VI.

Die musikalische Weihe.

(Wien, 13. April 1823.)

Beethoven. Gespräch mit Schindler. Franz's zweites Koncert. Beethoven's Anwesenheit in demselben.


Nach den erzählten Vorgängen scheint es gewesen zu sein, daß die erste Kunde von dem merkwürdigen musikalischen Phänomen in das Zimmer des Tonmeisters drang, der umgeben von dem Wogen und Treiben einer musikalischen Weltstadt, aber durch tragisches Geschick an Einsamkeit gebunden weltabgeschieden seinen mächtigen Inspirationen lebte.

Sein kleiner glühender Bewunderer, dessen Genius unter seinen Klängen erwacht war, hatte bis jetzt noch keinen Eingang zu ihm gefunden, und Beethoven ahnte nichts von dem Dasein dessen, der berufen war die Räthsel seines Genies der Welt am Klavier zu lösen.

Anton Schindler, Beethoven's Sekretär und treuer Genosse seiner Einsamkeit, war es, welcher in Verbindung mit den Koncertangelegenheiten des Knaben dessen Namen ihm nannte und in liebenswürdiger Weise die Rolle seines Anwaltes übernahm.

Es war schwer bei dem menschenscheuen und an die Welt der Töne hingegebenen Meister Zutritt zu erlangen. Zumal in jener Zeit. Seine Missa solemnis war erst im letzten Jahr vollendet (1823) und schon durchwogten wieder neue, großartige Pläne seinen Geist. Zwei große Symphonien, »jede anders wie seine übrigen«, eine neunte und eine zehnte, und ein Oratorium wollte er komponiren und »viel dazu war schon ausgeheckt, im Kopfe nämlich«.1 Von einer Oper »Melusine« war ebenfalls die Rede und im Hintergrund thürmten andere großartige Projekte sich auf. »Endlich[45] hoffe ich zu schreiben, was mir und der Kunst das höchste ist, – Faust«, hatte Beethoven in einer Zuschrift an einen Freund (Bühler) 1823 geäußert.

In solchen Zeiten mächtigsten Gährens entschwinden dem Genie die kleinen irdischen Fäden, welche man gewöhnlich »Pflichten« nennt und die Goethe so einzig mit »Forderungen des Tages« definirt hat. Je tiefere Aufgaben Beethoven beschäftigten, um so unzugänglicher, »zugeknöpfter«, wie er es nannte, und mürrischer erschien seine Außenseite. Nichtige Dinge, welche Zeit und Kraft ohne Recht kürzen und sammlungraubend das Schaffen hemmen, hielt er sich fern. Er lebte seinem Genius und Besuche von Fremden wurden meist zurückgewiesen.

Unter den letzteren scheint, nach Beethoven's Konversationsheften vom April 1823 zu schließen, auch der kleine Franz Liszt, wahrscheinlich begleitet von seinem Vater, gewesen zu sein. Nichtsdestoweniger führte ein großes Anliegen den Knaben wieder in sein Vorzimmer. In einem der Konversationshefte steht von Schindler's Hand geschrieben:2

»Der kleine Liszt hat mich dringend ersucht, Sie recht schön zu bitten um ein Thema, worüber er morgen im Koncert zu phantasiren wünscht. Ergo rogo humiliter dominationem vestram, si placeat, scribere unum thema; er will es aber versiegelt erst dort eröffnen; mit der Phantasie des Kleinen ist es eben noch nicht streng zu nehmen – der Bursche ist ein tüchtiger Klavierspieler; was Phantasie anbelangt, so ist es noch weit am Tage, bis man sagen kann: er phantasirt.«

Beethoven schien interessirt und Näheres wissen zu wollen, worauf Schindler weiter schrieb:

»Czerny Karl ist sein Lehrer – 11 Jahre eben. Kommen Sie doch, es wird den Karl3 gewiß selbst unterhalten, wie der kleine Bursch spielt. Leider, daß der Kleine in Händen des Czerny ist.«

Nach andern Konversationsheften fing dieser nämlich nach damaliger Virtuosensitte an »zu affektiren und zu outriren«, was der Meister gesprächsweise berührt zu haben scheint. Denn Schindler fuhr fort zu schreiben:[46]

»Sie mögen es errathen haben. – Es ist doch Schade, daß Ihr hoher Genius in Klaviersachen begraben wird, denn leider bleiben die ausgezeichnetsten Werke dieser Art liegen, weil die Klavierspieler unserer Zeit immer mehr den Geschmack des Guten verlieren.«

Gutmüthig drängte er nun Beethoven:

»Nicht wahr, Sie werden die etwas unfreundliche Aufnahme von letzthin dadurch gut machen, daß Sie morgen das Koncert des kleinen Liszt besuchen? – Es wird den Kleinen aufmuntern. – Versprechen Sie es mir, daß Sie dahin kommen?«

Und der Meister versprach zu kommen. Ein Thema aber zum Phantasiren gab er nicht. Es war, scheint es, nicht weiter die Rede davon.

Dieses zweite Koncert war für den 13. April angesetzt und wurde im Redoutensaal abgehalten. Franz spielte dieses Mal unter anderen Hummel's Hmoll-Koncert und schloß wieder mit einer »freien Phantasie« über ein nicht von Beethoven erhaltenes Thema – der Kummer des Knaben. Das zwanglose Sichgehenlassen am Klavier aber war ihm noch immer das liebste wie vor Jahren, wo er so gern mit seinen »lieben Tönen« gespielt hatte.

War das erste Koncert schon zahlreich besucht gewesen, so war es dieses zweite noch viel mehr. Der Saal war übervoll. Als der Knabe vor das Publikum trat, das Kopf an Kopf gedrängt erwartungsvoll zu ihm hinsah, gewahrte er in der Nähe des Podiums Beethoven, dessen ernstes Auge sinnend auf ihm ruhte. Franz war freudig erschrocken, die Anwesenheit des vergötterten Meisters jedoch verwirrte ihn nicht. Er fühlte das Auge, das auf ihn gerichtet war, aber sein Spiel wurde feuriger und glühender von Takt zu Takt und sein ganzes Wesen schien gehoben und entzündet von einer unsichtbaren Macht. So ging es von Satz zu Satz. Das Publikum lauschte überrascht und gab dann um so lauter und ungestümer sich seinen Empfindungen hin.

Als nun Franz seine Improvisation über ein unscheinbares Thema, weit über alle Erwartung, geendet hatte, wußte er kaum, wie ihm geschah. Ihm war wie im Traume. Das Publikum umwogte und umdrängte ihn, und – hastig war Beethoven auf das Podium gestiegen und hatte ihn geküßt.

Fußnoten

1 Beethoven's Worte zu Rochlitz. Siehe Marx's II. Band, Seite 305.


2 Nach Nohl's Veröffentlichung. (»Beethoven, Liszt, Wagner« Wien, Braumüller 1874.)


3 Beethoven's sechzehnjähriger Neffe.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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