor Gesagte hin genauer prüft, wird die wachsende Verstimmung Bülows herauslesen. »Der große Bär hatte alle Ursache, mit uns und dem Publikum zufrieden zu sein, das ihm niemals noch den halben Enthusiasmus gezeigt. Mein Anteil war auch recht erklecklich14 – nach dem Meistersinger-Vorspiel brach ein unerhörter Sturm los – ich ließ ihn aus Rücksicht für Johannes wüten, ohne wieder hervorzukommen, was ein da capo veranlaßt haben würde ...« (Frankfurt, 4. November.) »Gestriges Konzert mit Bär sehr gut ... Bär war übrigens äußerst gemütlich, kam stets in Morgenschuhen in mein Zimmer herüber und plauderte überaus herablassend. Er ist doch übrigens in allen Stücken ein recht großer Kerl, urgesund und hyperfein zugleich« ... (Elberfeld, 8. November.)

»Übrigens fängt mich die ›Vierte‹ an zu ennuyieren, weil sie alle Programme monotonlichst färbt (besser vielleicht: entfärbt)« ... (Am Tage darauf.)

»In dem kalten Elberfeld gelang mir's zuletzt, die Leute doch ein bißchen ins Feuer zu jagen: Die Kapelle ›flog‹ – die [498] Dynamit. Der ›Korsar‹ (Berlioz) ging wie aus der Pistole geschossen, auch Raffs Symphonie elektrisierte. Bär scheint die Sache je länger desto mehr Spaß zu machen« ... (Düsseldorf, 9. November.)

»Wiederum (wie [immer], wenn Brahms nicht dabei, z.B. gestern) nach dem Konzert allein auf Zimmer teeschwelgend ... Es widersteht mir dieser Leierkasten von Abend zu Abend mehr. Ich bin nicht eitel und applausdurstig genug, mich für die alten Stücke noch künstlich begeistern zu können. Nie ist mir der Fluch des Virtuosentums klarer geworden als jetzt: beim Solospiel fühlt man mehr Verantwortung und hat darum frischeres Interesse« ... (Rotterdam, 10. November.)

»Wenn Maestrissimo dabei ist – à la bonne heure – dann kann ich meinen Überdruß ein wenig bemeistern, obwohl ich seine gloriose neue Symphonie nun bereits so oft (mit Meiningen 14mal oder noch öfter) genossen, daß ich sie stark satt bekommen habe«... (Arnheim, 16. November.)

»Nimm das Programm zur Hand, s. v. p. Schwach empfangen, ertaktschlug ich mir mit der ersten – übrigens gut gespielten [Namensfeier] Ouvertüre – (Bär will nichts Brillantes vor e-moll) – auch einen nur diskreten Applaus. Aber – die Vierte – hat noch nirgends unter der Höchsteigenen [Leitung] des Autors einen so grandiosen Effekt gemacht als unter der desjenigen, den Du kühn aber liebevoll, und doch nicht ungerecht, mit ›das Hemde‹ in Deinem Schmeichelkätzchenbriefe parallelisierst. Er muß sie sich in Frankfurt am 24. einmal anhören« ...

Zur Erklärung dieses letzten Reiseberichts sei bemerkt, daß Brahms, einer Abneigung gegen Rotterdam nachgebend, dort nicht dirigierte, und daß, wie es scheint, Frau v. Bülow ihrem Gatten empfohlen hatte, weniger den Vorteil anderer als den eigenen, der ja auch der ihre sei, zu bedenken – »la chemise est plus proche que le pourpoint«. Nun setzte Bülow seinen besonderen Ehrgeiz darein, den Frankfurtern zu beweisen, was er den Rotterdamern gezeigt hatte, nämlich, daß er als Dirigent ohne Rivalen dastehe, und es reizte ihn diese schöne Gelegenheit ganz besonders deshalb, weil die Frankfurter, welche die Symphonie ja erst vor [499] ein paar Wochen unter Brahms gehört. Vergleichen zwischen diesem und Bülow um so weniger aus dem Wege gehen würden, als eine solche Parallele bereits von ihnen angebahnt worden war. Denn die »Frankfurter Zeitung« hatte schon am. 4. d. M. der allgemeinen »Überraschung« Ausdruck gegeben, daß das Orchester bei der e-moll-Symphonie unter Brahms bei weitem nicht die außerordentliche Schönheit und Klarheit des Vortrages gezeigt habe, wie bei der vorjährigen F-dur-Symphonie-Premiere unter Bülow. In seinem hitzigen Eifer dachte Bülow gewiß nicht an die Möglichkeit, den Freund bloßzustellen und zu verletzen. Auch war es nicht auf Brahms, sondern auf die ihm (Bülow) mißgünstige Hochsche Konservatoriums-»Klique« (Schumann-Scholz) gemünzt; er freute sich darauf, die Leutchen mit der Nase auf die erst von ihm ans Licht gezogenen Schönheiten des unverstandenen Werkes zu stoßen, und das, um den vorausgefühlten Triumph zu einem vollkommen unwidersprechlichen zu gestalten, in Gegenwart des Komponisten. »Er muß sie sich in Frankfurt anhören!« Nun erst hungerte ihn wieder nach der zum Überdruß genossenen Symphonie, und er vergaß, daß er sie »stark satt bekommen hatte«, denn nun konnte er sie sich und andern nach seinem Gusto auftischen, und seine paprizierte Küche sollte dafür sorgen, daß die aufgewärmte Speise allen munden würde!

Zum Glück für Brahms, zum Unglück für Bülow vereitelte das Schicksal diesen törichten Anschlag. Die Frankfurter Freunde lagen Brahms in den Ohren, er möge doch zu ihnen kommen und seine e-moll-Symphonie im Museumskonzert dirigieren, und er, der ihnen gegenüber, wie in solchen Fällen gewöhnlich, das drückende Gefühl hatte, etwas gutmachen zu müssen, sagte zu, ohne zu bedenken, daß er eigentlich Bülow die Erlaubnis gegeben, das Werk in einem zweiten Frankfurter Konzert, mit dem die Tournee schließen sollte, zu dirigieren. Er meinte wohl, daß Bülow in diesen Dingen nicht anders fühlen und handeln würde als er, dem es ziemlich gleichgültig war, ob er dies oder jenes Werk spielte und dirigierte, oder ob er in einem Konzert mehr oder in einem weniger mitwirkte. Möglicherweise war ihm unterwegs Bülows Übersättigung nicht entgangen, und glaubte er, dem Freunde die beschwerliche Last von der[500] Schulter nehmen zu sollen. Wie, wenn Brahms als der große Menschenkenner, der er war, dasselbe auf dem Grunde der Seele des Freundes gelesen hätte, was wir jetzt in Bülows Briefen schwarz auf weiß geschrieben finden, und wenn er dem in seiner Eitelkeit Verletzten eine verdiente Lektion hätte erteilen wollen? Oder, wenn er, die Absicht des ehrgeizigen Dirigenten durchschauend, den sich ihm darbietenden Vorwand benutzt hätte, um sich auf möglichst gute Art aus dem ihm aufgedrungenen Konkurrenzkampfe zu ziehen, mit dem es auf eine eklatante Niederlage für ihn abgesehen war? Kein Unparteiischer dürfte deswegen Brahms der Rücksichtslosigkeit, geschweige denn des Treubruchs und des Freundschaftsverrates zeihen. Und was hinderte denn schließlich Bülow, die Symphonie in Frankfurt zu dirigieren? Doch nicht das im Streichquartett den Meiningern allerdings überlegene Orchester der Museumsgesellschaft? Hatte er sich den Wiener Philharmonikern gegenüber behauptet, so würde er auch in Frankfurt mit Geist die Materie geschlagen haben. Die Bagatelle, als welche die Angelegenheit uns heute erscheint, zu einem tragischen Fall hinaufdemonstrieren konnte nur die nervöse Überreiztheit des geärgerten Künstlers.

Tatsächlich dachte Brahms nicht im entferntesten daran, den Freund zu kränken. Am 17. November bereits von Holland nach Krefeld abgereist, wo er sich einige gemütliche Ruhetage gönnte, schrieb er ihm von hier:


»Lieber Verehrter!


Mein freundlicher Wirt Rudolf v. d. Leyen läßt Dich recht sehr bitten, doch bei ihm, statt im Hotel, abzusteigen. Wärst Du behagliche Tage in Krefeld, so würde ich Dir sehr zuraten, es Dir bei ihm wohl sein zu lassen. Jetzt habe ich im Gegenteil meinen Wirten gegenüber gemeint, du würdest für die kurzen Stunden vermutlich lieber ins Hotel gehen, und ich weiß nicht recht, was ich Dir sagen soll!

Die Züge von Amsterdam gehen: 7∙15 und 10∙20 und sind hier: 1∙16 und 3∙28. Würdest du den ersten benützen – und am Sonntag den möglichst späten – so bitte ich recht sehr, [501] daß Du bei uns einkehrst! Sonst, ja, überlege lange oder entschließe Dich kurz. Vielleicht sagst Du durch den Telegraphen einfach: Leyen Co. Krefeld komme 1 1/4 oder Leyen Co. Krefeld bitte Hotel.

Von Frankfurt fand ich hier Telegramme und Briefe vor, die um e-moll für das Museum bitten – falls sie nicht in Deinem zweiten Konzert gemacht würde. Ich habe Dich nicht damit behelligt, da ich meine Dummheit doch auch büßen kann. Die Frankfurter sind so artig mir gegenüber, daß ich mich wohl ärgern muß, so unüberlegt und rücksichtslos gewesen zu sein!

Aber Dummheit und allesMögliche

Dein Name ist

J. Br.


Herzliche Grüße, und hier freuen sich alle, und nicht zum mindesten auf Dein Kommen.«

Diesen allerdings höchst konfusen Brief nahm Bülow für eine Beleidigung. Hätte er ein reineres Gewissen gehabt, wäre er weniger mißtrauisch gewesen und würde mit einigem guten Willen herausgelesen haben, was gemeint war. v. d. Leyens Einladung anzunehmen, wäre nach des Schreibers Meinung nur dann geraten, wenn Bülow Zeit fände, sich's im Hause des Freundes wohl sein zu lassen. Dann müsse er möglichst früh am Konzerttage (Sonnabends) kommen und so spät wie möglich am darauffolgenden Sonntage wieder abreisen. Schon bei seiner Anwesenheit in Frankfurt war Brahms gebeten worden, die e-moll-Symphonie im Museumskonzert zu wiederholen, hatte dies aber kurzweg und unfreundlich abgelehnt, weil das Frankfurter Publikum nicht das erwünschte Verständnis für das Werk bewiesen hatte. Mit den Bitten und Ermahnungen seiner dortigen Freunde glaubte er Bülow verschonen zu sollen. Nun aber, da sie nicht aufhörten, ihn zu drängen, und er für eine Freundespflicht erkennen lernte, was ihm bis dahin lediglich Geschäftssache gewesen war, meinte er, für seine »Dummheit und alles Mögliche« (d.h. für seinen ungerechtfertigten Groll und Trotz wie für seine endliche halbe Zusage) büßen, also dirigieren zu müssen. Denn er bereute seine rücksichtslose Unüberlegtheit, weil er fühlte, daß das Unrecht auf seiner Seite war. Daß Bülow es für eine [502] Kapital- und Lebensfrage halten konnte, das Werk auf dem Meininger Programm zu haben, fiel ihm nicht im Traum ein. Bülow brauchte es übrigens ja nur zu sagen, und Brahms hätte den Frankfurtern anderweitige Genugtuung gegeben. Nur, »falls die Symphonie nicht im zweiten Konzert (der Meininger) gemacht würde«, stimmte Brahms zu, daß sie im Museum erschiene. Vielleicht gedachte er, wie schon angedeutet, nicht allein sich, sondern auch Bülow aus einer Verlegenheit zu helfen, und die Verworrenheit des Briefes ist auf Rechnung der ungeschicktern Diplomatie zu setzen.

Die gänzlich unvorhergesehene Folge dieses Unglücksschreibens aber war, daß Bülow telegraphisch um seine Entlassung beim Herzog von Meiningen ansuchte, die er auch, da die Depesche in einem sehr bündigen, für keinen der Beteiligten besonders schmeichelhaften Stil abgefaßt war, sogleich erhielt. Größeres Glück hatte Brahms mit einem zweiten Briefe, den er gleich nach ihrem Auseinandergehen im Winter 1885 unter der Adresse der Frau v. Bülow an den Erzürnten richtete –– Bülow hat ihn nämlich nicht erhalten, auch Frau v. Bülow nicht, so daß die unangenehmen Wahrheiten, die darin standen, niemals zur Sprache gekommen wären, wenn Brahms nicht einiges davon auszugsweise später wiederholt hätte: »Konzerte aber, und was dazu gehört, zählen bei mir nun einmal nicht zu den ernsthaften Sachen, und es wird mir schwer, mich der Konzerte des Winters anders als mit Pläsier und so obenhin zu erinnern.« Diese Äußerung – der Dank für einen Geburtstagsgruß, mit dem Bülow im Verein mit anderen Herren Brahms am 7. Mai 1886 erfreut hatte – verletzte Bülow, den sie besänftigen sollte, von neuem, und er erwiderte pikiert: »Wenn ich tant bien que mal Propaganda für die Überzeugung von der Herrlichkeit Deiner Musik mache, so geschieht's, wahrhaftigen Gott, nicht mit der unehrerbietigen Prätension, Dir Pläsier zu machen. Lediglich mir selber zum Pläsier (andern zum Ärger, na, das gehört ja dazu) geschieht's. – Anch' io sono, zwar nicht, pittore, aberegoista. Jeder eben nach seiner Manier ...«

Die zwischen Bülow und Brahms eingetretene Spannung wurde erst gehoben, und zwar sogleich, als Bülow, der im Januar 1887 seine Wienern Beethoven-Abende am Klavier gab [503] im Hotel die Visitenkarte von Brahms vorfand, auf der mit Bleistift notiert stand:


9. Kapitel

Es ist die Melodie, mit welcher Pamina das Terzett mit Tamino und Sarastro in der »Zauberflöte« beginnt: »Soll ich dich, Teurer, nicht mehr sehn?«15. Die Freunde waren schon durch Feuer und Wasser miteinander gegangen, ihre entente cordiale wurde inniger als zuvor, und Sarastros Verheißung: »Ihr werdet froh euch wiedersehn« ging augenblicklich in Erfüllung.

Eines der wichtigsten und folgenreichsten Ereignisse jener Zeit war für Brahms die Gründung des Wiener Tonkünstlervereins, der ihm das letzte Jahrzehnt seines Lebens hindurch eine Quelle geistiger Anregung, gesellschaftlicher Zerstreuung und gemütlicher Unterhaltung erschloß. Der Verein bot die sicherste Gewähr für sein Gedeihen dadurch, daß er nicht plötzlich durch einen Akt der Willkür ins Leben gerufen wurde, sondern sich ganz allmählich aus bescheidenen Anfängen wie von selbst entwickelte. Das unausgesprochene Prinzip zwanglosen freundschaftlichen Verkehrs beherrschte die Abende, an welchen seit 1879/80 einmal in der Woche (Freitag) in einem Hotel-Restaurant der inneren Stadt auf Anstiften Anton Doors und Julius Epsteins 10–15 Wiener Musiker und deren Frauen miteinander zusammenkamen. Man aß und trank, scherzte und lachte, besprach die Tagesereignisse, berührte wohl auch Standes- oder Kunstfragen und ging vor Mitternacht nach Hause. Da auch Brahms ziemlich regelmäßig bei diesen Konvivien erschien, so vergrößerte sich der kleine Kreis, der in ihm seinen natürlichen Mittelpunkt gefunden hatte, mehr und mehr; das Interesse wuchs mit der Zahl der Teilnehmer, und als auch durchreisende Künstler die Gelegenheit, auf möglichst unverbindliche und gute Art die Bekanntschaft ihres berühmten Kollegen zu machen, immer häufiger benützten, so reichte das Lokal nicht mehr aus, um die Menge der Besucher [504] zu fassen. Mit der Übersiedelung in das Parterre des Musikvereinsgebäudes stellte sich das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Gegenstande der Unterhaltung ein. Die von Epstein vorgeschlagenen musikalischen Vorträge setzten bestimmte Tagesordnungen voraus, eine Form zog die andere nach sich, und nachdem Brahms den Vorschlag Epsteins befürwortet hatte, mit den Worten: »Jeder fremde Künstler, der nach Wien kommt, soll künftig zuerst bei uns seine Visitkarte abgeben«, war nur noch ein Schritt zur Gründung des Vereins. Sie erfolgte am 23. November 1885 in der von 63 Musikern besuchten konstituierenden Versammlung. Die Mitgliederzahl des »Wiener Tonkünstlervereins« stieg bald auf 126.

Brahms, der zu den ersten ordentlichen Mitgliedern gehörte, hatte sich von Wüllner schon im Januar die Statuten des Kölner Tonkünstlervereins, »auch was etwa sonst für sein Wirken und seine Geschichte interessant und gedruckt ist«, ausgebeten, mit der Bemerkung: »Man geht hier nämlich mit der Gründung solchen Vereines vor, und ich möchte sehen, ob das anderswo gescheidter gemacht wird.« Schon diese Bemerkung läßt erkennen, daß es ohne Reibereien zwischen ihm und einzelnen streitbaren Mitgliedern, die manchmal sogar zu heftigen Zusammenstößen führten, nicht abging. Im Ausschuß herrschte anfangs selten die erwünschte Harmonie, zumal Brahms, der am 14. Dezember 1886 auf Antrag Theodor Leschetizkys zum Ehrenpräsidenten des Vereins gewählt wurde, sich in den Sitzungen kein Blatt vor den Mund nahm und die parlamentarische Form der Debatte mehr als einmal in drastischer Weise durchbrach. Aber der im zwölften Rechenschaftsbericht des Ausschusses enthaltene Nekrolog vom Jahre 1897 rühmt dem verstorbenen Ehrenpräsidenten nach, er habe dem Verein seine Freundschaft Jahr für Jahr durch persönliche Vorträge seiner Werke, die zum Teil noch Manuskript waren, an vielen Musikabenden bewiesen, habe sich bis zuletzt lebhaft für die Preisausschreibungen interessiert, durch welche der Verein schöpferische Talente zu fördern suchte, sei bei den Aufführungen der ausgewählten Werke regelmäßig zugegen gewesen, habe die Preissumme aus eigenen Mitteln erhöht und für die Drucklegung der preisgekrönten Arbeiten gesorgt.

[505] Brahms setzte es mit Hilfe von Bösendorfer und Epstein durch, daß über die bei Preiskonkurrenzen in die engere Wahl gezogenen Stücke ein Plebiszit der Vollversammlung zu entscheiden hatte. Er nahm dabei einen Standpunkt ein, der, an sich vollkommen berechtigt und vernünftig, gegenüber der Praxis doch ein allzu liberaler war. Da ihm daran lag, das Interesse für die Sache zu steigern und die Urteilsfähigkeit der Vereinsmitglieder zu schärfen, so wollte er immer möglichst viele Stücke dem Plenum zur Entscheidung überantwortet wissen. Was irgendwie die Möglichkeit einer Aufführung bot, das verdiente, seiner Ansicht nach, gehört und geprüft zu werden. Der Verein sollte ein Bild der nicht gerade erfreulichen Produktion aus eigener Anschauung gewinnen, nachdem nur das absolut Wertlose und Schlechte beiseite gelegt worden war. Infolgedessen kam es vor, daß die vom Vorstande ernannten Lektoren, denen es oblag, den Einlauf zu prüfen und die Spreu vom Weizen zu sondern, ein Stück zur Ausführung empfahlen, das zu spielen die Künstler sich weigerten. Ein Quartett wurde einmal von der Versammlung ausgelacht und doch war es von Brahms zugelassen worden. Anstatt die Werke zu beurteilen, die ihm vorgelegt wurden kritisierte das Plenum die Männer, welche sie vorgelegt hatten, betrachtete es als arge Zumutung, die Geschäfte der Lektoren besorgen zu sollen, beantragte ein Mißtrauensvotum für sie und gab nicht eher Ruhe, als bis der Ausschuß jedem der Triumvirn sein »Staunen« über die von ihnen getroffene Auswahl ausgedrückt hatte. Epstein, der damals Vorsitzender war, begleitete den Brief an den Ehrenpräsidenten mit der Erklärung, er werde infolgedessen sein Amt niederlegen. Einer der Drei reagierte nicht auf die Zuschrift, der andere war beleidigt und ließ sich erst durch die Versicherung beschwichtigen, daß auch Brahms den Rüffel erhalten habe. Der Verein drohte sich aufzulösen. Als Brahms davon hörte, schrieb er (im Sommer 1887 von Thun) an Epstein:


»Lieber und geehrter Freund,


Ich habe das herzliche Bedürfnis Ihnen zu schreiben. Nur wird es wohl bei einem Präludium bleiben; zur eigentlichen Sonate oder Kantate gehört ein Chor, nämlich der ganze Chor unseres Tonkünstlervereins. Wir sollten Ihnen wirklich vollstimmig [506] Preis und Dank singen und Sie feierlich zur Perle des Vereins ernennen!

Ich habe herzliche Sympathie für diesen unsern Verein und sein freundliches Gesicht – aber, das hat er von Ihnen, und ich fürchte, ohne Sie hat er überhaupt keines oder kein so freundliches.

Bleiben Sie uns also gut und gewogen, Sie sollen auch als unsere Perle möglichst schön und schonend von uns subalternen Beamten gefaßt und eingerahmt werden!...

Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem ergebenen


J. Brahms.«


Daß Brahms von diesen und anderen Unannehmlichkeiten dem Tonkünstlerverein nicht abwendig gemacht werden konnte, gereicht ihm ebenso zur Ehre, wie es seinen getreuen Opponenten gewiß nicht zur Schande angerechnet werden darf, daß sie auch ihm gegenüber ihre Meinung mit Nachdruck vertraten. Mit der Zeit überzeugten sich selbst die Argwöhnischen und Mißtrauischen, daß Brahms es gut mit dem Verein und mit ihnen meinte; man ließ ihn gewähren und respektierte seine Eigenheiten. Wenn ihn die musikalischen Vorträge nicht interessierten oder zu langweilen anfingen, was ja mitunter vorkam, so zog er sich aus dem Musiksaal in das anstoßende Restaurationszimmer zurück: er behauptete, das habe eine weit bessere Akustik, oder, es höre sich, von ihm aus viel ruhiger zu, oder, die Musik könne durch die Entfernung nur gewinnen u. dgl. Nur ein paar näheren Freunden, die auf sein Betreiben Mitglieder geworden waren, war es erlaubt, ihm dort Gesellschaft zu leisten, jedem anderen hätte er die Flucht vor den höheren Genüssen der Sitzung als Mangel an Teilnahme oder als Pflichtversäumnis verübelt. Seine besondere Liebhaberei waren allerdings die »trockenen« Abende, an denen nicht musiziert wurde, und als der Vorstand unisono mit dem Restaurateur über deren schlechten Besuch klagte, half Brahms kräftig nach, indem er gerade die geselligen Abende für seine persönlichen musikalischen Mitteilungen benutzte, so daß dann alles an ihnen zusammenströmte, um ihn Klavier spielen zu hören.

Im Tonkünstlerverein kam eine Seite seines Charakters zum Vorschein, die viele früher zu bemerken keine Gelegenheit hatten: [507] seine kollegiale Gesinnung. Da kannte er kein Ansehen der Person, sondern behandelte die Berufsgenossen als seinesgleichen und schloß alle, vom stolzen Virtuosen bis zum bescheidenen Orchestermusiker und Professionisten, in sein warmherziges Gefühl ein, vorausgesetzt, daß sie sich auf ihre Kunst verstanden und der Auszeichnung würdig zeigten.16 Der Verkehr mit sympathischen Musikern wurde ihm zum Bedürfnis und der Umgang mit der nachwachsenden musizierenden und komponierenden Jugend zur angenehmen Gewohnheit. Künstler wie Richard v. Perger, Gustav Jenner, Robert Kahn, Ludwig Rottenberg, Alexander v. Zemlinsky, Robert Gound, Leone Sinigaglia, Moriz Rosenthal, Alfred Grünfeld, Walter Rabl, Karl Prohaska u.a. wissen davon zu berichten. Die älteren Freunde und Genossen Epstein, Door, Gänsbacher, Nawratil, Goldmark, Grün, Brüll, Heuberger, Mandyczewski, Stocker, Kremser, Walter, Fuchs, Gotthard, Labor, Leschetizky hatten sich dabei nicht über Vernachlässigung zu beklagen; im Gegenteil ermöglichten die geselligen Abende im Tonkünstlerverein einen weit lebhafteren, regelmäßigeren Verkehr als früher. Abgerissene Fäden wurden wieder angeknüpft, neue Beziehungen entspannen sich, und wenn sie auch über die Vereinsabende nicht hinausreichten, so entstand doch zwischen den Beteiligten ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, und diese wohltuende Empfindung teilte sich auch den zugereisten Gästen mit, unter denen Spitta, Bülow, Joachim, Tschaikowsky, Liszt und Rubinstein als Sterne erster Größe hervorglänzten. Richard v. Perger, der in Reclams Universalbibliothek (Nr. 5006) eine kleine populäre Brahms-Biographie herausgegeben hat, erzählt dort in ergötzlicher Weise von der Entrevue, die Brahms mit den beiden Klaviermonarchen hatte, und von dem [508] blutigen Ausgang, den sie nahm, als Annette Essipoff beim Haarlockeneinsammeln den widerstrebenden und abwehrenden Brahms mit der Schere in den Finger schnitt, so daß der erzürnte Meister schleunigst in ein nahegelegenes Café retirierte.

Demselben Freunde († 11. Januar 1911) verdanken wir noch einige, Brahms angehende private Mitteilungen, die hier Platz finden mögen. Im Jahre 1890 bewarb sich Perger um die Stelle eines Musikdirektors in Rotterdam, die durch Gernsheims Abgang nach Berlin frei geworden war, und erhielt den Posten. Nachdem er schon längere Zeit in Rotterdam war, er fuhr er, daß Brahms zu seiner Berufung beigetragen hatte, ohne ihn geradezu vorgeschlagen zu haben. Eine sympathische Äußerung über den Menschen und Künstler war so gut wie eine Empfehlung gewesen. Als Perger fünf Jahre später wieder nach Österreich zurückkam, um die Leitung der Gesellschaftskonzerte zu übernehmen, war es vor allen Brahms, der ihm in herzlich aufmunternder Weise Mut zusprach. »Es wird mir stets ein Schmerz, ein Vorwurf sein,« fügt der aufrichtige Schreiber ehrlich hinzu, »daß ich mit bester Kraft und Willen nicht imstande war, die Erwartungen und Hoffnungen, die Brahms damals an meine Übersiedlung nach Wien knüpfte, dauernd zu erfüllen.« Weiter schreibt Perger: »Als ich in Wien wieder mein Heim hatte, sah ich Brahms zu öfteren Malen an meinem Tische. Ich wohnte mit meiner Familie damals im hochgelegenen Teile der Josefstädter Straße und hatte von meinem vierten Stockwerk aus eine entzückende Rundsicht über Wien und Umgebung. Brahms freute sich stets ganz besonders jenes Ausblicks und war kaum von den Fenstern wegzubringen. An konzertfreien Sonntagen gab es mit ziemlicher Regelmäßigkeit Fußmärsche nach Rodaun an der Südbahn. Im dortigen Gasthof ›Beim Stelzer‹ speiste Brahms mit Vorliebe. Verschiedene Kollegen nahmen an den Ausflügen teil, vor allem Door, Mandyczewski, Heuberger und ich. – Der Restaurateur Stelzer fragte uns einmal leise beim Weggehen, ob das wirklich der berühmte Herr von Brahms sei, und, als wir es bejahten, wo er dessen Bild erhalten könne. Wir sagten es Brahms wieder, und er schenkte bei nächster Gelegenheit dem beglückten Gastwirt seine Photographie.«

[509] Außer Rodaun waren Kaltenleutgeben, Mödling, Baden, Weidling am Bach, Klosterneuburg beliebte Ausflugsorte, nicht nur im Frühling und Herbst, sondern auch im Winter, und außer den von Perger Genannten waren auch Goldmark, die beiden Fuchs, Johann Nepomuk, der Hofopernkapellmeister und verdienstvolle Bearbeiter älterer Opern († 1899), und Robert Fuchs (der Komponist und Konservatoriumsprofessor), Gänsbacher, Stocker, Rottenberg und andere mit von der Partie, so daß man von einem ambulanten Tonkünstlerverein sprechen könnte. Zum Rendezvousplatz diente gewöhnlich eines der Kaffeehäuser in der Nähe der Hofoper. Der Aufbruch erfolgte um 9 Uhr vormittags. Die Eisenbahn wurde nur eine Strecke weit benutzt,17 daran schloß sich die drei- bis vierstündige Fußwanderung, mehr ein Spazierenrennen als -gehen. Brahms lief immer voran, die Beinkleider aufgekrempelt, den Hut in der Hand, ohne Stock und meist auch ohne Schirm, das Gesicht lebhaft gerötet, mit blitzenden Augen. Während der höchst einfachen Mahlzeiten knöpfte er sich auf, in jedem Sinne, erzählte oder ließ sich allerhand Schnurren erzählen, neckte die Damen und »frozzelte« die Männer, nahm nichts übel, wünschte aber auch, daß ihm nichts übel genommen würde. Dieser fromme Wunsch wurde nicht immer erfüllt, wenn er z.B. einen übereifrigen Komponisten fragte: »Sagen Sie mal, macht Ihnen das Komponieren eigentlich Spaß?« oder einen andern, der so unvorsichtig war, ihn über seine Begabung auszuholen, abfertigte: »Ja« (im Brustton innigster Überzeugung), »Sie haben Talent« (Kunstpause), dann mit schalkhaftem Bedauern hinzusetzend: »aber wenig!«; wenn er eine aufdringliche Sängerin, welche die Unverschämtheit besaß, ihn um Manuskriptlieder für ihre Konzerte zu bitten, auf die Novitäten vertröstete, die sich unter seinen nachgelassenen Werken ganz sicher befinden würden, oder wenn er endlich einer koketten Nachbarin, die ihn fragte, ob er auch finde, daß sie der Frau N., einer bekannten Schönheit, so ähnlich sähe, zur Antwort gab: »Zum Verwechseln. Sitzt man neben der einen, so wünscht man immer, es wäre die andere.«[510] – Er konnte auch sehr artig sein, wenn er wollte. Zu der jungen Pianistin Olga v. Hueber, die geigen lernte, um sich im Kammermusikstil zu üben, rief er einmal in fröhlicher Laune aus: »Ei, das muß ich hören!« und als ihm die Kleine schüchtern erwiderte, dazu spiele sie viel zu schlecht, fragte er sie: »Wenn ich Ihnen nun etwas komponiere, werden Sie es doch spielen?« –– »Ja, aber ich bin doch nur bei der zweiten Geige«, lispelte das Fräulein. Da lachte er und scherzte: »Nun, so werde ich etwas für zweite Geige allein komponieren, habe ich so noch nie versucht!« Er schickte ihr dann sein Bild mit der Widmung: »Eine kleine Erinnerung an viele gemeinsam verlebte Abende im lieben Tonkünstlerverein, mit freundl. Gruß Ihr ergebener Johannes Brahms.«

Zu Beginn des Jahres 1885 forderte Brahms von Billroth ungedruckte Manuskripte zurück, die er herausgeben wollte: »Du weißt, daß ich nicht gern das unnütze Kraut stehen lasse.« Es waren die zehn aufop. 96 und 97 verteilten Lieder, die mit der als op. 98 folgenden e-moll-Symphonie zusammen bei Simrock erschienen. Sie entstanden meist im Frühling und Frühsommer 1884, und reihen sich an die Gesänge von op. 92–95 an, welche, um ein und mehr Jahre älter, mit jenen zusammen ein lyrisches Intermezzo zwischen der dritten und vierten Symphonie bilden. Brahms hatte es diesmal eiliger als sonst mit dem Druck, da er, wie uns bekannt, das »unnütze Kraut« in der Regel viel länger stehen ließ. Zuweilen waren es auch Gründe äußerlicher Natur, nicht seine kritische Bedenklichkeit allein, die hemmend und retardierend einwirkten. Wie er das »Geistliche Wiegenlied« über 20 Jahre aufbewahrte, ehe er ihm in »Gestillter Sehnsucht« den Gefährten beigab, Öffentlichkeit begleitete, so hielt er auch mit dem längst komponierten »O schöne Nacht!« zurück, bis er es an die Spitze der vier Quartette für Sopran, Alt Tenor und Baß mit Pianoforte stellen konnte, die er als op. 92 veröffentlichte. Diese Nummer eins hat bereits eine Vergangenheit, wie wir von früher her wissen.18 Brahms nannte das Lied einen »schlechten Witz«, als er es im Jahre 1877 Frau v. Herzogenberg zuerst mitteilte und ironisch bedauerte, daß er den »Volkston« als [511] den für allzu deutliche Erotika allein möglichen wieder vergessen habe. In Daumers »Polydora« folgt der Text des verfänglichen Gedichts unmittelbar auf, »Am Donaustrande, da steht ein Haus«, als ob er Fortsetzung und Schluß dazu brächte. Der Knabe hat die zehn eisernen Riegel, die sein rosiges Mädchen hüten sollen, gesprengt und »schleicht zu seiner Liebsten sacht«. (Bei Daumer steht »Liebe«!) Der Dichter tut so, als ob sein angeblich aus dem Magyarischen übersetztes Poem ein Volkslied sei; der Komponist aber läßt sich durch die Vermummung nicht täuschen und holt das deutsche Kunstlied hervor, dessen doppelsinnige oder, wenn man will, zweideutige Pointe ihn nicht im geringsten geniert. Indem er sie melodisch ausdehnt und als Refrain gebraucht, nimmt er ihr den üblen Beigeschmack, macht aus dem schlechten Witz einen guten, gibt der Dichtung erst ihre Form und zaubert ein romantisches Nachtstück vor unsere Sinne. Die Schallwellen verraten, daß sie nur verlangsamte Lichtwellen sind; das in Tönen gemalte Mondscheinbildchen wird sichtbar und erhält durch die Bewegung der Stimmen dramatisches Leben. In dem Ausruf »O schöne Nacht!«, mit welchem das Quartett anhebt, ertönt das Baßmotiv:


9. Kapitel

Auf ihm ruht das ganze Stück, aber erst in der zweiten Strophe erweist das Motiv seine kontrapunktische Kraft. In die erste haben sich Baß und Tenor geteilt, in der zweiten wiederholen Alt und Sopran nacheinander die ihnen vorgesungene Melodie, und diese gibt sich dabei als Gegensatz des Baßmotivs zu erkennen. Mit dem fortschreitenden Gange des Vortrages steigert sich der Glanz der Szenerie. Hier eilt das Klavier, das seine Selbständigkeit von Anfang an betont, den Singstimmen zu Hilfe, als wolle es ein kleines Konzert auf eigene Faust veranstalten. Nicht nur werden dem Sopran die Nachtigallentriller abgenommen, sondern auch eine neue Melodie wird beigebracht, die abermals ein Kontrapunkt des (veränderten) Grundmotivs ist:


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[512] Sie begleitet in C-dur die von den Männerstimmenmezza voce gesungene verfängliche Stelle und vereinigt die getrennten Stimmen dann zum dritten und letzten Male in einer reichen Koda, die den Refrain »O schöne Nacht!« pianissimo auf E verklingen läßt. Brahms hat mit der Harmonie in der zweiten Strophe die Struktur des Stückes nachträglich geändert. Billroth, bei dem das Quartett zuerst gesungen wurde,19 schreibt noch vor der Herausgabe an den Komponisten: »Das hübsche, mir auch schon früher bekannte Quartett wurde also wegen des eingeschalteten C-dur zerrissen. Nun ja, es ist wohl besser so, nachdem die Nachtigallen in E-dur gesungen haben.« Vermutlich hatte Brahms den Text anfangs als einfaches Strophenlied behandelt.

In wirksamem Kontrast zu dieser grünen Lenznummer erscheint als zweites Stück desselben Opus der klagende »Spätherbst« mit dem leisen Tropfenfall seines grauen Nebels, der Feld, Wald und Heide in zähe Schleier hüllt. Der Sänger der Regenlieder kann sich in Varianten nicht erschöpfen, um dem eintönigen Naturphänomen immer neue eigentümliche Reize abzugewinnen, und auch die Landschaft, in der es regnet, verändert bei ihm ihren Charakter. Hier glauben wir eine Gegend aus den Marschen vor uns zu haben, wie sie wohl auch den Komponisten zu einem zarten Kapriccio anregte, ehe noch diesem Lied ohne Worte Hermann Allmers die Zunge löste. Das Akkompagnement tritt so selbständig auf, daß man die Singstimmen, die wie ein dünnes Gewebe frei über ihm dahinschweben, ganz gut davon ablösen könnte. Ein a capella-Quartett und ein Klavierstück sind einander wie von ungefähr begegnet und wollen sich nie mehr los lassen. Natürlich scheint es nur so. Denn bei genauerem Zusehen erkennt man, daß Soloquartett und Pianoforte sich in die Arbeit geteilt haben, um den Lohn dafür zusammen einzuernten. Die Regentropfen, welche von den Saiten rieseln, werden erst im Gesange zu Himmelstränen, und die Singstimmen würden das versöhnende Dur nicht erreichen, wenn ihnen die zum Klagegesange sich erhebende Begleitung den grauen Schleier nicht zerreißen hülfe, so daß zuletzt das klare Blau des Himmels hereinleuchtet.

[513] In den beiden letzten Nummern des Heftes erinnert Brahms an Franz Schubert, der diese Art des begleiteten vierstimmigen Gesanges besonders kultiviert, beziehungsweise zuerst angebaut hat. Hebbels tiefsinniges »Abendlied« leidet, wie die Lyrik dieses Dichters im allgemeinen, an Unklarheit des Ausdruckes; die Empfindung ist mit Gedanken verstopft und verläuft sich, sobald sie frei wird, in eine Banalität. Sonderbar genug, nahm der sonst so empfindliche, feinfühlige Brahms keinen Anstoß daran, daß dem Dichter das Leben »ganz wie ein Schlummerlied vorkommt.« Ja, er hob das »ganz« durch die folgende halbe Taktpause noch besonders hervor, nach dem richtigen politischen Prinzip, den Schwächen des Verbündeten nicht zu schmeicheln. Offenbar reizte es ihn, der widerhaarigen Inversion der zweiten Strophe: »Der mich bedrückte, schläfst du schon, Schmerz?« beizukommen, aus der metrischen Ungleichheit: »Was mich beglückt, sage, was war's doch, mein Herz?« mit einem Kunstgriff Vorteil zu ziehen, überhaupt dem Dichter den Meister zu zeigen, dadurch, daß er sich in Liebe für ihn aufopferte. Und Hebbel bewies seine Erkenntlichkeit, indem er sich der formenbildenden Hand seines Komponisten unterwarf, dem leicht beschwingten Schritt der Melodie folgte, der in Verbindung mit dem marschartig auf- und abgehenden Basse des Hauptsatzes dem Ganzen einen serenadenhaften Charakter aufdrückt, und auch der Dynamik, welche Schmerz und Glück in den geheimnisvollen Klängen des Mittelsatzes so schön ausgleicht, nicht widerstrebte.

Billroth meinte mit Beziehung auf 2 und 3, man sollte so etwas von einem im Garten versteckten Chor abends bei der Dämmerung hören, und möchte dem auf einen Goetheschen Text komponierten vierten Liede »Warum« den Preis zuerkannt wissen. Er rühmt mit Recht den wunderbaren Schwung der Komposition, die schöne melodische Antwort auf die rhythmisch und harmonisch etwas beunruhigende Frage. »Sie haben sonst von Liedern gehört«, sagt der Reisende in dem von Goethe bei Eröffnung des neuen Schauspielhauses zu Lauchstädt aufgeführten Vorspiel, »mit denen man den Mond herunterzieht: hier gilt es nur einen Teppich; aber es gilt für alles Hohe, das wir zu uns herunterziehen, um uns desto lebhafter von ihm hinaufziehen zu lassen.« Der Reisende (Gott Merkur) entfernt sich, und die »Damen« (Nymphe, [514] Phone und Pathos) singen »die wenigen Noten«, die ihnen Merkur zugesteckt, vom »Blättchen«: eben den von Brahms benutzten Text Auf dem Teppich erhebt sich die ganze Gesellschaft in die Luft, und unterdessen verwandelt sich die alte Hütte in den neuen prächtigen Saal. Ein ähnliches, noch größeres Wunder erwirkt das Soloquartett bei Brahms. Das Stück zerfällt in zwei Abschnitte. Im ersten wird die Frage gestellt: »Warum doch erschallen himmelwärts die Lieder?«, und seine rhapsodische Art entspricht dem Zweck einer vorbereitenden Introduktion, ähnlich wie der abreißende Anfang in Schuberts »An die Leier«; der zweite, das eigentliche Lied, gibt die Antwort, und ihre zusagende Weise befriedigt das in ihr laut werdende Sehnen mit sicherer Verheißung. Der schwere Viervierteltakt wird von einem »anmutig bewegten« Sechsachteltakt abgelöst, dessen vorwiegend homophoner (begleiteter) Gesang im Reigen der Musen und Grazien »die warmen, wonnigen Tage der seligen Götter« von den Sternen herabzuführen strebt. Mit dem sanften Walzer tritt auch die bis dahin durch sehr verwegene Ausweichungen der Harmonie vorenthaltene B-dur-Tonart in ihr vorgezeichnetes Recht. – Von den Quartetten op. 92 gilt in bezug auf ihre Verwendbarkeit dasselbe, was oben (II 33) von ihren Vorgängern op. 64 gesagt worden ist: sie sind ideale Hausmusik und dürfen nur unter besonders günstigen Voraussetzungen an die Öffentlichkeit appellieren, wenn sie nicht an ihrem inneren Reichtum Einbuße erleiden sollen.

Den Text des als op. 93 b erschienenen, »den Freunden in Krefeld« zugeeigneten Tafelliedes (Dank der Damen) hatte sich Brahms in einem Liederhefte aus den Siebzigerjahren zur Komposition vorgemerkt, ehe noch von den Krefelder Freunden und dem goldenen Jubiläum ihrer Konzertgesellschaft die Rede war, ja sogar noch vor der Bekanntschaft mit Onkel Rudolf v. Beckerath und dessen liebenswürdigem Neffen Rudolf v. d. Leyen. Auf demselben Blatte mit dem Eichendorffschen Gedicht steht dort hinter diesem das »Tambourliedchen«, das bereits im Jahre 1877 als op. 69 Nr. 5 erschienen ist.20 Es [515] ist anzunehmen, daß Brahms das erklärte Gelegenheitsgedicht sich für eine passende Gelegenheit abschrieb, und daß er es komponierte, als diese ihm in der Krefelder Jubelfeier gekommen schien. Der sechsstimmige Satz könnte eine scherzhafte Anspielung auf den »Parzengesang« sein, mit dessen Aufführungen der Krefelder Singverein im Januar 1883 das Herz des Meisters gewonnen hatte.21 An Direktor Grüters schrieb er aus Mürzzuschlag: »... Sagen will ich, daß ich mich auf Ihr Fest sehr freue, und mir alles recht ist. Die Liebeslieder sehr, und vom Triumphlied – der erste Satz! Dann wollte ich nur erwidern, daß allerdings mancherlei von mir erscheint, das wohl für Ihren lustigen Abend interessieren könnte. Außer Liedern kommen nämlich auch Soloquartette mit Klavier [die oben besprochenen], Chorlieder, zwei Gesänge für Alt, Bratsche und Klavier (was ich dem Hofpianisten R. v. d. Leyen ausdrücklich zu sagen bitte).22 – Nun kommt aber auch ein kleines Stück, zu dem ich auf den Titel setzen möchte daß es für Ihren lustigen Abend ist! Suchen Sie in den Gedichten von Eichendorff ein ›Tafellied‹ ›Gleichwie Echo frohen Liedern‹ usw. Das habe ich für sechsstimmigen Chor und Klavier komponiert und mir gedacht, daß es ganz hübsch wäre, wenn so noch ein Spruch auf die Damen: – die Geschichte gesungen würde; zum letzten Vers könnte alles mitsingen. – Wie nennt sich nun aber Ihr Verein? ›Der Konzertgesellschaft gewidmet‹ klingt sehr langweilig, Liedertafel heißt aber Ihr Männerchor? Also, wenn die Herrschaften die Widmung überhaupt genehmigen wollen – was schreibe ich auf den Titel?« Als ihm Grüters mit dem Dank des Vereins [516] die Ernennung zum Ehrenmitgliede übersendet, betont er noch einmal, das Gewidmete sei nichtsweniger als ein Fest-oder Jubelgesang, und als Widmung für das »liederlich-lustige« Tafellied schien ihm »Den Freunden in Krefeld zum 28. Januar 1885« die passendste. Dabei blieb es denn auch. Das eigentliche Festkonzert war, was Brahms wußte, für den 27. Januar anberaumt, für den 28. aber war, wie v. d. Leyen schreibt, »eine fröhliche, gemütliche Nachfeier« in Aussicht genommen. Sie wuchs sich dann ebenfalls zu einem Konzert mit gemischtem Programm aus, dem am 29. noch eine Kammermusiksoiree nachfolgte.

Seinem besonderen Zweck entsprach das, »Tafellied« vollkommen und wird auch einem allgemeineren immer entsprechen, wenn es gilt, in bunter Tafelrunde die Trias Wein, Weib und Gesang trinkend, liebend und singend zu feiern. Der edlen Kunst fällt dabei die menschenwürdige Aufgabe zu, die gesellige Unterhaltung nicht zum Bacchanal ausarten zu lassen. Die gemessene Haltung des Allegretto grazioso, die durch den von Bach entlehnten Baß:


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bestimmt wird, sorgt für ästhetisch-ethische Polizei; nach des Dichters Vorschrift: »Hoffentlich als schöne Geister treibt ihr's etwas ideal!« bei dem nach jeder Strophe wiederkehrenden zierlichen Ritornell:


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sieht man förmlich die Damen knicksen, die Herren artig sich verneigen und mit den Gläsern anstoßen. Erst vor der Schlußstrophe, welche die geteilten Chöre der Frauen- und Männerstimmen zu voller Sechsstimmigkeit vereint, kündigt ein plötzlicher Wechsel im Rhythmus mit drei Fanfaren an, daß es nun etwas freier hergehen werde, und am Schlusse stampfen die Bässe den [517] Boden: »Nunc est bibendum, nunc pede libero pulsanda tellus!« Aber, ehe man sich's versieht, ist der fröhliche Jubel verbraust.

Derselbe lustige 28. Januar, den Brahms durch seine Gegenwart verherrlichte,23 bot den Festgästen in Krefeld auch eine Kostprobe der in dem Briefe an Grüters erwähnten »Chorlieder« dar. Sie erschienen als op. 93a unter dem Titel »Lieder und Romanzen für vierstimmigen gemischten Chor« und machen ihrem Jahrgang Ehre, ob sie nun 1883 oder 1882 oder noch früher komponiert worden sind. Brahms' Notizkalender verlegt sie in den April 1883, was wohl für einige von ihnen relative und für die endgültige Redaktion aller absolute Geltung hat. Gerade im Frühling 1883 war Brahms viel unterwegs und komponierte außerdem noch fünf Lieder für eine Stimme, die inop. 92, 94 und 95 eingereiht wurden, angeblich auch im April. Die Romanze vom »bucklichten Fiedler«, mit der das Heft beginnt, erwähnt Brahms schon ein Jahr früher in einem Briefe an Billroth: »Mir fiel ein, daß ich Dir einmal in Italien das beiliegende rheinische Volkslied vom Fiedler versprach – Du kannst es leicht einmal singen lassen.« In Natürlichkeit der Empfindung, Frische des Tones und Einfachheit des Tonsatzes bleiben die neuen Lieder und Romanzen zwar zum Teil hinter den von op. 44 und den ohne Opuszahl 1864 erschienenen »Deutschen Volksliedern« zurück, übertreffen sie aber mit anderen Vorzügen. Wie dort von Hamburger Frauenchor und Wiener Singakademie mag Brahms hier von dem wohlgepflegten Chor der Stockhausenschen Gesangsschule und dem Spengelschen Cäcilienverein angeregt worden sein. Wenigstens trug er dafür Sorge, daß Spengel noch vor dem Erscheinen der Chorlieder einen Probeabzug von Simrock erhielt, und ließ sie sich, ehe er sie an den Verleger schickte, bei Stockhausen in Frankfurt vorsingen. Von den drei Romanzen sind »Das Mädchen« und »Der Falke« mit besonderer Sorgfalt und Feinheit bedacht. Bei dem »Bucklichten Fiedler« handelte es sich mehr um die glückliche [518] Erfindung einer strophisch verwendbaren Melodie und um gewisse charakteristische Äußerlichkeiten, die auch einem Geringeren als Brahms gelungen wären. Freilich spürt man gerade an der unfehlbaren Treffsicherheit, mit der sie hingeworfen werden, den berechnenden Blick und die geübte Hand des Meisters. Die Abweichungen vom anapästischen Gange der Strophe, die bedeutsame Vergrößerung der Notenwerte und die schrillen Quinten bei »Walpurgisnacht«, das Anstreichen der leeren Saiten und das eingeschobene Tanzliedchen auf dem tiefen Violin-G als Orgelpunkt, auch der Höcker (9. Kapitel) von dem die schönen Frauen den Fiedler zum Dank für sein Aufspielen befreien, sollen uns nicht entgehen; noch weniger aber der immer im zweiten Verse der Strophe eingeschobene Fünfvierteltakt, der mehr als eine Atempause bedeutet. – Das serbische »Mädchen« in den gehörigen Takt zu bringen, kostete ungewöhnliche Schwierigkeiten, die sich nicht so geschickt beseitigen ließen wie in dem »Mädchenliede« aus op. 85. In beiden Fällen mußte ein ungewöhnlicher Takt heran, um mit den zehnsilbigen Versen des serbischen Nationalmetrums, beziehungsweise den fünffüßigen Trochäen fertig zu werden, deren sich nach Goethes Vorgang Talvj und Kapper bedienten. Brahms wollte serbischer sein als alle Übersetzer und respektierte die in den Maßen der Originale immer nach der vierten Silbe eintretende Zäsur. Deshalb nahm er hier den Siebenvierteltakt, teilte ihn aber in zwei Takte zu drei und vier Vierteln ab, die das ganze Stück hindurch miteinander abwechseln. Nur ein kleines, dem Schlusse vorangestelltes Animato grazioso, das im Zweivierteltakt notiert ist, setzt sich aus vier Perioden zu 4+2 Takten zusammen. Aller metrischen Künste ungeachtet behält der Rhythmus etwas Einförmiges, und der Reiz des Fremdartigen, den der Vers:


9. Kapitel

anfangs ausübt, stumpft sich durch die vielen Wiederholungen ab. Daß die Melodie mit ihren Kadenzen näher oder entfernter an Mendelssohn (»Auf der Wanderschaft« und »Lieblingsplätzchen«) anklingt, würden wir kaum erwähnen, wenn es nicht von Interesse wäre, zu bemerken, daß gerade die Harmonie, wie auch sonst bei Brahms, die unbewußte Reminiszenz herbeilockt. Der Komponist mochte sich besonders für das Problem interessieren, das ihm das [519] fremde Volkslied stellte, denn er hat es in zwei Fassungen aufgeschrieben und beide nebeneinander erscheinen lassen. In op. 95 begegnet uns dasselbe »Mädchen« wieder, diesmal aber als Lied für eine Singstimme, sonst notengetreu mit ihrer Doppelgängerin übereinstimmend. Diese Fassung scheint uns die erste zu sein. Billroth bestätigt es, wenn er in dem oben angezogenen Briefe vom 6. August 1884 schreibt: »Das allerliebste Serbische Lied hatte ich schon früher einmal; es ist offenbar aus einem der früheren Liederhefte herausgefallen« (er meint aus op. 85) »und da es doch nicht in ein Heft mit den übrigen sehr ernsthaften Liedern paßt, so wird Dir wohl nichts übrigbleiben, als noch einige in diesem Dir so ganz eigentümlichen Genre hinzuzukomponieren, damit es ein Heft gibt.« Auch im Chorliede glaubte Brahms die Stimme des Mädchens nicht entbehren zu können, und wies einige ihr persönlich in den Mund gelegte Textstellen einem Sopransolo zu, wodurch der Romanze zu deren Vorteil dramatische Schlaglichter aufgesetzt wurden. Das Chorlied ist das wirkungsvollere.

Wenn »Der Falke« nicht ebenfalls einen Kapperschen Text hätte, wäre man versucht, ihn in die Zeit des Vossischen »Minneliedes« nach Hamburg zurückzudatieren. Die sehnsüchtig naive Melodie hat einen Anflug von Biedermeierei, der sie nicht übel kleidet. In der zweiten und dritten Strophe nimmt der Tenor die Triole, mit der die Melodie beginnt, als Auftakt voraus, als könne er es nicht erwarten, das am Tor der Veste sitzende, ihr weißes Angesicht waschende Mädchen zu begrüßen. Mit der vierten Strophe macht das Lied eine kleine polyphone Schwenkung, es ist, als blickte alles zu dem redenden Falken empor, um zu hören, was er dem Mädchen sagen wird, und es eindringlich zu wiederholen. Bei der fünften und letzten Strophe braucht der Chor den bevormundenden Vogel nicht mehr, er sieht die Gefahr, die von dem unverhüllten Nacken der Schönen droht, mit eigenen Augen und stimmt mit dem Falken überein. In einer kurzen Koda, die auf die vierte Strophe zurückgreift, klingt das reizende Lied leise aus – eine tönende Vision, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Die schmelzende Lyrik von, »O süßer Mai!« (Achim von Arnim) und »Fahr' wohl!« (Rückert) begnügt sich mit engeren Formen und [520] spricht vielleicht grade darum unmittelbarer an. Goethe macht auch hier den Schluß. Der Magus aus seinem Singspiel »Lida« steuert den Epilog zu den »Liedern und Romanzen« bei: »Feiger Gedanken bängliches Schwanken« usw. Brahms hat ihm den Titel »Beherzigung« gegeben. Besser hieße es »Zur Beherzigung!« Der Kanon, als welcher der Chor sich präsentiert, bringt den ursprünglichen Begriff des Terminus technicus zu Ehren. Die Form der Kreisfuge kongruiert mit der zur Richtschnur erhobenen Vorschrift des textlichen Inhalts, den sich niemand oft genug wiederholen und fest genug einprägen kann. Zwar bedingen die liedmäßigen Schlüsse der beiden als These und Antithese in Moll und Dur einander gegenüber geführten Strophen eine zeitweilige Unterbrechung der fortfließenden Melodie, aber die Kürze des »kräftig und lebhaft« vorgetragenen Stückes fordert zur Repetition auf.24

Op. 94–97 enthalten zwei Dutzend Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, die sich auf vier Hefte zu fünf, sieben, vier und sechs Nummern verteilen. Bei op. 94 wird ausdrücklich angemerkt: »für eine tiefe Stimme«, und in der Originalausgabe ist die Melodie des ersten Liedes »Mit vierzig Jahren« im Baßschlüssel notiert.25 Brahms konnte als humaner Autor, der lebt und den Verleger leben läßt, auch in diesem kritischen Falle die übliche Transposition nicht hindern, und die gleichzeitig erschienene Ausgabe »für hohe Stimme« rückt die Originaltonarten um eine Terz hinaus. Die Sopranlage ist damit noch nicht erreicht, obwohl Brahms seinen Hilfsarbeiter Robert Keller durch Simrock bedeuten ließ, man habe sich bei der Transposition wohl gewiß nicht um Frau Joachims Stimme zu bekümmern. Also [521] lag Brahms, wenn er sich mit dem Gedanken befreundete, die fünf Gesänge den Sängerinnen preiszugeben, unwillkürlich das dunkel gefärbte Organ seiner Freundin im Ohr. Aber auch ihr wäre es kaum eingefallen, das erklärte Männerlied ihrem Repertoire einzuverleiben. Stockhausen war der rechte Mann dafür, und er war es auch, der, wie I 277 erwähnt worden ist, das Lied zuerst in Frankfurt mit Brahms sang, wobei ihn die Rührung so stark überwältigte, daß er abbrechen mußte. Die Stelle, wo bei den Worten »Und eh' du's denkst, bist du im Port« auf Fis, als der den Schluß vorbereitenden Dominant von H-dur, die Begleitung in Triolen übergeht, ist denn auch von erschütternder Wirkung, obwohl die Feierklänge der gebrochenen Akkorde eher den Himmel auftun als ein Grab öffnen. Das Bewunderungswürdigste an diesem Meisterliede bleibt, daß es überhaupt komponiert werden konnte. Ähnlich wie Gottfried Kellers »Abendregen« widerstrebt der Rückerts »Haus- und Jahresliedern« entnommene Text der musikalischen Behandlung durch seine Gedankenhaftigkeit. Schon am Zahlwort der ersten Zeile »Mit vierzig Jahren ist der Berg erstiegen« stößt sich die Musik; die dritte stellt »der Kindheit stilles«, »der Jugend lautem Glück« entgegen, das erst eine halbe Meile weiter, in der vierten Zeile, nachkommt. Diese und andere Steine des Anstoßes sind von Brahms aus dem Wege geräumt worden, und die Abstraktion erscheint ganz in sinnliche Anschauung aufgelöst. Die harmonischen und rhythmischen Variationen des strophisch behandelten Liedes, das erst mit dem letzten Verse die Form zersprengt, wie der Falter die Puppe, sind reich an sinniger Charakteristik. Der Anapäst des einleitenden Motivs – die trügerische Vorhaltsnote (+)

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auf dem schweren Taktteil täuscht die HarmonieG-dur vor – pocht noch zweimal im Basse wieder an, beim dritten Male lenkt [522] der Schritt zur Tiefe: »Die Ebne zieht von selbst dich fort.« Vorher der »breite Bergesrücken« und die chromatischen Synkopen, die den Wanderer verwirren, bis ihn der ernste Wegzeiger schaurig zurechtweist: »Und hier nicht, drüben geht's hinab« – eine Parallelstelle zu »Mir ist, als ob ich längst gestorben bin« (»Feldeinsamkeit«) – das sind Feinheiten, die sich nur dem Blick des liebevoll Betrachtenden enthüllen.

Billroth meinte, die fünf Mannslieder seien eine Art »Herbst- oder Winterreise«; den Halmschen Gedichten hänge etwas melancholische Bitterkeit an, »rein poetisch schön« sei wohl nur »Steig auf, geliebter Schatten«, das ihm auch in der Komposition am schönsten schiene. In der Stimmung berührt sich »Kein Haus, keine Heimat«, der trotzig wilde Kehr aus des Reigens nahe mit Schuberts, »Mut«. Es ist das kürzeste Lied, das Brahms komponiert hat: denn es zählt zwanzig Takte und besteht eigentlich nur aus einer achttaktigen Melodie, die einmal unverändert wiederholt wird. Die barmherzige Muse hat den Fluch zum lyrischen Stoßseufzer umgeschaffen, mit dem sich das persönliche Empfinden des Dichters und Musikers Luft schafft. Ein Sturmlied ist auch das, Geibels »Spätherbstblättern« entnommene klagende »Mein Herz ist schwer« (Nr. 3). Aber der Wind, der durch die Nacht fährt und den Schlaflosen an schöne Jugendtage erinnert, rauscht nur leise von den fernen Wipfeln des Gartens herauf, als wäre er selbst zur Erinnerung geworden. Schattengleich erscheinen die Bilder vergangener Zeit und entschwinden den Händen, die sie erhaschen möchten – »wo ist das alles, alles hin« Der Wind, der es herangetragen, verweht es wieder, »mein Herz ist schwer, mein Auge wacht«. Das Lied schließt sich an Halms »Steig' auf, geliebter Schatten« (Nr. 2), an; es-moll, die Tonart Manfreds, wird angeschlagen. Nach den ersten Arpeggien, ehe noch die Singstimme zu Worte kommt, schwingt sich der Baß, als wisse er, was er zu leisten habe, mit der eigentümlichen Figur:


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zur Tiefe hinab und ruht nicht, bis die Verlorene heraufsteigt. Die Beschwörung ist gelungen, das Bild der Geliebten erscheint [523] in verklärtem Ges-dur. Aber die Hoffnung des Beschwörers bleibt unerfüllt. Was die Teuere im Leben konnte, wird ihr im Tode nimmermehr gelingen. Eine merkwürdige Folge des enharmonischen Wechsels, der die Tonart über Fis plötzlich nach d führt, hat es bereits entschieden, und die fruchtlos flehende Bitte: »O komm! Still' meine Tränen, gib meiner Seele Schwung, und Kraft den welken Sehnen und mach' mich wieder jung« verhallt schauerlich im düsteren Moll. – Brahms ist selten so subjektiv gewesen wie in diesen Liedern, welche neben ihrem künstlerischen Wert die biographische Bedeutung von Tagebuchblättern haben.

Da Billroth von fünf Liedern nach Texten von Halm, Geibel und Rückert spricht und die »Sapphische Ode« (Nr. 4) gar nicht erwähnt, so ist anzunehmen, daß diese für eine hinterher von op. 94 ausgeschlossene Nummer Ersatz leisten mußte, und zwar geschah dies nach dem 7. August 1887, an welchem sich Brahms für den Brief seines Korrespondenten bedankt, mit den Worten: »Dein freundliches Lob freut mich natürlich sehr. Aber merkwürdig, vorher hört man in Gedanken die Posaunen des Lobes gar nicht stark genug, und nachher möchte man immer widersprechen, auch dem bescheidensten, hübschesten mf.! Nun tröste Dich, für den Kritiker wie für das komponierende Karnickel kommt die Zeit ›da man ihm gerecht wird‹.«26 Da Billroth für jene fragliche Nummer kein fortissimo, ja nicht einmal »ein bescheidenes hübsches mezzoforte« übrig hatte, wird Brahms das Lied wohl für immer stillschweigend beiseite gelegt haben, so daß es schon Frau v. Herzogenberg nicht mehr zu Gesicht bekam, als ihr Brahms im Mai 1885 dieselben Lieder in Abschrift noch vor dem Druck schickte.27 Wir glauben zu wissen, welches Lied es war. Die im Briefwechsel erwähnte »Winternacht« gewiß nicht, da sie im Ton gar zu sehr aus der Stimmung des op. 94 herausgefallen wäre. Wohl aber das letzte der Halmschen »Hochzeitlieder«: »Was weht mir um die Schläfe«, das sich unter den zur Komposition vorgemerkten Gedichten der [524] Taschenanthologie findet. Nach »Steig' auf, geliebter Schatten« hätte es versöhnend gewirkt mit der schönen Schlußstrophe: »Ich fühle deine Nähe! Es ist dein Wunsch, dein Geist, der mich aus weiter Ferne an deinen Busen reißt«, ohne das ideale Verhältnis zu der früher Besungenen anzutasten, die, weil sie einen andern geheiratet, für den Dichter eine Tote ist. Vielleicht hat aber auch gerade die abschwächende Rückwirkung, die das zweite Lied auf das erste ausüben würde, zu seiner Elimination mitgeholfen, und so mag es aus mehreren Gründen weggeblieben sein.

Wie stark die Umgebung, die hier zu romanhaften Beziehungen antreibt, auf den Charakter eines Liedes abfärben kann, bemerken wir gerade an der »Sapphischen Ode«. Man würde sie gewiß mit andern Augen betrachten, wenn man wüßte, daß sie erst nachträglich in den Zyklus von op. 94 eingeschoben wurde. Und dann würde das Lied eine leichtere, erotisch tändelnde Auffassung nicht nur erlauben, sondern fordern. Erst im Zusammenhange mit den übrigen Gesängen erhält die Ode ein ernsteres Gesicht, und das reine griechische Profil, das sie uns zuwendet, trägt einen schmerzlichen Zug um den vollen Mund. Mit feinerem Verständnis für das Wesen der Metrik ist nie ein Gedicht in Töne gesetzt worden. Man bedauert fast, daß der Text, der seine modernen Reimgirlanden um den antiken Marmor schlingt, nicht klassisch genug gebildet wurde. Die Art, wie Brahms den Versus Adonius, die Schlußzeile der sapphischen Strophe (9. Kapitel), behandelt, den er in einer breiten Kadenz mit angehängtem, in exakten Notenwerten ausgeschriebenem Doppelschlage ausklingen läßt, ist vollkommen neu. (Wie wir wissen, pochte ihm sein Rhythmus von Jugend auf im Herzen.)28 Dadurch wird nicht nur die Symmetrie des in dreitaktigen Perioden sich fortbewegenden Satzes hergestellt, sondern auch dem Ausgange der Strophe zu einer musikalischen Pointe verholfen, welche dem Adonius nach den drei langen sapphischen Versen ein eigenes Gewicht gibt. Die Zäsur, die von den deutschen Nachahmern der Alten selten beachtet wird, hatte Brahms so sicher im Gefühl, daß [525] er sie, dem Text zum Trotze, wiederherstellte. Bei ihm gliedert sich der Vers genau so wie bei guten antiken Originalen:


9. Kapitel

Dafür nahm er sich die Freiheit, im zweiten und dritten Verse immer das achte, schwachbetonte Viertel in zwei Achtel aufzulösen:


9. Kapitel

die Bindung sorgt für die Integrität des logaödischen Ausganges. Dadurch wird einerseits eine eigentümliche Echowirkung erzielt, andererseits aber, und das ist wichtiger, der metrische Doppelsinn des zwischen trochäischen und jambischen, beziehungsweise daktylischen und anapästischen Maßen schwankenden Verses noch hervorgehoben. Bei der Wiederholung der Strophe dient dann eben jene Stelle zu kleinen, den Sinn des Textes fördernden und die Kraft seiner Metapher verstärkenden Varianten. Man braucht nur Beethovens »Adelaide« oder Kreutzers des Versbaues spottenden Chor, »Integer vitae« vergleichsweise heranzuziehen, um zu sehen, wie weit Brahms hier als Metriker beiden Vorgängern überlegen ist. Hätte der Dichter (Hans Schmidt) den Komponisten nicht genötigt, hinter jedem Hendekasyllabus einen Ruhepunkt eintreten zu lassen –– ein Zwang, von dem die Alten nicht einmal am Abschlusse der ganzen Strophe etwas wissen wollten – so könnten sämtliche sapphischen Oden des Horaz nach der Musik von Brahms gesungen werden, ein analoger Fall zur »Mainacht«. Auch die »Sapphische Ode« ist als Männerlied gedacht; aber sie wendet sich ebenso gern dem Geschlecht der lesbischen Dichterin zu und ist am besten bei einem sonoren Frauenalt aufgehoben. Gustav Walter, der sie am 9. Januar 1885 zum ersten Male in Wien sang, – und, als hätte er für die Geschlechtslosikeit aller Lyrik eintreten wollen, das »Mädchenlied« (!) aus op. 95 –[526] mußte das Stück sofort wiederholen.29 Ihre volle zündende und berauschende Wirkung aber übte die »Sapphische Ode« erst ein Jahr darauf aus, als Frau Rosa Paumgartner-Papier (am 23. Januar) das breite Melos des unsterblichen Liedes mit ihrem mächtigen Organ dahinströmen ließ. Die Wiener Künstlerin hat den Weltruhm angebahnt, den die Sapphische Ode heute besitzt, und sich damit die Dankbarkeit des Komponisten erworben, der ihr seine freundschaftliche Verehrung bis an sein Ende bewahrte.30

[527] Im Gegensatz zu op. 94 sind die sieben Lieder vonop. 95 vorwiegend Mädchenlieder. Nr. 2 »Bei dir sind meine Gedanken« und Nr. 7 »Schön war, das ich dir weihte« verhalten sich indifferent. Die Schmetterlingsnatur des heinesierenden Halmschen Gedichtes hat die Begleitung der ineinander spielenden Hände beeinflußt, man glaubt, die Falter ums Licht tanzen zu sehen. Die Melodie verstärkt den Eindruck durch Einschiebung eines Taktes (das »Flattern« der Gedanken wird zweimal gesagt) und hat es so eilig, daß sie Atempausen machen muß, welche die letzten beiden Verszeilen zerreißen. Der Pointe des Gedichts wird die Spitze abgebrochen, weil der Komponist der Strophe treu bleibt, die ihn bei der dritten Wiederholung der Melodie zwingt, das bedeutungslose »sich« zu betonen, während der Nachdruck auf »Flügel« gelegt werden sollte: »die Flügel sich verbrannt«. Das tiefere Lied (Nr. 7) ist auch das vollkommenere. Die sechs Zeilen des von Daumer aus dem »Türkischen« übertragenen Textes erhielten die Innigkeit ihres sanften Vorwurfs erst von Brahms. Von süßer Melodie getragen, spricht die Klage in einfacher, rührender Weise mit der Stimme der Liebe, und wenn sie sich zur Anklage erheben möchte, sinkt sie zurück und löst sich in Tränen auf. Sie müßte das härteste Herz erweichen, den hochmütigsten Kopf beugen, den starrsten Sinn ändern. Den übrigen Liedern – die einleitende Romanze »Stand das Mädchen« wurde schon oben besprochen – ist ein derb humoristischer, aufs Populäre gerichteter Zug eigen, der sie als »zum Vortrage in geselligem Kreise« besonders passend erscheinen läßt. Brahms will zeigen, daß der Künstler auch auf dem Brettl und in der Kneipe nichts von seiner vornehmen Natur zu verlieren braucht, daß er sich gemein machen kann, ohne selbst gemein zu werden. Das einzige Männerlied (»Beim Abschied«) hat seinen Zutritt zu der lustigen Weibergesellschaft wohl derselben Neigung zu verdanken. Das kurze [528] Vorspiel mit dem Halt auf der Dominant kündigt einen beliebten Gesangskomiker an. Er erscheint sogleich und beschwert sich darüber, daß »nur die Eine soll von ihm wandern, um die er ertragen all die andern!« Aber hier kommt die Klippe für das bunt bewimpelte Schiff: es ist nicht leicht genug gezimmert und schneidet zu tief in das seichte Wässerlein. Da trifft es »Der Jäger« weit besser mit seiner kurz angebundenen, herausfordernd kecken, köstlich frischen Weise, die das schelmische Trutzliedchen dem »Vergeblichen Ständchen« an die Seite rückt. Auch das mehrfach erwähnte »Mädchenlied« läßt an resolutem Wesen nichts zu wünschen übrig, nur seine zackige Melodie stellt allzu hohe Ansprüche an den Vortrag, und gerade der Vortrag soll hier des Redners Glück sein. »Angemessen frei vorzutragen« schreibt Brahms bei Nr. 5 besonders vor und deutet damit das degagierte Wesen der ganzen Serie an. In seiner Art hat der »Vorschnelle Schwur« den feinsten Schliff, und kein noch so geübtes Auge würde den böhmischen vom echten Diamanten unterscheiden, wenn das Lied kein Edelstein wäre. Köstlich ist, wie der dreifache Schwur in pathetischem Moll dreimal in heiterem Dur widerrufen wird, und die erhobenen Schwurfinger:


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mit der anmutigen Begleitung:


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den verschworenen Knaben zum Kusse heranwinken.Il ne faut jurer de rien.

Die Lieder op. 96 und 97 sind, wie schon erwähnt, mit der e-moll-Symphonie zusammen 1886, also zwei Jahre später als die eben besprochene Reihe, erschienen. Sie stechen im Ton auffallend von ihren jüngsten Vorgängern ab, nicht nur von den leichten Mädchen-, sondern auch von den schweren Männerliedern. Wohl teilen sie mit den einen den tiefen Ernst, mit den andern die liebliche Anmut, aber beide Eigenschaften sind nicht, wie dort, getrennt, sondern durchdringen einander. Der durchkomponierte [529] Kunstgesang überwiegt; das sich der naiven Volksweise nähernde Strophenlied kommt in zwei Musterexemplaren vor, dem niederrheinischen »Dort in den Weiden« und dem schwäbischen »Da unten im Tale«. Diesen beiden Volksliedern gebricht es an jener Unmittelbarkeit des Gefühls, mit der uns der große Sohn des Volkes sonst so rein zu erquicken weiß. Sie sind nicht vom Ursprung weggeschöpft, sondern abgeleitet, allerdings von eigenen Quellen: Jugendeindrücke, die schon anderweitig hervordrängten. Wir erinnern an das Finale des Horntrios op. 40, an die ländlernden Lieder ausop. 19 und 48 und an »Therese« aus op. 86. Mit der alten populären Weise, die Brahms ins erste Heft seiner »Deutschen Volkslieder« aufgenommen hat, kann sich die neue »Trennung« nicht messen.31 Ein drittes Strophenlied ist die Ballade »Entführung«; zum heißen Abenteuer der kalten Winternacht gehört ein gegen den stählernen Panzer pochendes unbändiges Herz; beiden entspricht die wildfröhliche, ungeschlachte, und doch galant gekräuselte Mollmelodie, die nach einem mächtigen [530] Tenorbariton verlangt, um einzuschlagen. Brahms konnte den tollen Liebeshandel nicht kurz genug abtun. Frau v. Herzogenberg nötigte ihm den (um einen Takt) verlängerten Schluß ab, der die verwegene Pointe eindringlicher herausbringt.

Das Heft op. 97 vermittelt uns außerdem die Bekanntschaft mit einem Dichter, der Brahms ebenfalls unbekannt war, ehe er ihn durch Frau Maria Fellinger kennen lernte. Als Verfasser des Textes zu der »Nachtigall«, einem der wundervollsten Lieder, mit denen Brahms das Heft eröffnet, wird »C. Reinhold« genannt. Christian Reinhold ist ein Pseudonym für den namhaften Tübinger Rechtslehrer Köstlin – nicht zu verwechseln mit Karl Reinhold Köstlin, der den Abschnitt in Vischers Ästhetik über Musik redigierte – den Gatten der Komponistin Josefine Lang, die Mendelssohn bei seinem zweimonatlichen Münchener Aufenthalt vom Jahre 1831 täglich eine Stunde im Kontrapunkt unterrichtete.32 Von so guten Eltern stammte die Frau des Dr. Richard Fellinger ab, der bei dem Brande in Mürzzuschlag das Manuskript der e-moll-Symphonie in Sicherheit brachte, die Bildnerin der dort aufgestellten Brahms-Büste und eines idealen Brahms-Medaillons, die Sammlerin und Herausgeberin einer für das persönliche Andenken an den Brahms der letzten Periode unentbehrlichen Bildermappe, und, was mehr als all dies bedeutet, die kluge, zartfühlende und verständnisvolle Freundin des Meisters, die in Gemeinschaft mit ihrem Gatten alles Erdenkliche tat, um es dem einsam Alternden und dessen Freunden in ihrem Hause wohl werden zu lassen.

Die Brahms-Köstlinsche »Nachtigall« hat ihre eigene interessante Geschichte. Das ebenfalls einen Köstlinschen Text behandelnde Lied »Hier, wo sich die Straßen scheiden« (op. 106, Nr. 5) war anfangs auf die Melodie gesetzt, welche Brahms dann der[531] »Nachtigall« unterlegte. Wer also aus den vier einleitenden Takten in Verbindung mit dem folgenden Gesange den Schlag der Nachtigall heraushören wollte, würde auf dem (falschen) Wege sein, den, »Ein Wanderer« gegangen ist. Ein eklatantes Beispiel mehr für die Unbestimmtheit des musikalischen Ausdrucks! Brahms, der beide Lieder zusammen am 6. Mai 1885 an Herzogenbergs (im Manuskript) schickte, schrieb dazu: »Ich brauche nicht zu sagen, daß sie so quasi als Zwillinge auf die Welt kamen, und ich nachträglich – allerlei daran versuche. Auch die ›Nachtigall‹ habe ich anders pfeifen lassen –– aber es war nischt und ist nischt!« Frau v. Herzogenberg lehnte den »Wanderer« ab und entschied sich für die »Nachtigall«. Das Herbsüße der Melodie, meinte sie, sei so recht, wie's die Nachtigallen selber machen, die das Übermäßige und Verminderte zu lieben schienen, »sehnsüchtige Vogerln, wie sie sind«, und sehr reizend wirke dann das schlichte und zarte F-dur als Gegensatz. Und wie warm und schön steigere sich der Ausdruck bis zu den »verklungenen Tönen«, und wie glücklich wirke die Rückkehr auf das Anfangsmotiv zu den Worten: »In deinem Lied ein leiser Widerhall.« Dieses Lied, so lieblich wie das erste Grün im Walde, erscheine ihr ganz »gesunden« und eingefallen, während der »Wanderer«, dem der liebe Gegensatz fehle, ihn daneben etwas nordisch grau erscheine usw. Nun war merkwürdigerweise aber gerade das Umgekehrte der Fall. Der »Wanderer« war gefunden und zuerst da.33 Die »Nachtigall« mag zugleich mit ihm Brahms durch den Sinn gegangen sein, schlüpfte aber erst hinterdrein aus dem Ei. Als Frau v. Herzogenberg dann die Berchtesgadener Amseln belauscht, notiert sie:

9. Kapitel


[532] (bei Brahms lautet der Anfang des Liedes:


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und bekundet damit, daß sie den Ursprung des fraglichen Motivs nun entdeckt habe: die Amsel war's und nicht die Nachtigall! – In demselben Heft lüftet Brahms noch einem Köstlinschen Vogel die tönenden Schwingen: »Ein Vögelein fliegt über den Rhein« (»Auf dem Schiffe«). Ihr in der Begleitung aufwirbelnder Flatterflug verrät zuverlässig die Lerche, und die sehnsüchtig nachstrebende Gesangsmelodie besingt das jedem eingeborene Gefühl, von dem Faust zu Wagner auf dem Osterspaziergange spricht.

Aus op. 96 hätte ein Heine-Heft werden sollen. Brahms trug sich mit der Absicht, dem großen Lyriker eine solche Aufmerksamkeit zu erweisen. Aber das für die zweite Stelle bestimmt gewesene »Wie der Mond sich leuchtend dränget« fand weder vor den schönen Augen Elisabet v. Herzogenbergs Gnade, noch hielt es seiner eigenen Kritik stand und fiel in den Papierkorb. An seine Stelle trat Daumers »Wir wandelten«. Die literarische Einheit des Heftes war zerstört, aber die höhere künstlerische wurde geschaffen. Jenes von verschwiegener, unaussprechlicher Seligkeit durchdrungene, wunderbar keusch und zart gehaltene Lied, das mit der süß beklommenen Gewalt eines persönlichen Erlebnisses wirkt und den Zuhörer ganz gefangen nimmt, steht an Treue und Klarheit des Ausdruckes hinter den drei anderen Meisterliedern nicht zurück, sondern verbrüdert sich mit ihnen so innig, als hätte es immer nach dem schwermütigen Todestraum des Heineschen »Der Tod, das ist die kühle Nacht« die Auferstehungsfeier der Liebe eingeläutet. »In meinem Haupte die Gedanken, sie läuteten wie goldne Glöckchen.« Man hört das goldene Gebimmel schon von der in As gestimmten Campanella der die Hauptmelodie vorausnehmenden orgelpunktartigen Des-dur-Introduktion. Und dann sieht man förmlich das stille Paar den weißen Kiesweg zwischen den roten Nelken des Gartens herauskommen. Jedes geht seinen eigenen Gedanken nach und darf sicher [533] sein, daß es auch die des andern sind, obwohl keines ein Wort spricht. Und doch gäbe jedes viel, um zu erfahren, was sein holder Widerpart »in jenem Fall« gedacht. Die Musik läßt den schelmischen Gott aus dem Kanzleistil der gereimten Prosa leise hervorkichern. Da drängt sich das übervolle Herz des Liebenden auf die Lippen: »Nur eines sag' ich.« Er kann nicht anders und wiederholt: »Eines sag' ich.« Die Harmonie ist plötzlich von As nach E-dur gerückt, um das Unerhörte der neu geschaffenen Situation anzukündigen. Was wird er sagen und verraten? – Nichts: »So schön war alles, was ich dachte, so himmlisch heiter war es all, in meinem Haupte die Gedanken« usw. Jeder empfängliche Zuhörer stimmt dem Schlusse des Liedes zu: »So wundersüß, so wunderlieblich ist in der Welt kein anderer Hall.«

Wie gut, zu wissen, daß der Sonnenstrahl, der belebend und befreiend durch das düstere Gewölk der Gesänge von op. 96 bricht, erst nachträglich Einlaß gefunden hat! Und wie gut auch, daß die Kluft zwischen »Wir wandelten« und »Meerfahrt« durch »Es schauen die Blumen« überbrückt worden ist! Die Texte von Nr. 3 und 4 gehören zum »Lyrischen Intermezzo« der Heineschen Tragödien (Nr. 3 der Nachlese), derselben Quelle, der Schumann seine »Dichterliebe« verdankt. Wäre der Komponist nicht bekannt, so könnte dash-moll-Lied mit seiner unruhig hastenden Begleitung, welche immer vier Sechzehnteltriolen über den acht Sechzehnteln des Basses im Zweivierteltakt hinrollen läßt, mit seiner sich nutzlos abflatternden Kantilene und dem wehmütigen Ausklang einer Nachlese zur »Dichterliebe« zugeschrieben werden. Ganz Brahms dagegen sind »Meerfahrt« und »Der Tod, das ist die kühle Nacht«. Im ersten wird die Szene von der Nordsee in den Golf von Neapel vielleicht noch südlicher, nach Taormina oder in die Bucht des Empedokles verlegt. Wer einmal echte alte sizilianische Volkslieder kennen gelernt hat, in denen die Musik der Araber noch unbewußt lebendig ist, wird aus der, »Meerfahrt« die maurische Serenade heraushören, die sich mit dem sizilianischen Gondelliede vermählte. Mandoline und Schnabelflöte scheinen das merkwürdige Präludium anzustimmen, das, ein Konzert für sich, seine weithingreifende, unregelmäßig periodisierte Melodie dem Gesange voraussendet. In ihren fremdartigen [534] Intervallen und ihrer stolzen selbstbewußten Haltung rollt heißes, nur durch ritterliche Gesinnung und Übung in den Künsten gebändigtes Blut. Das im Rudertakte schaukelnde Akkompagnement führt den Kahn heran, der das unglückliche Paar ins weite Meer hinwegtragen soll. Die Serenade weitet sich zum dramatischen Erlebnis aus, sobald der Sänger seine Romanze beginnt. Wir glauben die seltsame, todestraurige, von tiefer Sehnsucht durchglühte Melodie in unvordenklichen Zeiten schon vernommen zu haben. Auch sie bindet sich an keine Regel, sondern befolgt das in ihr ruhende Gesetz. Ungemein beredt geht sie mit leidenschaftlichem Eifer über die Reimzäsuren der ungeraden Verse hinweg, so daß sie gleich immer zweimal drei Takte zusammenkoppelt, am Ende der graden Verse den Reim dehnt und in die Höhe zieht:


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und die letzte Zeile der Strophe als Abgesang wiederholt. Das sind unverkennbar Italianismen. Mit dem Schema wäre der strophische Charakter der Serenade festgestellt; aber das Vorspiel, das, zum Ritornell verkürzt, zurückkehrt, beeinflußt den Gang der Gesangsmelodie fortan so stark, daß sich ein besonderer Mittelsatz herausbildet. Immer lebhafter treibt das eingedrungene Hauptmotiv zur Entscheidung, die durch das vom dritten Takte der Einleitung her bekannte dissonierende Fis erreicht wird. Das Klavier stößt den fatalen Ton wie einen Signalruf hervor, und die Singstimme übernimmt ihn: »Trostlos auf weitem, weitem Meer«.

Wird in »Meerfahrt« die Trostlosigkeit der Stimmung durch den chevaleresken Zug der maurisch-sizilianischen Serenade künstlerisch abgedämpft, so verbreitet in »Der Tod, das ist die kühle Nacht« die mit der zweiten Strophe eintretende Transfiguration des Gedichts einen so bezaubernden Glanz der Verklärung, daß das düstere Grauen, das uns bei »Es dunkelt schon, mich schläfert« befiel, nicht weiter fortwirkt; es ist mit den zur Tiefe absteigenden chromatischen Bässen verschwunden und gibt der Träumerei des seligen Schläfers Raum, über dessen Grabe [535] sich der Baum mit der Nachtigall erhebt – »sie singt von lauter Liebe«.

Ein Lied, das vorletzte in der Reihe von op. 91–97, haben wir uns bis zuletzt aufgespart. Mit ihm sollte eigentlich ein anderes Heft und ein anderes Kapitel beginnen unter dem Titel »Neue Liebe, neues Leben«. Als Billroth die Lieder kennen lernte, die Brahms später zu op. 96 zusammentat, darunter das Daumersche »Wir wandelten«, schrieb er dem Freunde: »Du hast mir eine große Freude durch die Zusendung Deiner neuen Lieder gemacht. Sind sie wirklich neu, so hast Du einen so kräftigen, gesunden Johannistrieb, wie es Deiner unverwüstlichen, gesunden Natur entspricht. Mir scheint, es steckt etwas dahinter. Um so besser; man wählt solche Texte und macht solche Lieder nicht, um eben wieder einmal aus Gewohnheit zu komponieren. Desto herrlicher für Dich! und für uns!« ... Das war am 23. Februar 1885.

Im Juni desselben Jahres fiel Brahms bei Hermine Spies mit einem Notenmanuskript, dem ein Brief seiner Hand beilag, ins Haus. Darin stand, er wolle der Sängerin »einen kleinen Witz anbieten«. Inliegendes sei ein neues Produkt von – bloß zweien ihrer Verehrer. Klaus Groth habe ihm gestern geschrieben, wie er sich auf ihr Kommen zum Kieler Musikfest freue, und ein paar Gedichte von sich beigelegt. Nun solle sie sich gleich entschließen, das frisch Komponierte in das Festprogramm einzuschmuggeln, damit der angenehm Überraschte zu seinem Vergnügen höre und lese: »›Komm' bald‹, von Klaus Groth und J. Brahms.« Er glaubte nämlich, oder tat so, als ob er es glaubte, Groths »Komm bald« sei an die in Kiel erwartete Sängerin gerichtet, und es lag ihm daran, »in diesem Fall« hinter der Huldigung des Nebenbuhlers nicht zurückzubleiben, um so mehr, da er ohnehin, weit weg vom Feste, in Mürzzuschlag an der Vollendung seiner Vierten Symphonie arbeitete. Wenn es darauf ankäme, könne auch er den Improvisator machen, so gut wie der beste Gelegenheitsdichter! – Zwar wurde die hübsche Absicht vereitelt, und der »kleine Witz« verfehlte insofern seinen Zweck, als erstens das Komitee des Kieler Musikfestes nicht das geringste Verständnis für die Herzensangelegenheiten zweier würdiger [536] Männer und Landsleute bekundete, und zweitens das Gedicht von Groth gar nicht an Hermine gerichtet war, wie der gewissenhafte Poet, der es der Sängerin schon früher schickte, in der Überschrift »An A......« zu erkennen gab.34 Immerhin aber konnte der Komponist, falls ihm daran lag, mit dem Erfolge seiner zarten Aufmerksamkeit zufrieden sein. Wenn Hermine Spies, deren er sich bei dem Kölner Musikfeste von 1883 so freundlich annahm, als sie von Ferdinand Hiller eines entschuldbaren Versehens wegen in der Hauptprobe abgekanzelt wurde, nicht schon ein faible für den Hausgott ihrer Wiesbadener Freunde gehabt hätte, so würde sie von der ungewöhnlichen Huldigung des berühmten Meisters, durch die sie allerdings in Verlegenheit gesetzt wurde, gewiß auf das tiefste und freudigste bewegt worden sein. Kam das schöne Lied mit seinem so warm zum Herzen redenden Wunsche, der zuletzt persönlich in die rührende Apostrophe ausbricht:


»Und von den Lieben,

Die mir getreu,

Und mir geblieben,

Wärst du dabei!«


doch beinah einer Liebeserklärung gleich! Ein alter Knabe hatte für den andern geworben, und beide waren noch rüstige, viel umschwärmte Männer. Deutlicher als in der dreimaligen Wiederholung der letzten Zeile verrät sich dem empfänglichen musikalischen Sinn das wahre Gefühl des Tondichters in dem kurzen Zwischenspiel, das den Wunsch unterstützt, indem es auf die Worte »und mir geblieben« zurückgreift:


9. Kapitel

[537] Das Persönliche wird durch das Forte noch besonders unterstrichen. Worüber der Dichter mit dem Tonfall seines Verses hinwegging, das wird vom Musiker mit der stark angeschlagenen höchsten Note des Liedes hervorgehoben. Wer lesen kann, lese: »Wärst du mir geblieben!«35

Sein Lied ging Brahms lange nach. Ehe wir, bei der Violinsonate in A-dur, es noch einmal heranziehen, sei hier an die 27. Variation im Finale der e-moll-Symphonie erinnert. Die Holzbläserstelle:


9. Kapitel

wäre als vermittelndes Bindeglied zwischen dem Lied und dem ersten Satze der Sonate zu betrachten.

Ob die schöne Sängerin ihren verehrten Tondichter verstand? Sie drückte sich lange um die Antwort herum und dankte dann sehr diplomatisch für die »höchst erfreuende, wertvolle Sendung«. Wenn Brahms vor den Titel seines neuesten Liedes nur ein »Ich« setzen und im Herbste seine Bergwohnung in Wiesbaden wieder beziehen wolle, so werde sie ihm seine sämtlichen Lieder auswendig vorsingen. Von dem geplanten Herbst in Wiesbaden war dann bei Brahms so wenig mehr die Rede wie von Italien; aber als er im Oktober die Symphonie in Meiningen probierte, meldete er sich doch bei Beckeraths in Wiesbaden für Mittwoch, 28. Oktober, zum Besuch an, da er am 3. November in Frankfurt Konzert hatte. Ein Wiedersehen scheint damals nicht stattgefunden zu haben, wenigstens steht bei Minna [538] Spies nichts davon geschrieben. Vielleicht war Hermine abwesend. Sollte sie ihm aus dem Wege gegangen sein? A. Steiner behauptet im Neujahrsblatt der Züricher Musikgesellschaft von 1898, sie sei »damals« schon mit ihrem späteren Gatten so gut wie verlobt gewesen. Dem nicht näher präzisierten Damals werden die drei Thuner Sommer eingeräumt. An der Hand der Brahmsschen und der von Hermine Spies an Frau Fellinger gerichteten Briefe im Zusammenhange mit eigenen Beobachtungen müssen wir widersprechen. Ohne schweres Leid und bittere Enttäuschung, ohne laute Klagen und stille Tränen wird es auf beiden Seiten nicht abgegangen sein. Nach dem ersten Wiener Aufenthalt (1886) schreibt Hermine an Frau Fellinger: »Ihre Zeilen an Minna habe ich auch gelesen, das darf ich doch, nicht wahr? Sie ist ja mein alter ego, und haben immer einen Gedanken. Aber Ihr Brief an sie hat mir doch zu denken gegeben. Säße ich jetzt neben Ihnen, so würde ich wahrscheinlich sehr verlegen und sehr rot, denn was Sie da von Brahms in bezug auf mich schreiben, das ist ein Irrtum, liebes Frauchen. Nein, das ist ganz gewiß ein Irrtum! Er mag mich ja ganz gut leiden, denn ich singe seine Lieder nicht schlechter als andere und bin ja auch ein mit fünf gesunden Sinnen ausgestattetes Geschöpf. Aber – daß er mir gehört, das muß ich von mir abwälzen. Nein, die Verantwortung nehme ich gar nicht auf mich. Ich wüßte mich ja gar nicht dabei zu benehmen ... Kennen Sie ein Lied von ihm – Frühlingslied von Geibel ..., o wie es darin singt und klingt und jubelt, das heißt in der Begleitung, und die Singstimme darüber klagt und weint. Das ist der ganze traurige, wehmütige Brahms. Und ich kann das Lied noch lange nicht vorsingen, weil mir die Tränen die Stimme verschnüren.« Und sie bringt auch gleich den Beweis dafür bei, daß er nicht viel nach ihr frage. Sie hat von Billroth erfahren, daß Brahms ein Lied im Manuskript hat: »Wenn du ein Herze hast« und hat ihn schriftlich darum gebeten. Er aber schrieb ihr mit einem Weihnachtsgruß aus Budapest (1886): »Wenn Sie mich um die neuesten Ungarischen gebeten hätten, hätte ich Ihnen von hier aus schön dienen können; langweilige deutsche Lieder gibt es hier nicht!« »Ob nun das Lied noch kommt?« fragt die [539] Schreiberin beklommen und schließt: »Aber er hat ja kein Herze.« Da Brahms das Lied mit dem Herzfehler nicht veröffentlichte, mag er es bald wieder weggeworfen haben; es müßte denn das Flemmingsche Lied »An die Stolze« (op. 107, Nr. 1) gemeint sein, in welchem die Zeile vorkommt: »Ob du ein Herze hast«. Jedenfalls wünschte er es nicht in den Händen einer wenn auch noch so sehr verehrten Sängerin. Auch ist keineswegs ausgeschlossen, daß er an den zweifelhaften Empfang von »Komm bald« dachte und nicht so bald mit Ähnlichem wiederkommen wollte. Daß ein anderer ältere und begründetere Rechte auf ihr Herz hätte, steht nirgends geschrieben, auch von ihren Gefühlen schweigt sie. Wohl behauptet sie, daß die Adressatin sich in einem Irrtum darüber befinde, was Brahms und seine Gefühle ihr gegenüber betrifft; aber sie wiederholt es nur darum so eifrig und mit so apodiktischer Gewißheit, weil sie hofft und wünscht, Frau Fellinger möge das Richtige getroffen haben. Ein Jahr darauf versteigt sie sich zu der Behauptung: »Weißt Du, uns zweien« (Frau Fellinger und ihr) »gehört er so recht eigentlich – wie lieb ist er wieder gewesen!«36 Jetzt befand sich das arme liebe Mädchen wirklich in dem Irrtum, den sie der Freundin vorgehalten hatte.

Brahms brauchte wohl auch einige Zeit, um mit sich und seinen Entschlüssen ins reine zu kommen. Er spielte nicht nur mit Heiratsgedanken, sondern ging ernsthaft mit ihnen um und erwog das Für und Wider öfter, als für den Frieden seiner Seele gut war, im lieben Gemüte. Der mit dem Dichter Widmann verschwägerte und befreundete Professor Ferdinand Vetter in Bern, der Brahms 1886 kennen lernte, berichtet, Brahms habe, als im Sommer desselben Jahres eine junge Deutsche mit ihrem Neuvermählten neben ihm bei Tische saß, davon gesprochen, wie schrecklich der Augenblick sein müsse, da der neue Ehemann, mit der Frau heimkommend, zum erstenmal den Hausschlüssel, das [540] Symbol des freien Mannes, in die eigene Haustür stecke, hinter der er nun mit einem fremden Menschen auf immer zusammen getan sei. »Der nicht mehr junge Ehemann«, fährt Vetter fort, »neckte ihn im Verlauf der Tafel: Brahms sehe ihn immer an, als wolle er sagen: ›So, der hat's also auch riskiert!‹ Worauf Brahms mit fast ehrfurchtsvollem Blick auf die schöne Frau erwiderte: ›Ich muß sagen, ich hätt's nicht riskiert!‹ Gleich darauf aber fragte er launig, wann man eigentlich das 25jährige Junggesellenjubiläum feiere? Er selbst setze sich diesen Termin aufs 55. Jahr.«

Daß Brahms schwankte, wird jeder begreifen, der das mit verführerischen Gaben des Körpers und Geistes gesegnete liebenswürdige, natürliche und heitere Geschöpf inner- und außerhalb ihrer künstlerischen Sphäre gekannt hat. Aber auch seine schwer errungene Resignation wird man verstehen, in Erwägung seines Charakters, seines Alters und seiner Lebensführung. Zu dem Verfasser sagte er »damals«, in jener kritischen Zeit: »Ich komme jetzt in die Jahre, wo der Mensch leicht eine Dummheit macht, und muß mich nun doppelt in acht nehmen.«37

Fußnoten

[541] 1 Siehe S. 309 und 325 ff.


2 Hans v. Bülow, Briefe, herausgegeben von Marie v. Bülow. VI 310. Für die Erlaubnis, ungedrucktes Material zu verwerten, ist der Verfasser der verehrten Herausgeberin zu ganz besonderem Danke verpflichtet.


3 Nach dem Referat des Verfassers, das am 2. Dezember 1884 in der »Presse« erschien.


4 Brahms und Bülow waren bei einem Wiener Musikfreunde zum Souper eingeladen, der häufig Künstler bei sich sah. In seinem Musiksalon hingen jene idealisierten Koryphäen der Tonkunst in großen Bildern, wie sie im Bruckmannschen Verlage erschienen sind, von Bach bis auf den gerade gegenwärtigen Musiker, dem die Ehre erwiesen wurde, bei lebendigem Leibe unter die Unsterblichen versetzt zu werden. Das letzte Porträt der Galerie wurde nämlich, je nach Bedarf, immer gewechselt, und Brahms, der Liszt dort zuletzt hängen gesehen hatte, machte Bülow lachend auf diesen Trick aufmerksam, und daß nun er (Brahms) den Platz Liszts einnehme. Bülow stellte sich vor das Bild hin, setzte das Pincenez auf und sagte, auf eine bekannte ungarische Anekdote und sein Verhältnis zu Liszt zugleich anspielend, mit lauter Stimme: »Armer Vater, wie hast Du Dir verändert!«


5 Vgl. S. 324.


6 Bülow, der mich schon 1881 in Wien mit seinem Besuch beehrt hatte, schrieb mir die später häufig (falsch) zitierten Worte ins Album:

»Mit Bach, Beethoven und Brahms*) denkt für das eventuelle letzte Viertel seines Lebens reichlich auszukommen

Hans v. Bülow, Zukunftsmusiker a. D. Wien, 23. Februar 1881.

*) Caetera – ›farcimentum‹.


P. S. Im übrigen erhebt derselbe auf die sogenannte Apostatenglorie so wenig Anspruch, daß er nach wie vor jede – der Mühe der Abwehr lohnende – ungerechte Verkleinerung seiner vormaligen worship Berlioz–Liszt–Wagner nach besten Kräften bekämpfen wird.«


7 Vgl. auch II 404 Anm.


8 Über Bülows Vortrag des Brahmsschen d-moll-Konzerts berichtete ich damals a.a.O.: »Aus dem finsteren, in furchtbarer Entschlossenheit auftretenden Allegro dieses op. 15 brechen die Klagen um eine freudlose und arme Jugend verräterisch hervor, aber zugleich kündet sich in ihm der selbstgewisse, unbeugsame Trotz an, der es wagt, dem Schicksal die Stirn zu bieten – jener heldenhafte prometheische Zug, der nur den Großen eignet. Herr v. Bülow behandelte den Satz etwas kühl und spitz. Die Sturm-und Drangperiode seines Erwählten liegt ihm gegenwärtig wohl ebenso fern wie die überschwängliche Wehmut eines liebeseligen Beethovenschen Adagios« ...


9 Denselben Tadel sprach der Verfasser in seinen Referaten der »Presse« vom Dezember 1884 aus. Dort heißt es a.a.O. im Anschluß an das frühere Zitat (S. 489): »Der Dirigent zeigte hier eine Art von wissenschaftlicher Grausamkeit; er begegnete dem zarten Gebilde (eines Beethovenschen Adagios) nicht als Liebhaber, sondern als Anatom, und anstatt den schönen Tonkörper mit dem Taktstocke zu küssen, sezierte er ihn. Auch vergißt Bülow zuweilen, daß sein vielköpfiges Instrument gewisse Vortragsnuancen nicht so wiedergeben kann, wie sein ihm zu unbedingtem Gehorsam verpflichtetes Klavier. Zwischen dem Dirigenten und der Partitur arbeiten hundert Hände, die in kritischen Augenblicken weniger ausrichten als zwei. Ein beliebter dynamischer Effekt Beethovens ist dascrescendo, auf welches anstatt des erwarteten forte ein ablenkendes piano folgt. Bei der Phrasierung einer derartig bezeichneten Melodie hebt der Klavierspieler nur die Hände; er läßt den Gesang nur Atem holen, ehe er mit dem piano einsetzt. Im Orchester gibt dasselbe Manöver der Kantilene einen empfindlichen Ruck; sie läuft Gefahr, in zwei Teile auseinanderzufahren, und aus dem leichten Atemzuge wird eine schwere Pause.«


10 Bülow, Briefe VI 390.


11 Siehe S. 311.


12 »Neue freie Presse« vom 25. Dezember 1909.


13 Strauß ließ sich vom Schein täuschen. Hinter Brahms' scheinbarer Gleichgültigkeit verbarg sich immer ein gewichtiges Motiv, das entweder seiner Bescheidenheit oder seinem Ärger entsprang, wohl auch der Scham, von Dingen zu reden, die mit seinen innersten Gefühlen verbunden waren. Er wurde grob, wo ihm böser Wille, Anmaßung oder Unverstand begegnete, sonst schwieg er lieber. Einem Bülow vor dritten Personen ins Handwerk zu pfuschen, wäre ihm niemals eingefallen. Was er ihm unter vier Augen sagte, entzieht sich unserer Kenntnis, soweit wir nicht von Brahms selbst oder von dessen intimen Freunden darüber unterrichtet worden sind. – In demselben Aufsatze, der die interessanten kritischen Äußerungen Brahms' über die Straußsche f-moll-Symphonie überliefert, befindet sich noch eine charakteristische Anekdote. Strauß war mit seinem Freunde Alexander Ritter, der unter Bülow im Meininger Orchester mitspielte, von München nach Berlin zu einer Doppelaufführung von Beethovens Neunter Symphonie gereist. Bei ihrer Antrittsvisite fanden sie Brahms in Bülows Zimmer vor, den Bülow ihnen neuerdings mit den Worten vorstellte: »Meine Herren, Sie kommen zur Neunten? Hier finden Sie den Komponisten der Zehnten.« »Das wütende Gesicht«, erzählt Strauß weiter, das der fanatische Lisztianer Ritter dazu schnitt, sehe ich heute noch. Auch Brahms war etwas verlegen. Hat er doch später einmal die Bemerkung gemacht: »Die Lobsprüche, die mir Hans v. Bülow spendet, beißen wie Salz in den Augen, so daß mir die Tränen herauslaufen.«


14 Diese und die folgenden gesperrt gedruckten Stellen der Bülowschen Berichte sind vom Verfasser unterstrichen.


15 a.a.O.


16 Ein Beispiel für viele. Das Quartett Rosé führte in Wien zum ersten Male Brahms' Klarinettquintett op. 115 auf. F. Steiner, Mitglied einer Privatkapelle, blies die Klarinette. Vierzehn Tage darauf kam das Quartett Joachim mit Mühlfeld nach Wien und wiederholte das außerordentlich beifällig aufgenommene Werk. Hinterher gab es an einer aufgeschlagenen Riesentafel im »Roten Igel« ein festliches Gelage. Dazu fand sich auch ein Mann ein, den niemand kannte. Es war der Klarinettbläser des Quartetts Rosé. Brahms hatte ihn zu Konzert und Souper eingeladen und saß bei Tische den ganzen Abend zwischen seinen beiden Klarinettisten, zur großen Enttäuschung der vielen hübschen Frauen und anderen Ehrengäste.


17 Auf einer Karte, die den Verfasser zu einem solchen Spaziergange einlud, heißt es: »Die Invaliden und Frauen kommen mit der Bahn nach.«


18 Vgl. III 138 und Brahms, Briefwechsel I 28 f., 39 f.


19 S. 199.


20 In nächster Nachbarschaft des »Tafelliedes« befindet sich ebendort Goethes vom 10. April 1820 datierte Übersetzung von »Veni Creator Spiritus«, mit »Appell ans Genie« in Klammer überschrieben. Brahms hat die Komposition des herrlichen Gedichtes auch in Angriff genommen, wie daraus hervorgeht, daß er den Text mit Blaustift in drei Gruppen zu je zwei Strophen einteilte und die letzte Strophe sich als besonderen choralmäßigen Schluß einer Motette dachte. Denn dem »Von Ewigkeit zu Ewigkeit« ist ein »Amen« nachgesetzt, und weiter unten stehen die Noten zu dem Choral »Vom Himmel hoch«, nebst einem (wieder ausgestrichenen) Notabene: »Bei Luther steht der 4. Vers vor dem 3., fehlt der letzte.« Wie schade, daß Brahms uns diesen Pfingsthymnus vorenthalten hat!


21 Siehe S. 109.


22 Die (unterstrichene) Bratsche ist ein Wink für Onkel Alwin, der »Hofpianist« soll an das à quatre mains in der Villa Carlotta erinnern.


23 v. d. Leyen a.a.O. – Vgl. auch Theodor Müller-Reuter: »Fünfzig Jahre Musikleben in Krefeld, ein Beitrag zur Musikgeschichte des Niederrheines.« 1902.


24 In Wien haben diese Chorlieder lange auf den Singverein warten müssen, ehe sie ins Publikum drangen. Perger führte drei von ihnen im Gesellschaftskonzert am 17. Januar 1897 auf, und dem schon schwer erkrankten Meister, der im Saale anwesend war, wurde nach dem herzbewegenden »Fahr' wohl« vom Publikum eine spontane Ovation dargebracht.


25 Die neueren Auflagen der Originalausgabe haben den Baßschlüssel ohne weiteres kassiert, offenbar aus Besorgnis, er könnte zarte Lippen zurückschrecken. Nicht der Baßschlüssel, sondern die »Vierzig Jahre« sind es, was den Sängerinnen den Mund verschließt; dem Verdacht, die kritische Altersgrenze erreicht zu haben, mag sich selbst eine Zwanzigjährige nicht aussetzen. Man restituiere also ruhig wieder den Baßschlüssel und die h-moll-Tonart!


26 Mandyczewski, der im Sommer 1884 mehrere Male nach Mürzzuschlag kam, hat die »Sapphische Ode« bei Brahms auf dem Klavier liegen sehen.


27 a.a.O. II 65.


28 I 150.


29 Vgl. II 133.


30 Über meine Kritik der »Sapphischen Ode«, die im Feuilleton der »Presse« die Vorzüge des neuen Liedes im obigen Sinne beleuchtete, sagte mir Brahms kein Wort, nach seiner Art, weder sein Gefallen noch Mißfallen über Anzeigen seiner Werke auszusprechen, noch sonst irgendwelchen Einfluß auf den Berichterstatter auszuüben. Hanslick beschwerte sich bei mir darüber, daß ihm Brahms niemals für ein Lob gedankt habe. Einige Zeit darauf aber schickte Brahms die Originalhandschriften der beiden, von Walter gesungenen Lieder an meine Frau; auf die Rückseite des »Mädchenliedes« schrieb er »Für Julie«, auf die der »Sapphischen Ode«: »Von Julie«. Die doppelte Aufmerksamkeit, die er uns erwies, sollte aus der rätselhaften Form der Zueignung für ihn sprechen. In der Bescheidenheit seines großen und stolzen Herzens wollte er auch den Schein der Einbildung vermeiden, als habe er mir mit dem Manuskript seines Liedes ein wertvolles Gegengeschenk für mein gedrucktes Lob machen wollen. Darum richtete er es so ein, daß ich das herrliche Blatt nicht von dem unterzeichneten Johannes Brahms, sondern »von Julie« erhielt, wie auf dem beigegebenen Faksimile zu ersehen ist, und bestimmte das Manuskript des »Mädchenliedes« für meine Frau, wohl wissend, daß er ihr mit der Widmung eines von ihm komponierten Heyseschen Gedichtes eine besondere Freude bereitete, da Heyse ein älterer Freund unseres Hauses war als er. Auch die Brahmsschen Geschenke hatten ihre geheimen Kontrapunkte. – Daß er eher fremde als eigene Autographe hergab, wenn er nicht direkt darum gebeten wurde, geschah auch nur aus bescheidener Zurückhaltung. Ich schrieb einmal einen begeisterten Aufsatz über Beethovensche Quartette. Bei seinem nächsten Besuche zeigte er mir eine Notenrolle: »Da habe ich Ihnen was mitgebracht.« Ich entfaltete das Papier – ein banales Klavierstück irgendeines modischen Salonkomponisten kam zum Vorschein. Ärgerlich entgegnete ich ihm: »Das können Sie sich selber behalten. Solchen Dr ... kriege ich massenhaft von Autoren und Verlegern zugeschickt.« Meine Wut ergötzte ihn. »So schlecht ist die Komposition doch nicht, daß Sie gleich grob werden müssen. Ich versichere Sie, dem X. fällt manchmal auch etwas ganz Vernünftiges ein.« – »Also meinetwegen, weil es von Ihnen kommt, will ich es nehmen«, sagte ich und warf die Rolle auf den Flügel. – »Sehen Sie das Ding doch wenigstens einmal an!« – Jetzt merkte ich, daß irgendein Spaß dahinter steckte. In dem aufgeschlagenen Hefte, das nur zur Emballage diente, lag ein Blatt von Beethoven, auf welchem neben vielen Skizzen die ersten Takte des Adagios aus dem cis-moll-Quartett ins reine geschrieben waren. »Na, was habe ich gesagt? Das ist doch kein so übler Einfall«, lachte er glückselig in seinen Bart hinein. Das war zugleich die seine Revanche für einige grobe Mystifikationen, die ich mir mit ihm erlaubt hatte.


31 Frau Maria Fellinger teilte dem Verfasser folgendes mit: »Hanslick forderte mich einst auf, ihm und Brahms ›ein schwäbisches Volkslied‹ zu singen, was ich aber nie getan haben würde, obwohl ich ja eine geborene Schwäbin bin. Ich redete mich damit aus, ich wüßte gar keines! Da lachte Brahms: ›Na, wenn Sie keins wissen, dann will ich Ihnen eins geben‹, und als wir einige Zeit später bei ihm waren, nahm er aus seinem Stehpult das auf zierliches blaues Notenpapier geschriebene ›Drunten im Tale‹ heraus, auf das er oben drüber geschrieben hatte: ›Schwäbisches Volkslied – für eine liebe Schwäbin von Joh. Br.‹ und sagte dabei: ›Und das Volkslied wollen Sie gar nicht haben?‹ (weil wir, ohne daran zu denken, daß die Abschrift mir gehören sollte, schon unter der Tür waren, um wegzugehn).« – In seiner Abhandlung »Brahms' Volkslieder«, die er 1902 im »Jahrbuch der Musikbibliothek Peters« publizierte, weist Max Friedländer auf die Ähnlichkeit hin, welche die Begleitung der »Trennung« mit der des von Brahms bearbeiteten Volksliedes habe, und versichert, daß, während der Grundton beider Brahmsschen Bearbeitungen trüb und sentimental sei, das Lied im Volke eher schelmisch gesungen werde. So habe er es in St. Johann im Pongau, und zwar in dialogischer Form gehört. – Ganz recht. Es kommt eben nur auf den Vortrag an, daß das Mädchen den Burschen, den »falschen Biedermann«, wie ihn Friedländer nennt, mit seiner eigenen Melodie gehörig abtrumpft und heimschickt, indem sie die von ihm geheuchelte Trauer parodiert. Eine weniger »trübe und sentimentale« oder gar durchkomponierte Vertonung des Liedes würde dem Vortragenden den Spaß verdorben haben.


32 Mendelssohn gedenkt des sechzehnjährigen, zarten, kleinen, blassen Mädchens in seinem an die Familie gerichteten »Münchener Bürgerbrief« auf das liebevollste: »Die hat nun die Gabe, Lieder zu komponieren und zu singen, wie ich nie etwas gehört habe; es ist die vollkommenste musikalische Freude, die mir bis jetzt wohl zuteil geworden ist« ... Vgl. auch Leopold Schmidts Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Briefen an Richard und Maria Fellinger, Briefwechsel VII 237 ff.


33 Brahms weihte mich in die Geburtsmysterien der Lieder ein, als er sie mir am Klavier zeigte. Mir gefielen beide, allerdings die »Nachtigall« am besten. Walter sang sie am 8. Januar 1886 in seinem Wiener Liederabende aus dem Manuskript, und ich berichtete: »In der ›Nachtigall‹ erkannten wir den ›Wanderer‹ vom vorigen Jahre wieder; die Nachtigall bekam ein wärmeres Nest, und der Wanderer mußte sich auf die Socken machen. Über seine Weiterreise verlautet nichts Gewisses. Schade um ihn!«


34 Vgl. »Hermine Spies, ein Gedenkbuch für ihre Freunde, von ihrer Schwester. Dritte verbesserte und durch eine Reihe ungedruckter Briefe von Johannes Brahms und Klaus Groth vermehrte Auflage. 1905.«


35 Brahms zeigte mir das Lied in der ersten Freude seines Herzens, ehe er im Mai wieder nach Mürzzuschlag ging, schwärmte mir auch von der Sängerin vor und betonte besonders, daß er das Lied fast unmittelbar, nachdem Groth es ihm zum Geburtstage geschickt, komponiert habe. »So schnell und so a tempo ist noch nichts gemacht worden!« rief er vergnügt aus.


36 Diese Briefstelle soll sich, wie man uns mitteilt, auf einen Scherz beziehen. Einige mit Brahms befreundete Damen stritten, wie die Jünger Christi, um den Vorrang im Himmelreiche seiner Gunst, und jede behauptete, daß er ihr »gehöre«. An der ernsten Nutzanwendung, die Hermine Spies von dem scherzhaften Wettstreit machte, ändert das nichts. Sie glaubte, daß er ihr »so recht eigentlich gehöre«.


37 Siehe I 331.


Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915.
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