Zweiter Abschnitt.

Die Knabenjahre.

1767–1770.

»Liebe, Liebe, die Amme der Schönheit!«


»Nach dem lieben Gott kommt gleich der Papa«, das war der Wahlspruch des Knaben Wolfgang. Wenn er abends zu Bett ging, mußte ihn der Vater erst auf einen Stuhl stellen und mit ihm zweistimmig eine Melodie singen, die von ihm selbst auf einen sinnlosen Text, der wie italienisch klang, Oragnia fiaga ta fa ersonnen worden war, worauf er dem Vater »das Nasenspitzel küßte und ihm versprach, wenn er alt wäre, ihn in einer Kapsel, wo ein Glas vor, vor aller Luft bewahren zu wollen und ihn immer bei sich und in Ehren zu halten«. Dann legte er sich zufrieden ins Bett.

Wie so ganz anders erging es dem edlen Ritter Gluck, dem Sohne des Volkes, dem rauhen Försterkinde, der dem strengen Vater bei harter Kälte barfuß in den Wald folgte, ihm das Jagdgerät zu tragen. Wie hat seine Musik sich mit der Kräftigkeit der Natur auch das Rauhe und Ungefüge bewahrt, von dem eine mildere Gesittung den jungen Mozart schon in der Kinderzeit befreite. Wie wenig erfuhr der heitere Haydn, das Kind des Handwerkers, der bei seinem Lehrer mehr Prügel als zu essen bekam und noch als Jüngling sein täglich Brot mit Singen mühsam erwerben mußte, von diesem Sonnenschein der zärtlichen Liebe, die in das Gemüt die Harmonie bringt und den Geist schon früh zum Frieden des Schönen verklärt! Wie noch weniger der große Beethoven, dessen Vater, ein kleiner Musikus, jener im vorigen Jahrhundert häufigen unordentlichen Lebensweise seines[27] Standes gänzlich verfallen war und so seiner Familie mit den Nahrungsquellen den Frieden raubte, in dem allein der Kinder Wesen zum rechten gedeiht! Störrig von Natur, ward Beethoven durch den Mangel an Liebe, den er in der Kinderzeit zu tragen gehabt, nur noch abweisender gegen die Menschen, und erst spät erfuhr er in herbsten beiden, welche Quelle des Lebens und des Glücks gerade der Liebe entströmt.

Gluck und Beethoven wurden vom Geschick zur mühevollen und kampfreichen Umgestaltung der Kunst ihrer Zeit erzogen, indes Mozart, der Genius der Schönheit, in stiller Harmonie und Liebenswürdigkeit den ewigen Sternen gleich eine ruhige Bahn wandelte. Von ihm, der in der Jugend die Fülle der Liebe in sich aufgesogen hatte, entflossen auch Ströme der Liebenswürdigkeit, der Harmonie und der Schönheit. Wie ein jugendlicher Held siegte er über seine Zeit, nicht heftig anstreitend, sondern durch den Zauber seiner Erscheinung, die mit leichtgeflügeltem Götterschritt auf den Höhen der Menschheit wandelte und strahlenaugig, mit herzgewinnendem Lächeln, in unsagbarer Anmut Hoch und Niedrig, Groß und Gering, Gut und Böse mit den duften den Blüten seines Schaffens beglückte. –

Wolfgang war jetzt, zehn Jahr alt, ein ausgewachsener Knabe. Aber er war auch bereits ein vollkommener Kompositeur: schon jener »Londoner« Bach hatte gesagt, es sterbe mancher Kapellmeister, ohne das zu wissen, was der Knabe wisse. Als sie nun aufs neue nach Wien kamen, – den Vater hielt es wiederum nicht lange in Salzburg, zumal im Herbst 1767 in Wien die Vermählung der Erzherzogin Maria Josepha mit dem Könige von Neapel stattfinden sollte – da waren bereits der Neid und die Eifersucht der Zunftgenossen rege, und man bereitete von allen Seiten Hindernisse, damit Wolfgang sich nicht öffentlich produzieren könne. In der Tat, er leistete bereits damals schon mehr, als weitaus die meisten der lebenden Komponisten vermochten, und fand auch bald Gelegenheit, dies öffentlich zu zeigen. Kaiser[28] Joseph II., der leider bald zu einem Sparsystem übergegangen war, das besonders die Künstler drückte, weil sie darauf angewiesen waren, von der Gunst der Großen zu leben, gewährte zwar dem jungen Künstler, dessen Fortschritte er abermals höchlich bewunderte, und seiner Schwester Nannerl, die unterdes zur lieblichsten Jungfrau herangeblüht war und der die kaiserlichen Leutseligkeiten »gar oft die Röte ins Gesicht trieben«, nicht die früheren reichlichen Geschenke, wohl aber gab er Wolfgang den erfreulichen Auftrag, eine Oper zu schreiben. Es war »La finta semplice« (»Die verstellte Einfalt«), eine komische Oper in drei Akten.

Wolfgang machte sich sofort an die Arbeit. Da aber der Theaterdirektor Affligio mit Hergabe des Textbuches bis in das Frühjahr hinein zögerte, so wurde die Oper erst nach Ostern fertig. Man dachte nun an das Einstudieren. Allein jetzt zeigte sich der Brotneid der übrigen Musiker, die auf alle mögliche Weise versuchten die Aufführung zu verhindern. Bald hieß es, es sei eine Schmach, einen zehnjährigen Knaben an derselben Stelle zu sehen, wo bewährte Meister wie Hasse und Gluck zu stehen gewohnt seien, – denn der Kaiser hatte ausdrücklich gewünscht, daß Wolfgang die Direktion der Oper selbst übernehme, – dann wieder, die Musik sei nicht von ihm, sondern vom Vater, welcher Verleumdung dieser die Spitze dadurch abbrach, daß er seinen Sohn in Gegenwart von Künstlern sofort eine Arie oder eine Sonate aus dem Stegreif komponieren ließ, – und zuletzt steckte man sich hinter die Sänger, sie würden mit solcher Knabenarbeit keine Ehre einlegen, und diese ließen sich denn auch zum Widerstande verführen, obgleich Wolfgang ihnen allen die Musik so recht »auf den Leib zugeschnitten« hatte. Ob nun gleich der mildgesinnte Komponist Hasse, der jedes aufstrebende Talent willig anerkannte und jedes redliche Bemühen gern unterstützte, geradezu erklärte, Wolfgangs Oper sei besser als die von zwanzig lebenden Komponisten, so kam es doch durch das Widerstreben des Theaterdirektors, der auf den wiederholten Befehl des Kaisers und das[29] stete Drängen des Vaters endlich erklärte, er werde die Oper zwar geben, aber auch dafür sorgen, daß sie gehörig ausgepfiffen werde, am Ende dahin, daß der Vater dieselbe ganz zurückzog, und es mit einer Beschwerdeschrift beim Kaiser versuchte, die aber keinen Erfolg hatte. Denn das Theater war damals nicht kaiserlich, sondern gehörte dem Direktor Affligio, und dieser war ein Abenteurer und schlechter Mensch, der später wegen Fälschung ins Zuchthaus kam.

So war der ganze Sommer ohne irgend welchen Erfolg geblieben, und Wolfgang lernte damals zuerst die widrigen Mächte kennen, mit denen er fortan oft genug zu ringen haben sollte. Jetzt freilich empfand er noch das Widrige der Intrigen und des Neides weniger als der Vater, und dieser, von Natur und durch den Gang seines Lebens darauf eingerichtet, mit solchen Dingen umzugehen, ließ sich nicht irre machen, sondern verfolgte trotz Aerger und Unmut, die ihn allerdings zuweilen befielen, mit männlicher Konsequenz die Bahnen, auf denen er seines Sohnes Glück zu finden gewiß war. »So muß man sich in der Welt durchraufen«, schreibt er; »hat der Mensch kein Talent, so ist er unglücklich genug; hat er Talent, so verfolgt ihn der Neid nach dem Maße seiner Geschicklichkeit. Allein mit Geduld und Standhaftigkeit muß man die Leute überzeugen, daß die Widersacher boshafte Lügner, Verläumder und neidische Creaturen sind, die über ihren Sieg in die Faust lachen würden, wenn man sich erschrecken oder ermüden ließe.«

Sein nächstes Ziel war Italien, denn dieses Land war damals das Eldorado der Musiker. Wer dort an einer größeren Bühne einmal mit einer Oper einen durchschlagenden Erfolg errungen hatte, dem standen die sämtlichen Theater Europas offen, und Ruhm wie glänzender Erwerb waren ihm gewiß. Damals kannte man kaum andere Opern und wenig andere Sänger als italienische, und virtuosen wie Komponisten aus allen Ländern mußten nach Italien gehen und womöglich bis auf ihren Namen hinab italianisiert werden, ehe ein Opernpublikum sie günstig aufnahm. So hatte es[30] schon Händel gemacht, so machten es jetzt Hasse, Naumann und andere. Und wer sich der welschen Weise bequemte und den eigenen Sinn nur innerhalb dieser bestimmten Manier walten ließ, dem stand selbst das hesperische Publikum gern zur Anerkennung bereit. Ja, es pries Händel in seinem Rinaldo, vergötterte den caro Sassone Hasse mit seinen hundert Opern nach italienischem Zuschnitt und hatte Gefallen an Glucks früheren Werken, die ihm in Rom sogar den Orden vom goldenen Sporn eintrugen. Und keiner der Maestri, die in Neapel, Rom oder Mailand Lorbeeren geerntet hatten, blieb ohne eine erfolgreiche Laufbahn. Glucks Reform der Oper hatte damals erst leise begonnen.

So war auch »La finta semplice« eine opera buffa ganz nach italienischem Zuschnitt; der damals berühmte Dichter Coltellini hatte das Textbuch verfaßt, und Italiener waren die Sänger, welche die Oper ausführen sollten. Man kann also denken, wie sehr der Vater darauf sinnen mußte, Wolfgangs Oper wirklich zur Aufführung zu bringen. Des Erfolges war er gewiß; er kannte die Schreibart seines Sohnes, der zu der vollkommenen Sicherheit in der Beherrschung der gewohnten Formen noch die ganze Lebhaftigkeit seines jugendlichen Empfindens hinzubrachte und so schon Hasses Beifall erweckt hatte. Um so empfindlicher mußte ihm die Täuschung sein, als er endlich von der Unmöglichkeit der Aufführung sich überzeugt hatte. Zudem entzog man ihm für die Zeit der Abwesenheit von Salzburg dort sein ganzes Dienstgehalt, und da nun die Familie so lange ohne Einkommen leben mußte, und Wolfgang und Nannerl obendrein noch einmal schwer erkrankt waren, – sie hatten im Winter die Blattern gehabt, Wolfgang war vierzehn Tage blind dagelegen, – so wird man begreifen, daß der Vater nicht gerne länger an einem Orte verweilen mochte, wo für seine Zwecke zunächst nichts weiter zu gewinnen war. Gleichwohl schrieb Wolfgang in Wien erst noch eine kleine deutsche Operette, »Bastien und Bastienne«, deren Text der Hoftrompeter Schachtner nach Rousseaus beliebtem[31] » Devin du village « bearbeitet hatte, die jedoch ebenfalls nicht zur öffentlichen Aufführung gelangte, sondern bloß in dem Gartenhause eines Herrn Mesmer gesungen wurde.1 Sodann entstand eine Messe zur Einweihung der neuen Waisenhauskirche in Wien, die er am 7. Dezember 1768 eigenhändig mit einem großen Taktstocke dirigierte.

Im höchsten Grade zu bewundern ist es und zeugt sowohl von der außerordentlichen Begabung, wie der vortrefflichen musikalischen Anleitung, daß der zwölfjährige Knabe mit dem sichersten Takte die verschiedenartige Kompositionsweise dieser Werke, besonders der Opern, so ganz auseinander zu halten wußte. Denn nichts ist verschiedener von einander als die italienische Oper, die durchaus aus dem Rezitativ, also vom dramatischen Gesänge ausgegangen war, und das deutsche Singspiel, bei dem das Lied die Grundlage bildete. In beiden Genren traf Wolfgang den richtigen Ton mit der größten Sicherheit, und während in der »Finta semplice« durchaus die Form der Arie mit ihrer Wiederholung der einzelnen Teile herrscht, ist in »Bastien und Ba stienne« das deutsche Volkslied selbst bis in die Bildung der Melodie hinein zu verfolgen. So eignete sich Mozart schon früh die Eigentümlichkeit in der theatralischen Musik der beiden Nationen an, deren Verschiedenartigkeit er zuerst zu einer höheren Einheit aufheben sollte. Dieser Prozeß jedoch vollzog sich erst weit später. Zunächst noch wandelte der Knabe teils aus echt künstlerischem Instinkt, teils infolge der Anleitung seines Vaters den Weg der feinen Formen, die ihm die italienische Musik entgegentrug.

Denn jetzt sollte er diese Weise der Kunst bald an ihrer Quelle kennen lernen, er sollte die reinere Luft atmen und den zaubervollen Himmel sehen, die ruhig schönen Linien der Berge,[32] die herrliche Rundung der Bäume, die charaktervolle Gestaltung der Pflanzen und den edlen Wuchs des Volkes, das den italischen Boden bewohnt. Bald sollte die ewige Roma unter seinen Füßen wogen, ein bewegtes Meer von Hügeln und Kuppeln, von Kirchen und Palästen, das den Ernst und die Hoheit der weiten Welt auf den Zügen ihres tausendjährigen Antlitzes trägt und doch wiederum die Anmut und den freien Geist des menschlichen Wesens dem erstaunten Auge auf S. Pietro in montorio entgegenlächelt. Zwar war der Knabe, dem diese Welt, die so viel Tausenden eine reiche Quelle der geistigen Nahrung ward, so viel Tausenden ein ersehntes Ziel bleibt, leuchtend entgegentrat, erst dreizehn Jahre alt. Aber sein Auge war offen für die Herrlichkeiten der Erde, sein Auge war das eines Genius, das diese Herrlichkeit in sich aufsaugt und von ihr seine Seele sich erfüllen läßt, auch ohne daß ihm ein Denken, ein Bewußtsein dieses Eindrucks kommt. Mozart reflektierte nie über dergleichen Eindrücke. Auch in den späteren Jahren sind seine Bemerkungen darüber sehr sparsam, und deshalb darf uns bei den Briefen an sein liebes Nannerl nicht beirren, daß sie so wenig von der Schönheit Italiens berichten. Die Eindrücke waren gleichwohl vorhanden und wurden zugleich sehr bedeutsam für seine künstlerische Entwicklung.

Gegen Ende des Jahres 1768 kehrten die Reisenden von Wien nach Salzburg zurück. Wolfgang ward dort in Anerkennung seiner hervorragenden Leistungen bald zum Konzertmeister ernannt. Die Studien gingen während des nächsten Jahres ihren gewiesenen Weg. Der Vater versäumte nicht den angehenden Komponisten nach allen Seiten hin die Mittel der Musik sich aneignen zu lassen. Wolfgang komponierte im Jahre 1769 noch zwei Messen. Dann aber ging es über die Berge in das Land der milderen Lüfte und schöneren Formen.

In Innsbruck wie in Roveredo erregte Wolfgangs Spiel auf Klavier und Orgel das grenzenlose Erstaunen, von dem zu vernehmen man schon ge wohnt ist. Auch in Verona mußten sich[33] Vater und Sohn mit Gewalt zu der Orgel durchdrängen so groß war der Zulauf der neugierigen Menge. In Mantua spielte Wolferl im Konzert der philharmonischen Gesellschaft, und in Mailand, wo sie vor Ende Januar 1770 eintrafen, erregten seine eminenten Leistungen, besonders seine Kompositionen ein solches Aufsehen, daß der nächste Zweck der Reise, die scrittura (Komposition) der Oper zu erhalten, in der Tat schon hier erreicht wurde: für die nächste stagione (Saison) – denn damals wurden für jeden Winter neue Opern verlangt – wurde Wolfgang engagiert. Das Honorar ward auf hundert Dukaten und freie Wohnung während des Aufenthalts in Mailand bestimmt. Das Textbuch sollte ihnen bald nachgesandt werden; denn die Reisenden gingen sogleich weiter. Erst in den Weihnachtstagen sollte die Oper gegeben werden, und so konnte Wolfgang mit Ruhe erst genau erkunden, was denn der Geschmack und Ton dieses Landes sei.

In Bologna ward der kleine Komponist von dem großen Musikgelehrten Padre Martini wegen seiner Arbeiten sehr belobt und lernte dort zugleich den größten Sänger seines Jahrhunderts, den Kastraten Farinelli kennen, dessen Stimme und hohe Kunst ihm einen bedeutenden Eindruck machten. Im übrigen kritisierte er alle künstlerischen Leistungen scharf, wie man aus den launigen Berichten ersieht, die er sowohl über die Oper wie über die Sänger an seine Schwester macht. Sein Urteil ist selbständig, und doch spricht aus allem der natürlich richtige Sinn des unbefangenen Knaben, der klug ist ohne Altklugheit und frei ohne vorlautes Wesen.2

In Florenz wurden die Reisenden wegen ihrer österreichischen Empfehlungen besonders vom Hofe sehr gut aufgenommen. In Rom schrieb Mozart aus dem Gedächtnis das berühmte Miserere von Allegri nieder, das dort am Charmittwoch in der Sixtinischen Kapelle von den päpstlichen Sängern vorgetragen wird.[34] »Du weißt«, schreibt der Vater, »daß das hiesige berühmte Miserere so hoch geachtet ist, daß den Musicis der Kapelle unter der Excommunication verboten ist, eine Stimme davon aus der Kapelle wegzutragen, zu kopieren oder jemandem zu geben. Allein wir haben es schon. Wolfgang hat es aufgeschrieben und wir würden es in diesem Briefe nach Salzburg geschickt haben, wenn nicht unsere Gegenwart es zu machen nothwendig wäre. Die Art der Production muß mehr dabei thun als die Composition selbst. Wir indessen wollen es auch nicht in andere Hände lassen, dieses Geheimniß, ut non incurramus mediate vel immediate in censuram ecclesiae.« Sie nahmen an allen Festlichkeiten dieser Zeit möglichst Anteil, und Wolfgangs Phantasie mag durch den edlen Pomp der römischen Kirchen noch mehr künstlerisch erregt worden sein als im Dome von Salzburg. Er berichtet seiner Schwester von den »prächtigen Functiones«. Dann ging es nach Neapel. Auch dort war der Erfolg des Knaben glänzend; wie denn schon von Rom aus der Vater schrieb, je tiefer sie in Italien hineinkämen, desto lebhafter werde die Bewunderung. Als Wolfgang im Conservatorio alla pietà spielte, wähnten die Neapolitaner, die Fertigkeit seiner linken Hand beruhe auf einem Ringe, in dem ein Zauber stecke. Als er ihn vom Finger abzog, wollte die Verwunderung wie der Beifall kein Ende nehmen.

Nach Rom zurückgekehrt sahen sie die herrliche Girandola, eine Feuergarbe von vieltausend Raketen auf einmal, die überraschende Erleuchtung der Peterskirche, die Darreichung des neapolitanischen Tributs und andere Festlichkeiten, und Wolfgang erhielt vom Papste das Ordenskreuz zum goldenen Sporn, worauf er denn nicht anders als Signor cavaliere angeredet wurde. Doch hat man niemals weiter von einem »Ritter Mozart« gehört. Der Vater schrieb: »Du kannst Dir einbilden, wie ich lache, wenn ich allezeit zu ihmSignor cavaliere sagen höre.« Doch wußte er die kleinen Vorteile, die dergleichen auf Reisen bringt, wohl zu nutzen, wie er es denn auch wohl zufrieden war, daß man Wolfgang für[35] einen deutschen Kavalier oder gar einen Prinzen und ihn für dessen Hofmeister nahm. Sie hielten auf gute Kleidung, und Wolfgang hat diese Neigung zeitlebens nicht verloren, er liebte es, stets hübsch gekleidet zu gehen. Die äußere Stellung dagegen, die ein Orden gab und die im vorigen Jahrhundert von größerer Bedeutung war als heute, hatte wenig Interesse für ihn. Mehr galt ihm die Ernennung zum Mitglieds der Accademia filarmonica in Bologna, die am 3. August 1770 erfolgte. Im Oktober kehrten sie nach Mailand zurück.3

So hatte unser junger Maestro das Land der Schönheit durchwandert, und ob ihm gleich zunächst nur die Musik und vor allem die Komposition seiner Oper am Herzen lag, so ist doch nicht zu bezweifeln, daß die vielen Eindrücke von Natur und Kunst, die sein empfänglicher Sinn in diesem Lande gewann, einen merkbaren Einfluß auf die Klärung seines Innern, besonders auf die Schärfung des innern Auges gehabt haben. Denn was alle seine Werke früh oder spät vor denen anderer Meister auszeichnet, die lichtvolle Klarheit in der Anordnung der Teile, im rhythmischen Bau des Ganzen, ist ganz gewiß, abgesehen von der Naturanlage, Folge dieser Uebung im Schauen, die ihm die Betrachtung der Natur und der bildenden Kunst brachte. Vom Auge, mit dem wir messen, überträgt sich das Maß der Dinge auf das Gehör und das ganze Innenleben, das Schauen regelt unsere Phantasie am meisten. Der Vater ließ es auch keineswegs daran fehlen, den Sohn auf alles aufmerksam zu ma chen, was in diesem Lande sehenswert ist. Er selbst schreibt von Florenz an seine Frau: »Ich wollte, daß Du Florenz selbst und die ganze Gegend und Lage der Stadt sehen könntest: du würdest sagen, daß man hier leben und sterben soll.«[36] Und Wolfgang wünscht in Rom, daß nur seine Schwester da wäre, denn ihr würde diese Stadt gewiß wohl gefallen, und von Neapel schreibt er: »Neapel ist schön.« Auch wurden die Museen besucht: »Questi giorni fummo nel Campidoglio et videmmo varie belle cose.« Wie mögen die Antiken wie die herrlichen Bauten dieses Landes auf die Einbildungskraft des kunstbegabten Knaben eingewirkt haben!

Zunächst freilich fand diese Einwirkung gewiß nur in zweiter Linie statt. Aber muß sie ihm nicht den klaren Bau der italienischen Musik und vor allem die seine Anmut ihrer Linien wesentlich näher gebracht haben? Der Zauber alles dieses, nicht bloß der Musik, ist auf Mozarts junges Gemüt so groß gewesen, daß er noch acht Jahre später von dem leidigen Paris aus den Vater bittet: »Sie müssen mir versprechen sich zu impegnieren unterdessen, daß ich bald Italien zu sehen bekomme, damit ich doch hernach wieder aufleben kann. Machen Sie mir doch diese Freude, ich bitte Sie darum.« Vor allem gewann Wolfgang hier, was ihm zum Heile der Musik stets verblieb, die Ueberzeugung, daß die Melodie das Leben der Musik sei, und alles, was er nachher lernte, sei es die Vielstimmigkeit der deutschen Musik oder die reichere und tiefere Färbung durch die Instrumente, nichts konnte ihn daran hindern, die fein rhythmisierte Tonlinie, die wir Melodie nennen, als die Hauptsache zu betrachten und alles übrige ihr so zur Verstärkung, zur Füllung, zur Hebung dienen zu lassen, wie die umgebende Natur das holde Bild des Menschen hebt.

Die Melodie ist das Leben der Musik, und Italien war es, das hier zuerst den Preis gewann, sowie ihn einst Griechenland in der Plastik gewonnen hatte. Oder war es nicht ein Sieg, als es dem Hellenen gelang, von der Darstellung der elementaren Natur zur Darstellung des persönlichen Wesens, des Menschen, überzugehen? Dem Aegypter war es gelungen, die ewigen Grundverhältnisse des Alls in starren mathematischen Formen aufzustellen und von dem Lebenden höchstens das Tier als Kunstbild zu verwerten.[37] Der Grieche sah diese Grundverhältnisse reiner, tiefer, voller; seine Architektur ist bei erhöhter Reinheit der Proportionen zugleich ungleich reicher entwickelt. Aber er sah noch mehr, er sah als den Mittelpunkt des Alls den Menschen und stellte das Ideal seiner Gestalt auf. Ist es je übertroffen worden? Kann es je übertroffen werden? Ist es nicht der Mensch, so wie ihn die Natur als Gestalt gedacht hat? Prägt nicht jeder Teil seines Körpers, jede Linie das zum Geist gediehene All der Natur aus, deren tausendfältige Kräfte sich hier zum Persönlichen konzentriert haben? Und gewinnen nun diese tausendfältigen Kräfte und Formen der Natur nicht erst ihren vollen Wert, ihren richtigen Sinn? Was ist alle Kunst, alle Poesie der früheren Völker gegen das, was die Griechen schufen, als sie die Würde des Menschen erkannt hatten!

In gleicher Weise wühlte der menschliche Geist innerhalb der Tonkunst Jahrtausende lang mit dumpfer Verehrung in dem Elementaren umher und betete die ewigen Verhältnisse des Seins an, ehe er das Persönliche fand. Herrliches schuf der Wechsel der Zeiten und der Nationen auf diesem Pfade, Erhabenes wie Aegyptens Pyramiden, die den Bau der Welt still nachahmend preisen, Schönes wie der Griechen Tempel, die dem Sinn und Zweck der Gliederung dieses Alls so ungleich näher kamen. Die Tonmeister Palestrina und Orlando di Lasso ragen in die Ewigkeit hinüber wie jene Bauten, an denen keine Zeit etwas zu zerstören vermocht hat. Sie, die Abbilder des Alls, bleiben die Vorbilder aller Kunst, an denen der menschliche Verstand sich stets wieder Rats erholen kann, sie bleiben sozusagen der Urverstand der Menschheit und regeln die Anschauung der Geschlechter aller Zeiten.

Und doch schwebt über diesem Hohen ein Höheres.

Wie schön ist der Wald, wie herrlich das Meer, wenn ein Stamm neben dem andern, eine Woge über die andere sich gleichmäßig erstreckt, wie erweckt dieses Bild der ruhigen Bewegung in unserem Geiste die lebendige Vorstellung von der Unendlichkeit der stets gleichmäßig wirkenden Kräfte, die das Weltall schufen[38] und erhalten, wie sehr werden wir gemahnt an die Unendlichkeit des schaffenden Geistes selbst! – Und nun laßt diese Elemente im Aufruhr erscheinen, wie kommen uns dann diese Mächte in ihrer ganzen Majestät zu Sinne! Laßt in den Wald den Sturm hineinwüten und die Bäume wie Halme knicken, und in das Meer den Orkan, daß die Wellen himmelhoch bäumend an die starre Felswand schlagen, dann ahnen wir die Größe der Naturgewalten, die zerstörend schaffen und schaffend zerstören! Eins wie das andere vermögen die verschiedenen Mittel der Kunst in herrlichster Weise darzustellen.

Aber nun laßt aus dem duftigen Grün des Waldes, aus dem Wechsel der grauen Stämme in seinem ganze Reize ein holdes Menschenbild hervortreten, laßt auf den sanften Wogen des Meeres im kleinen Nachen ein Mädchen sich schaukeln und singend die regelmäßige Welle zum bloßen Takte für den lebendigen Ausdruck ihrer Seele machen, laßt sie ein Auge aufschlagen, in dessen Blau der Himmel sich malt, oder in dessen unergründlichem Schwarz die schönsten Tiefen des Daseins sich auftun, laßt sie in anmutigen Bewegungen dem Wogen des ewigen Meeres folgen und in sinnigem Spiel die zarte Regung ihres eigenen Herzens verraten, – wo bleibt dann jener Schein des Unendlichen, jene Ahnung eines Geistigen, die wir schon im Spiel der Elemente fanden! Jetzt haben wir dieses selbst, wir glauben, es stehe leibhaftig vor uns, wir haben es in seiner schönsten Blüte, in persönlicher Gestaltung vor Augen! Und wie erscheint nun Wald und Meer und alle Ausbreitung der Welt ringsumher nur als Untergrund, als Fundament, als der Boden, auf dem das holde Wesen des Geistes in lebendiger Erscheinung wandelt!

Ist es anders in der Musik? Hatten nicht Palestrina wie Orlando, die Heroen der mittelalterlichen Kirchenmusik, in der Tat die Tiefen ihrer Kunst ermessen, als sie in ihrer großartigen Vielstimmigkeit eben jene Urtätigkeit der Elemente widerspiegelten, welche dem schauenden Auge die sich immer und immer wieder[39] verschlingenden Wogen des Meeres oder die Säulenreihen der Bäume, die sich im Walde zur schönsten Perspektive zusammendrängen, gleichsam im Halbdunkel offenbaren? Waren die nicht endenden Verschlingungen der Kräfte, die das Innere des Menschen so gut wie die Natur durchwühlen, nicht ebenso Gegenstand der Musik geworden, als Bach und Händel einen neuen und tieferen Sinn wie der Welt so der Kunst aufsuchten? Aber selbst sie fanden nicht den Menschen, den einzelnen, das persönliche Wesen, in dessen Kleinheit sich die Großheit der Welt zusammenfaßt; sie bleiben noch bei jenem allgemeinen Bewegen und Wogen des Menschenmeeres stehen, in dem sich zwar Woge von Woge kenntlich abhebt, aber keine der anderen vorwiegt, keine für sich etwas bedeutet. In der Natur gilt die Gattung, in der Menschheit das Individuum, die Person. Und dieses hatte nun vor allem der seine Sinn der Italiener in die Kunst eingeführt, als er sich bestrebte, durch Wiedererweckung der griechischen Tragödie auch für die Musik einen Boden zu gewinnen, auf dem der einzelne Mensch redend und handelnd auftreten könne. Aus der Oper hatte sich das entwickelt, was wir heute als kunstgerechte Weise der Melodie kennen.

Und als es nun da war, dieses menschengestaltige Wesen, war nicht da alle Macht der Elemente zunächst wie vergessen und mit dem Reiz dieser holdseligen Gestalt ein Kultus getrieben, als stände das Göttliche in eigener Person vor unseren Augen? Der Italiener freilich versäumte es, dieses zarte Geschöpf seines Kunstsinnes stets und immer wieder an den Brüsten der Natur und des Alls zu nähren und dadurch frisch und lebendig zu erhalten. Er vergaß, daß der Mensch doch nie der nährenden Grundlage des Geistes und der Natur entbehren kann, und so verkümmerte dieses holde Wesen unter seinen eigenen Händen allgemach zur bloßen Zierpflanze, die freilich stets die Schönheit ihrer Form bewahrte und immer noch die Anmut des Menschenbildes zur Schau trug. Allein allgemach fehlte ihr die Nahrung, und wäre nicht von anderer[40] Seite her, von dem rauheren Norden, der der Mutter Natur und dem Leben des Alls, näher geblieben war, Hilfe gekommen, das reizende Kind wäre mit all seiner Schönheit zu Grabe gegangen, und die Kunst hätte ihren schönen menschlichen Kernpunkt wieder verloren.

Der es rettete, der seine Schönheit in sich aufnahm, war vor allen Künstlern zunächst Mozart. Er brachte ihm die volle Nahrung des Lebens, die Kraft der Elemente wieder entgegen; er kannte neben der Melodie die Fülle und Tiefe der Harmonie, den deutschen Kontrapunkt, und so blühte unter solchen Händen das holde Geschöpf erst zu seiner ganzen Herrlichkeit auf. Er goß dieser zarten Gestalt dann die ganze volle lebendige Seele ein, die uns aus dem Auge des Menschen anlacht. Nicht als wenn die italienischen Melodien dieses warmen innern Lebens ganz entbehrt hätten! Vielmehr haben Scarlattis, Leos, Pergolesis und anderer Weisen schon einen Grad von lebensvoller Innigkeit, der einzelne von ihnen bis in die neuesten Tage herübergerettet hat. Aber die Zeit Mozarts war eben darnach angethan, daß das innere Leben in seiner ganzen Fülle zu erwachen begann. Wie Frühlingsblüten sprossen die lieblichsten Lieder der Liebe in Menge hervor. Meister wie Christian Bach und später selbst Federigo Fiorillo (geb. 1753) hatten bereits Sonaten geschrieben, die uns den Zauber und Schmelz der Empfindung andeuten, den wir bei Mozart finden. Auch hatte ja Goethe schon seine bezaubernden Weisen angestimmt und leise lockend die Herzen der Nation zu sich hingezogen, sie für Liebe und Zärtlichkeit aufgethan. Und Mozart ist es dann, der auch in der Musik das Mittel gefunden, den ganzen Reichtum dieses schönen Innenlebens auszusprechen. Er löste das Siegel von den Herzen der Zeit, als er begann sein eigenes reiches Herz aufzudecken, und dies ist das Geheimnis, wodurch ihm vor allen andern es gelang, die persönliche Rede, die der Italiener in der Musik geschaffen hatte, zu seiner eigenen Sprache zu machen. Sein Herz aber war es, das diese[41] Sprache suchte und verstand. Denn quoll nicht Mozarts eigenes junges Herz von schönstem Liebe-Bedürfen über? Sagte es nicht schon Schachtners Brief? Und nun weiter seine eigenen Aeußerungen aus dieser Zeit, – wie sind die wenigen Zeilen, die er von Italien aus den ausführlichen Briefen des Vaters anhängt, so jedesmal in einfachen Kindesworten der Ausdruck der zärtlichsten Anhänglichkeit an Mutter und Schwester und den gesamten Freundeskreis. Er hat keinen vergessen, er fragt nach jedem, er hat Teilnahme für Marthels Krankheit, für Herrn Hagenauers Unglück. »Wir haben heute«, schreibt der Vater, »in der Kirche beyde für seine Besserung Gott inständig gebeten.« Die »wichtigen und hohen Gedanken von Italien«, die vielen Arbeiten halten den Knaben von diesen nächsten Gedanken und Empfindungen nicht ab. Und doch ist er manchmal »völlig verwirrt vor lauter Affairen«. Der Mama küßt er 100000000 die Hände und der Nannerl »das Gesicht, Nase, Mund und Hals.« Alle Posttage, wenn die deutschen Briefe kommen, schmeckt ihm das Essen und Trinken viel besser. In jedem Zettel macht er irgend einen Scherz mit dem Nannerl und zeigt in diesen Neckereien, wie so brüderlich innig sein Herz an ihr hängt. Wie denn überhaupt die stete Lustigkeit, von der sowohl er als der Vater immerfort berichtet, einen Schluß auf die schöne Harmonie seines Innern machen läßt, eine Folge der eigenen warmen Empfindung für alles, was Mensch ist.

Aber auch für die Schönheit des anderen Geschlechtes regt sich in leiser Neigung schon der seine Sinn des Knaben. – Von der prima ballerina zu Mantua berichtet er in Salzburger Derbheit: »Man sagt, sie sei gar kein Hund; ich aber habe sie nicht in der Nähe gesehen.« Er sah sich die belle donne also doch bereits an. Und wie Gottfried von Straßburg erzählt, schon mit dem zwölften Jahre sei er in die Minnenhöhle gekrochen, so deuten auch bei diesem Knaben die naiven Worte: »Mit meiner Schwester hätte ich viel zu reden. Aber was? Das weiß nur Gott und ich allein«, schon auf die Regungen hin, die sich dann im nächsten Jahre[42] bestimmter so aussprechen: »Was Du mir versprochen hast (Du weißt schon was – – – o Du Liebe Du), halte gewiß, ich bitte Dich. Ich werde Dir gewiß verbunden sein.« Denn ihre kleinen Geheimnisse teilten sie einander getreulich mit. Wir werden auf alle diese Dinge zu sprechen kommen, sobald erst einmal das volle Leben erwacht sein wird, von dem sich hier erst zarte Spuren enthüllen. Denn obgleich der vierzehnjährige Knabe bereits Regungen eines tieferen Empfindens beweist, an dieser Stelle seiner Entwicklung ist mehr auf das allgemeine Element hinzudeuten, aus dem ihm das angeborene Wesen sich nährte, auf die schön vertrauende Weise, wie die ganze Familie miteinander lebte, wie vor allem Vater und Mutter den Strom der Liebe über das empfängliche Gemüt des Knaben ausgossen. Zwar redeten die Kinder ihre Eltern noch mit »Sie« an, aber dennoch herrschte in diesem Verhältnisse die Liebe mehr als die Verehrung, und niemals trat der kalte Respekt her vor, durch den das Familienleben einer früheren Zeit in seiner Entwicklung so mannigfach zurückgehalten wird.

Der ungleich größere Spielraum, den die Liebe, wenn sie die Erzieherin ist, in der Entfaltung des eigenen Empfindens gewährt, hatte für Mozarts Natur die größte Bedeutung. Man ließ ihm wirklich freie Hand in der Betätigung seiner Eigenheit, und nur die weise Art, mit der ihn der Vater in ruhiger Ermahnung an stete Ordnung und Beschäftigung gewöhnte und so vor allem auch die schaffende Phantasie in geregelter Tätigkeit erhielt, bewahrte den Knaben vor den Unarten und Störungen, die in so manches schöne Jugendleben tiefe Schatten werfen; sie gab den tausendfachen Regungen seines bewegten und leicht entzündbaren Innern jenen Anhalt, den uns gewöhnlich erst der Kampf mit äußerer Not bringt, indem er unsere Willenskraft stärkt. In Mozarts Erziehung herrschte keinerlei Zwang; körperliche Züchtigung nun gar wurde niemals nötig, weil der Knabe schon von Natur folgsam war. Und so ward, was entscheidend ist für die[43] Entwicklung jedes Künstlers, die freie Neigung das Gesetz, nach welchem er sein Leben führte.

In Florenz hatte er mit dem gleichalterigen Engländer Thomas Linley (1756–1778), der ebenfalls ein musikalischer Wunderknabe war, eine zärtliche Freundschaft geknüpft. Sie waren während der wenigen Tage, die sie beisammen blieben, unzertrennlich und wetteiferten unermüdlich miteinander in ihren Leistungen. Der Abschied kostete beiden bittere Tränen. Und fällt nicht in die gleiche Zeit die schwärmerische Freundschaft, die Goethe mit Lenz, Lavater, Jacobi und anderen schloß? War nicht auch kurz vorher der Göttinger Hainbund entstanden? In ganz Deutschland regte sich dieses Ueberquellen des Herzensgefühles, in dem zuerst der Mensch sein tieferes Selbst so über alle Maßen beglückt empfand. Goethe rief aus: »Unter allen Besitzungen auf Erden ist ein eigen Herz die kostbarste, und unter tausenden haben sie kaum zwei.« Es ging ein wunderbares Klingen durch die deutschen Gemüter. Gleich als sollte die uralte Menschenwahrheit von der Menschenliebe nun auch ganz zum Brot des täglichen Lebens werden, lagen Alt und Jung, Mann und Mann einander schluchzend in den Armen und versicherten sich ewige Liebe, unzerstörbare Freundschaft. Es war jener warme Hauch, der sich in der verschlossenen Kapsel der Kirche und ihrer Liebe schon am Anfang des Jahrhunderts gezeigt hatte, plötzlich ins Leben eingedrungen. Der Pietismus des norddeutschen Spener und der Mystizismus des ihm im Süden unseres Vaterlandes vorausgegangenen edlen Friedrich von Spee waren aus dem kleinen Kreise gläubiger Religionsbrüder in die weite Welt übergetreten und wirkten als geheime innere Kraft jene Wunder der Kunst, die zu der hölzernen Pedanterie in der Wissenschaft jener Zeit wie zu dem verknöcherten Wesen der Kirche, des Staates und des sozialen Lebens in einem so seltsamen Kontraste stehen. Diese Sonne erwärmte dann allgemach das gesamte Leben der Nation zu neuem Dasein, und aus ihr kam es, daß alle Lebensverhältnisse fortan aufzutauen begannen und vor allem strebten,[44] den Zopf unnatürlicher Fremdherrschaft abzustreifen und in der Weise ihrer eigenen Natur einherzuschreiten. Diese frischere Natürlichkeit zeigte sich auch in dem Leben der Mozartschen Familie, und die vorurteilsfreie Art des Vaters, der den Protestanten Gellert liebte und gar Klopstocks Gedichte seinen Kindern zu lesen gab, ließ zunächst einmal den Sohn sein und leben, wie er war, ließ ihn seinem natürlichen Empfinden folgen und begünstigte so halb instinktiv, halb mit weiser Einsicht die freie Entwicklung des Genius, aus dessen Busen der Vorn der reinsten und innigsten Empfindung und eine neue Fülle von Bildern menschlichen Daseins quellen sollte.

Fußnoten

1 Sowohl »Bastien und Bastienne« wie auch »La finta gardiniera« (die Gärtnerin aus Liebe) – siehe Seite 63 – sind in neuer Bearbeitung von Max Kalbeck in den letzten Jahren wiederholt zur Aufführung gelangt.


2 Eine vortreffliche Ergänzung geben die Briefe aus den Knabenjahren, vgl. Nohl »Mozarts Briefe.« Salzburg 1865.


3 Es war auch 1770 in Rom, wo der berühmte Pompeo Battoni, der letzte Ausläufer der großen römischen Malerschule, ein Bild des jetzt vierzehnjährigen Mozart malte, das, im Original in London befindlich, in einem vortrefflichen Stich zuerst der englischen Uebersetzung von Nohl's Mozart-Briefen (1865) beigegeben ist.


Quelle:
Ludwig Nohl: Mozarts Leben. Berlin 4[um 1910], S. 45.
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