IV.

Die Entscheidung.

[24] Franz koncertirt in Ödenburg. Spielt dem Fürsten Esterhazy in Eisenstadt vor. Koncert in Preßburg. Das Stipendium ungarischer Edelleute. Er soll Musik studiren. Adam Liszt legt seine Beamtenstelle nieder. Hummel's Generosität. Abschied von der Heimat.


Die Ausflüge in die Nachbarstädte in Verbindung mit den musikalischen Produktionen bei den Freunden seines Vaters hatten dem kleinen Franz Liszt schon Ruf verschafft. Man sprach von ihm, bewunderte ihn und nannte ihn bereits »Künstler«.

Dieses Renommée veranlaßte einen jungen blinden Musiker, welcher in Ödenburg ein Koncert zu geben beabsichtigte, Adam Liszt um Franz's Mitwirkung zu bitten. Dieser Musiker, ein Baron von Braun, welcher einige Jahre vorher noch als blindes Wunderkind in den Provinzstädten Ungarns und Österreichs sich hatte hören lassen und aus seinen Koncerten seine Subsidien gewann, hatte, nun erwachsen1, sehr an Anziehungskraft bei dem Publikum verloren und brauchte anderer attraktiver Hilfe. Er glaubte sie in dem kleinen Franz Liszt, von dem man gerade viel in Ödenburg sprach, gefunden zu haben und wandte sich in Folge dessen mit seinem Anliegen an Franz's Vater. Dieser war keineswegs dagegen, Franz in dem Koncert des Blinden mitwirken zu lassen. Er war sogar der Gelegenheit innerlich froh, ihn einer derartigen Probe unterziehen zu können. Und so ging es denn zum großen Jubel des neunjährigen Knaben, in welchem der Drang zur Öffentlichkeit[25] sich schon zu rühren begann, nach Ödenburg, wo dieser zum erstenmal öffentlich in einem Koncert spielen sollte.

Das war ein Ereignis! Franz konnte die Stunde kaum erwarten, wo er spielen sollte. Endlich war sie da – allein mit ihr für seinen Vater eine große Besorgnis. Denn Franz litt in letzter Zeit am Klimafieber (Wechselfieber), welches in den an Teichen und Seen reichen Ebenen dortiger Gegend ziemlich eingebürgert war. In der Aufregung über sein Auftreten hatte man dessen nicht mehr gedacht, und nun war es im Anzug, gerade vor dem Koncert. Er aber ließ sich nicht zurückhalten: er spielte, spielte unter Zähneklappern mit einer für sein Alter merkwürdigen Kraft, Ausdauer, Besonnenheit und Fingerfertigkeit – das Esdur-Koncert von Ferdinand Ries mit Orchesterbegleitung und dann noch eine Improvisation über bekannte Melodien, eine sogenannte »freie Phantasie«. Sein Spiel war musikalischen Feuers voll, von dem Fieber merkte niemand etwas.

Mit diesem Koncert hatte Franz eine doppelte Probe seltenster Kraft abgelegt: die des Talentes und die des Willens – nach beiden Seiten der Anfang dessen, was sich während seines Lebens unzähligemal in phänomenalster Weise wiederholen sollte. Sein Spiel selbst aber hatte, obwohl es naturalistisch genug war, für die Hörer ein fesselndes, zündendes und packendes Etwas zugleich. Dieses bestand nicht nur in der Merkwürdigkeit, einen neunjährigen, zart aussehenden Knaben mit einem wenn auch kleinen Orchester gleichsam Sturm lausen zu sehen, nicht in dem. Wunder, wie dieser Knabe seine Zuhörer vergessend in einer »freien Phantasie« mit Melodien geradezu spielte, es bestand auch nicht nur in Äußerlichkeiten: es war nicht die Geschwindigkeit, mit der er, um den noch zu kurzen Armen, welche das Oben und Unten der Tastatur nicht erreichen konnten, nachzuhelfen, seinen Platz bald da bald dort vor ihr einnahm und bald sitzend, bald stehend spielte, nicht sein überaus anziehendes Gesicht, das in Energie und Lieblichkeit erglühte – es war noch ein anderes unerklärliches Etwas, das auf seine Hörer so unwiderstehlich wirkte. Wer konnte es erklären? Man lobte seinen Muth, seine Kraft, seinen Takt – das Etwas aber, den Flügelschlag der noch von den Banden der Kinderseele umschlungenen Phantasie des Genies, konnte erst eine spätere Zeit enträthseln.

Franz hatte sich tapfer gehalten und hatte Glück gemacht –[26] sein Vater war sehr erfreut. Letzterer arrangirte nun in Ödenburg ein eigenes Koncert für Franz, welches nicht minder günstig ablief wie das Braun's.

Befriedigt kehrte er hierauf mit ihm nach Raiding zurück. Doch knüpfte sich noch kein Entschluß über Franz's zukünftigen Beruf2 an diese Koncerte in Ödenburg, aber es stand in Adam Liszt's Seele fest, daß aus ihm »etwas werden müsse«. Die Entscheidung jedoch kam bald nach diesen Koncerten.

War es aus eigener Bestimmung oder war es in Folge einer an ihn ergangenen Einladung, Adam Liszt reiste kurze Zeit nach diesen Ereignissen mit Franz nach Preßburg, ebenfalls um ihn hier öffentlich spielen zu lassen.

Doch vorher fuhr er noch nach Eisenstadt, um seinen Knaben[27] ins Schloß zu führen und dem Fürsten Esterhazy vorzustellen. Auch hier feierte der glückliche Vater den Triumph, das Talent desselben anerkannt zu sehen. Der Kleine producirte sich zum erstenmal vor einem fürstlichen Auditorium, doch ohne Furcht, ohne Schüchternheit, wohl aber mit ersichtlichem Vergnügen. Die Pracht der Umgebung, das Großartige und Vornehme, die hohen Personen, die ihm zuhören sollten, das alles verwirrte ihn nicht. Es machte wohl einen tiefen Eindruck auf seine Kinderphantasie, doch nicht wie es bei Kindern, die an kleine Verhältnisse gewöhnt sind, so natürlich erscheint, bedrückend, sondern mehr schlummernde Geister erregend und herausfordernd. Er spielte mit nicht zu verkennender Aufregung, aber es war die Aufregung der Phantasie, nicht die der Schüchternheit.

Die Lippen der Anwesenden strömten über in Lob und Staunen und der Fürst ermunterte ihn in väterlichen Worten so fortzufahren auf dem betretenen Weg. Gunstbezeugung über Gunstbezeugung folgte, und der kleine Franz sah sich sogar mit einem reich gearbeiteten ungarischen Nationalkostüme beschenkt, in dem er aussah wie ein vornehmer Magnat en miniature. Dem Vater aber bedeutete der Fürst gnädig und fürsorglich, daß er das projektirte Koncert in Preßburg im fürstlich Esterhazy'schen Palais abhalten solle.

Mit diesen Eindrücken reiste Adam Liszt mit Franz nach Preßburg. Hier trat die große Entscheidung für des letzteren Berufswahl ein.

Die Preßburger waren von seinem Talent entzückt wie die Ödenburger, doch bestand sein Auditorium hier aus Personen höheren Rangs und höherer Bildung als dort. Hier in der alten königlichen Freistadt lebten viele der vornehmsten Magnaten Ungarns mit ihren Familien. Unter ihnen die Grafen Erdödy, Szápary, Amadée, Apponyi und andere, Namen, die als Mäcene und Kenner der Musik Generationen hindurch von Komponisten, Virtuosen und Musikfreunden besonders geschätzt waren. Aus diesen Kreisen bildete sich eine außergewöhnlich zahlreiche Zuhörerschaft bei dem Koncert des kleinen Franz. Schon der Umstand, daß der Vater des genialen Knaben ein Beamter des Fürsten Esterhazy war, zu dem die Landesaristokraten alle mehr oder weniger in persönlicher Beziehung standen, lenkte die besondere Aufmerksamkeit auf ihn.[28]

Die Ermunterung, die ihm der Fürst hatte zu theil werden lassen, mochte nicht minder in die Wagschale fallen, und so fand sich der vornehmste Adel Preßburgs zu dem Koncert des jugendlichen Virtuosen ein, welches in dem in der »Vorstadt Blumenthal« gelegenen Palais des Fürsten stattfand und so gleichsam unter dessen Ägide gestellt war.

Die Musikkenner waren überrascht und enthusiasmirt von der Originalität und dem musikalischen Fluß und Feuer der Vorträge des Knaben und im Moment fielen ihm alle Herzen zu. Wie die Ödenburger, sparte jetzt sein glänzendes Auditorium nicht mit seinen Beifallsspenden, aber von persönlicher Theilnahme ergriffen zeigten sie ihm diese auch in persönlicher Form. Die Magnaten lobten ihn und sprachen lebhaft mit seinem Vater über sein Talent, und die schönen stolzen Frauen, entzückt von dem Liebreiz des in sein prunkendes Nationalkostüm gekleideten Knaben, zogen ihn zu sich und liebkosten ihn stürmisch nach ungarischer Art. Jene aber äußerten einstimmig gegen Adam Liszt, ein solches Talent müsse ausgebildet werden, eine Unterlassung wäre Sünde – eine Ansicht, welche dieser als eine Überzeugung und Nothwendigkeit länger schon mit sich trug – aber seine Verhältnisse? Da faßte er Muth. Auf die große Theilnahme und Wärme sich stützend, welche Franz gezeigt worden, aber auch der enthusiastischen Äußerungen gedenkend, welche die reichen und einflußreichen Magnaten gegen ihn gethan, wagte er es andern Tages einem derselben die Sachlage darzustellen. Das brachte die Hilfe. Eine Subskriptionsliste cirkulirte unter den Herren und in der kürzesten Zeit hatten sich sechs derselben, unter ihnen die Grafen Amadée, Apponyi, Szápary, vereint, ihm auf die Dauer von sechs Jahren jährlich die Summe von sechshundert Gulden österreichisch zur künstlerischen Ausbildung seines Sohnes anzuweisen. Mochte auch bei dem einen oder dem andern der Magnaten der Umstand mitwiegen, daß der Vater des jungen Talentes ein Beamter des hochstehenden Fürsten war, so war ihr Interesse für den Knaben doch warm genug geworden ihm die Mittel zu seiner Ausbildung zu sichern.

Hiemit war sein künftiges Geschick entschieden. Ein Stein war von des Vaters Herzen genommen: Franz aber war übermäßigen Glückes voll. Stolze und kühne Wünsche bauten sich in seinem jungen Herzen auf, alle in den einen Gedanken mündend: ein tüchtiger Künstler werden zu wollen.[29]

Dankbaren und gehobenen Gemüthes schied Adam Liszt von den Gönnern seines Sohnes und eilte, den Kopf voll Pläne, nach Raiding zurück.

Je mehr er jedoch über die Wege nachdachte, welche Franz zu den ihm vorschwebenden Zielen führen sollten, um so mehr gewann er die Überzeugung, daß die Großmuth der Magnaten nur einen Theil derselben geebnet habe und der andere sich nur ebnen lassen würde, wenn er selbst mit seiner Frau die größten Opfer bringe – das Opfer ihrer sicheren Existenz. Es schien ihm nicht allein damit gethan, daß Franz in eine Stadt gebracht und unter die Leitung tüchtiger Lehrer gestellt würde; nein, er bedurfte, wenn die Zucht jener segenbringend und gedeihend werden sollte, ebenso sehr der ihn umgebenden Liebe der Mutter, wie der festen Hand und des wachenden Auges des Vaters. Es schien ihm eine harte und doch unabweisbare Konsequenz der Ausbildung Franz's, daß er beim Fürsten um seiner eigene Entlassung zu bitten habe, nm seinem Sohn außerhalb der Heimat den väterlichen Schutz geben und dessen Genie den Weg zur künstlerischen Reife ebnen zu können. Er dachte hiebei nicht an sich, nicht an das vielleicht schwere Los, welches durch die Ausführung dieser Pläne seiner Gattin für die nächste Zeit werden könnte – unter dem Einfluß seiner Kunstliebe und seiner Vaterpflicht fühlte er nur, daß er das Genie seines Sohnes zu beschützen und ihn auf die Kunsthöhe zu führen habe, wohin jenes ihn zu stellen versprach. Aus so einfachen Verhältnissen auch Adam Liszt hervorgegangen, er war sich der Verantwortung bewußt, der Vater eines mit außergewöhnlichem Talent begabten Sohnes zu sein.

Kein Mann von langem Erwägen, waren Gedanke und Entschluß bei ihm so ziemlich Eins. Als er von Preßburg nach Hause kam, war sein Plan bereits zur That gereift; aber noch hatte er eine schwere Stunde zu bestehen: die Besprechung mit seiner Frau. Diese nahm das große Ereignis in Preßburg und die Folgen, die sich an dasselbe knüpfen sollten, keineswegs so freudig und so zuversichtlichen Herzens auf, wie Gatte und Sohn. Und sie, die sonst mehr ruhig gewähren ließ als daß sie eingriff in die leitenden Zügel, machte Adam Liszt so beredte Gegenvorstellungen, daß er in der That über seine gefaßten Entschlüsse stutzig wurde. Sie wies ihn darauf hin, was es heiße ohne Vermögen zu sein und eine wohl bescheidene, aber sichere Existenz für eine Sache, die nichts[30] anderes noch sei als eine Hoffnung, aufzugeben. Wie sollten sie leben können, drei Personen von sechshundert Gulden jährlich? Was sollte aus dem Kind, was aus ihr werden, wenn er plötzlich sterben sollte? noch ehe das Ziel erreicht? Und wer verbürge das Ziel?

Diese gerechten Einwürfe machten Adam Liszt verstummen. Franz aber, der bei diesen Erörterungen zugegen war, sah mit wahrer Seelenangst bald auf Vater, bald auf Mutter und als diese fortfuhr zu sprechen und in den Ausruf ausbrach: »Wenn die sechs Jahre um sind und Deine Hoffnungen sind vereitelt, was soll aus uns werden?!« da sprang er vor und rief mit fester und muthiger Stimme:

»Mutter, was Gott will!«

Bittend hing sein Blick bald an ihr, bald an seinem Vater und mit kindlichen Worten schilderte er, wie sehr lieb er die Musik habe und wie er alles thun wolle, um etwas Großes zu werden. »Gott wird mich nicht verlassen«, fügte er glühend hinzu; »wenn die sechs Jahre vorüber sind, wird er mir helfen Euch zu vergelten, was für Sorgen ich Euch gemacht und was Ihr für mich gethan habt«.

Eine tiefe Rührung hatte seine Eltern erfaßt. Ergriffen reichten sie sich die Hände. »Ja, was Gott will!« sagte eines wie das andere. Es gab keine Einwendungen mehr. Man half zusammen und besonnen that Adam Liszt die Schritte, die ihn frei machen sollten für die neuen Pflichten.

Er kam sogleich um seine Entlassung bei der fürstlich Esterhazy'schen Regierung ein. Dann wandte er sich an den Künstler, von dem er hoffte und wünschte, daß er die Ausbildung von Franz übernehmen werde. Es war Nepomuk Hummel, mit dem er in Eisenstadt befreundet gewesen war, und dessen Spiel ihm den unvergeßlichen Eindruck gegeben hatte. Niemand hielt er so hoch als Klavierspieler wie ihn. Und so war sein erster Gedanke und sein heißer Wunsch, Franz zu ihm bringen zu können.

Hummel war inzwischen Hofkapellmeister in Weimar geworden. Dahin schrieb Adam Liszt. An ihre früheren Beziehungen in Eisenstadt erinnernd machte er ihm die nöthigen Mittheilungen über seinen Knaben und fragte ihn, ob er geneigt sei dessen Ausbildung zu übernehmen.

Während man nun der Antwort des berühmten Künstlers wartete, traf das Antwortschreiben der Regierung ein, welche einen[31] so tüchtigen Beamten nur mit Widerstreben entließ, aber sein Gesuch hatte bewilligen müssen.

Endlich kam auch Hummel's Antwort an. Er zeigte sich bereitwilligst einem so merkwürdigen Talent seine künstlerische Hilfe angedeihen zu lassen, machte aber auch zugleich Adam Liszt darauf aufmerksam, daß er in seiner gegenwärtigen Stellung – keine Lektion unter einem Louisd'or gebe. Adam Liszt war über diesen Brief außer sich. Er hatte nie daran gedacht die Hilfe Hummel's ohne Entschädigung zu beanspruchen, allein diesen Nachsatz hatte er bei der Bereitwilligkeit, mit welcher er erklärte Franz ausbilden zu wollen, doch nicht erwartet. Zu einem solchen, selbst für damalige Zeit nur von Fürsten gewahrten Preis reichte auch Franz's Stipendium nicht aus.

Nun beschloß er nach Wien zu reisen und erst an Ort und Stelle die Lehrerfrage zu erledigen.

Bis alle Vorkehrungen zur Abreise getroffen waren, kamen auch viele von Adam Liszt's Freunden und Bekannten. Sie nannten sein Beginnen thöricht und seine Verwandten riethen ihm von seinem Vorhaben ab. Bei solchen Gesprächen drängte sich Franz meist hinan, und man konnte ihm das innere Bangen vom Gesicht ablesen, daß sie vielleicht doch den Vater noch beeinflussen könnten; auch konnte sein feinfühliges und liebewarmes Herz es nicht ertragen, wenn man mit Befürchtungen seine Mutter ängstete. Bei solchen Momenten suchte er immer an ihre Seite zu kommen und sie zu liebkosen. Fing gar einer der Freunde an Beispiele aus dem Künstlerleben zu bringen, dann nannte er in unbewußter Diplomatie die Namen von Tonkünstlern, die glücklich geworden. »Und – sagte er dann eifrig – wißt Ihr denn, ob die meisten, denen es nicht gut ging, nicht selbst Schuld daran waren? Ich will und will nichts anderes werden wie ein Künstler!«

So war denn endlich der Tag und die Stunde herangekommen, da Adam Liszt mit seinen Rechnungsablagen und dem Ordnen seiner Angelegenheiten zu Ende war. Es war ihm doch beklommen zu Muthe, aber seines Knaben zuversichtliches »Was Gott will!« stieg dabei in seinem Herzen auf. Der Mutter war es nicht anders, und wie die drei Reisenden, ehe sie ihre Heimat verließen, noch einmal die kleine Dorfkirche betraten, wo ihnen zum Abschied noch eine Messe gehalten wurde, weinte sie schwere Thränen. Die Dorfbewohner hatten sich ebenfalls zu dieser Messe[32] eingefunden und sangen laut mit zu Ehren des Knaben, der dort auf seinen Knien lag und in glühender Andacht zu Gott betete.3

Ja, über seinem Haupte schien ein besonderer Stern zu leuchten.

Im Dorfe sprach man noch lange von ihm und die Frauen meinten, er werde noch einmal wiederkommen »im gläsernen Wagen«.4 – Das war im Jahr 1821, wo dem einfachen Sinn der Dorfleute nach nur sehr Reiche und sehr Vornehme der Glaswagen sich bedienten.

Mit dem Scheiden von der Heimat war Franz Liszt's erste Epoche der Kinderjahre abgeschlossen. Zugleich schied er vom Vaterland, den Bildungselementen anderer Nationen entgegengehend. Aber ein Theil vaterländischer Poesie begleitete ihn, wenn auch verschleiert von dem Bunterlei neuer Eindrücke und zurückgedrängt von dem Rechte der Gegenwart.

Einfach, schön und licht war alles, was seines Lebens Wiege umstanden, dabei war es umwoben von Andeutungen auserlesenen Geschickes. So wenig es auch war, was das ungarische Dörfchen ihm an Grundlagen der Bildung hatte geben können, zwei Dinge nahm er von hier mit hinüber in sein neues Leben: eine heiße Liebe zu Gott und zur Musik.

Fußnoten

1 von Braun starb noch nicht zwanzig Jahre alt.


2 Hier sei bezüglich der Wahl seines Berufes einer allgemeinen Annahme gedacht, welche speciell durch G. Schilling's Biographie (Stuttgart, Toppani 1844) und Elise Polko (Gartenlaube) allgemeine Verbreitung gefunden, welche mir aber von Liszt selbst, sowie von einer hohen Persönlichkeit, die insbesondere durch Liszt's Mutter auf das genaueste mit den Einzelheiten seines Jugendlebens vertraut ist, auf das Entschiedenste dementirt wurde. Diese Annahme ist, daß er nach dem Wunsch seiner Mutter habe »Pfarrer« werden sollen. Schilling beruft sich auf ein Tagebuch, welches Adam Liszt hinterlassen, doch sind bekanntlich Schilling's Angaben nicht immer korrekt und Elise Polko's Feder mehr dem Märchen als Fakten gewidmet. Wohl existirte oder existirt noch eine Art Tagebuch Adam Liszt's – auch der in jeder Beziehung glaubwürdige d'Ortigue erwähnt desselben(Gazette musicale de Paris, 1834), ohne aber dabei wie Schilling die Bestimmung für den »Pfarrerberuf« zu accentuiren –, doch ist dieses Tagebuch zur Zeit nicht zugänglich. Gestützt auf meine maßgebenden Quellen habe ich darum im Widerspruch mit allen andern Franz Liszt betreffenden biographischen Arbeiten jenen Punkt ganz unberührt gelassen. – Liszt hat sich mir über die Pfarrergeschichte, welche ich bei dem ersten Entwurf dieser Biographie Schilling nacherzählte, mehrfach unwillig geäußert. Als ich ihm aus jenem Entwurf vorlas (Weimar, 1874), rief er bei dieser Stelle ärgerlich aus: »Streichen Sie den Pfarrer! das ist inkorrekt«, doch setzte er plötzlich mit hofmännischer Ironie hinzu: »Wenn Sie es stehen lassen wollen – es ist eine hübsche Geschichte, – ich werde es nicht dementiren«. – ›Aber mein biographisches Gewissen wird es‹, entgegnete ich ihm. »Gut«, sagte er hieraus ernst und erfreut mit gänzlich verändertem Ton, »Sie wollen Wahrheit: streichen Sie den Pfarrer«. – Ärgerlich war er auch darüber, daß man seine Mutter dem Publikum als höchst bigotte Frau geschildert. Er kannte die Quellen und als ihm um dieselbe Zeit Frau Elise Polko, welche am Hof zu Weimar vorzulesen gedachte), vorgestellt wurde, sagte er stutzend bei ihrem Namen: »Ah, Sie haben aus meiner Mutter eine sehr fromme Frau gemacht«.


3 »Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie.« Par Franz Liszt.


4 Ebendaselbst.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon