XIX.

1845/47.

Schluß der Koncertreisen.

(Koncertreisen 1846–1847.)

(1845:) Hofkoncert im Schloß Brühl. Liszt's Erkrankung. Koncerte. Jeanne d'Arc au bûcher. (1846:) Weimar. Wien; abermaliger Sieg daselbst. Programme. Koncert-Ausflüge. Sommer in Rodaun. Budapest. Dichter und Presse. Bei den Zigeunern. Erziehungsstudien. Ungar. Rhapsodien und die Kritik. Reisen durch Ungarn, Siebenbürgen, Südrußland nach Konstantinopel. Gr. Paraphrase über einen Marsch von Donizetti. In Odessa. Letztes Koncert: in Elisabethgrad.


Anderntags, nach dem Schluß der Beethoven-Feier – am 13. August –, fand ein Hof-Koncert im Schlosse Brühl zu Ehren der anwesenden hohen Gäste statt, obenan der Königin Victoria»la Souveraine la plus sympathique de l'Europe,« wie Liszt sie häufig bezeichnete. Meyerbeer hatte zu demselben eine Kantate auf die Anwesenheit dieser Königin komponirt, bei deren Aufführung die Elite der fremden Tonkünstler mitwirkte. Das gesammte Programm trug die Namen: Staudigl, Pischek, Mantius, Böttcher, denen sich die der Sängerinnen Jenny Lind, Tuszek, Viardot-Garcia anreihten. Liszt hatte einen Klaviervortrag, die Norma-Fantasie, als Introduktion. Ein kleiner mit ihm verknüpfter Vorfall, charakteristisch für den Künstler, hat diesem Koncert einen anekdotischen Reiz gegeben. Die Königin Victoria erschien spät – endlich hatten die Herrschaften sich arrangirt – Liszt saß vor dem Flügel. Während er spielte, entstand eine Unruhe, die seidenen Roben knitterten, die Königin wisperte, ein Kavalier bewegte sich geräuschvoll zum Fenster, öffnete es: Ihre Majestät hatten heiß. Im nächsten Moment wiederholte sich die Unruhe, man schloß das Fenster: Ihre Majestät fühlten Zug. Keine Aufmerksamkeit. Da entfloh Liszt[266] dieser Scene, indem er, noch am Anfang, der Fantasie schon einen Schluß komponirte: die Passagen schwollen nicht mehr an, sie verklangen mehr und mehr, immer leiser, graziösen Verbeugungen gleich, ein feines Lächeln auf den Lippen, folgten gebrochene harmonisch abschließende Akkorde und – die Fantasie war vorbei in dem Moment, als die Gesellschaft begann den Tönen zu lauschen.

»Ihre Fantasie erschien mir sehr kurz« bemerkte ihm später der König.

»Ich befürchtete, Ihre Majestät die Königin Victoria im Ertheilen ihrer Befehle zu stören. –«

Der König lachte herzlich, erließ es ihm aber nicht, nochmals am Klavier zu erscheinen.

Eine ähnliche Scene trug sich in einem Hof-Koncert zu St. Petersburg 1842 zu, wo der Kaiser Nicolaus I. ungenirt laut während des Vortrags Liszt's sprach. Hier brach der Künstler jäh denselben ab.

»Pourquoi avez-vous interrompu votre jeu?« frug der Kaiser und wandte sich erstaunt zu ihm.

»Quand l'Empereur parle, les autres doivent se taire,« entgegnete Liszt unerschrocken.

Schon während der letzten Tage des Festes fühlte sich Liszt sehr unwohl. Die außerordentliche Anstrengung, obenan die vielen Ärgernisse während desselben, zogen ihm ein hochgradiges Gallenfieber zu. Er lag geraume Zeit in Köln. Mme. Kalergis, die dem Bonner Feste beigewohnt hatte, war seine Pflegerin.

Gegen Ende August wohnte er einem Versprechen gemäß dem deutsch-holländischen Sängerfeste bei, das in Cleve die Liedertafeln von Amsterdam, Arnheim, Cleve, Krefeld, Emmerich, Nymwegen u.a. versammelte, dann lebte er einige Wochen nur seiner Gesundheit in Baden-Baden. – Doch bevor er den Rhein verließ, übergab er nebst der bereits besprochenen Beethoven-Kantate und der ebenfalls früher berührten Klavier-Partitur der Franc-Juges-Ouvertüre von Berlioz1 eine dramatische Romanze in Liedform, gedichtet von Alex. Dumas,2 deren Komposition3 seinem Baseler[267] Aufenthalt angehörte, mit französischem und deutschem Text, letzteren von Friedrich, der Öffentlichkeit:


Jeanne d'Arc au bûcher4

Romance dramatique.


Der Text, halb Gebet, halb Rückschau, zeichnet in wenigen, aber entschiedenen Linien die Grundzüge des Wesens der »Jungfrau«, das dem Boden und dem Rahmen der Ländlichkeit und der gläubigen Einfalt entsprossen, zur heroischen Begeisterung fürs Vaterland getrieben, nach hehrer That dem Flammentod frommen Auges entgegen eilt. Motive und Harmonien haben diese Einfachheit des pastoralen und religiösen Untergrundes festgehalten und erheben sich auf ihm, dramatisch bewegt, zu dem mit Trompetenfanfaren begleiteten Ausruf: »Die Fahne will ich hier entfalten.« (3. und letzter Vers). Diese Stelle bildet die Spitze der Steigerung. Die noch übrigen Takte zertheilen gleichsam die Wogen der Erregung und lassen sie ausklingen. – Im Ganzen und nach Seite des reinmusikalischen Werthes steht dieses Lied in keinem Gleichgewicht zu den andern Liedern Liszt's. Es scheint mehr ein Bühnennachklang aus Paris, der, ob wohl flüchtig hingeworfen, dennoch in der Feinheit der Konception den Stempel des Genies sichtbar läßt. Später instrumentirte der Meister die frühere Klavierbegleitung, in welcher neuen Gestalt das Lied von der dramatisch hochbegabten Marianne Brandt mit Vorliebe und Glück im Koncertsaal interpretirt worden ist.5 Bei der Wiedergabe desselben aber dürfte für das Allgemeine festzuhalten sein, daß der Charakter der Koncert-Arie ihm ferne liegt und seine Wirkung auf dem Accent des Liederartigen beruht, trotz der später von »dramatischer Romanze« in »dramatische Scene« umgewandelten Bezeichnung.

Nach seiner Ruhepause in Baden scheint der Künstler sich auf einige Monate dem öffentlichen Leben mehr entzogen zu haben. Nur hin und wieder berichtet die Tagespresse in kurzen Notizen,[268] daß er in Privatgesellschaften, auch dann und wann öffentlich sich habe hören lassen, in Stuttgart (Oktober), Darmstadt (November), Mannheim u.a. Städten.

Im Februar 1846 kam er seinen Verbindlichkeiten in Weimar nach, spielte am Hof, dirigirte das obligate Koncert für die Musiker-Wittwenkasse (20. Febr.), bei welchem er die Oberon-Ouvertüre »mit besonderer Energie und eigenthümlicher Auffassung«,6 desgleichen die Ouvertüre seines Freundes Berlioz zu »Waverley« aufführte und sich noch pianistisch mit Beethoven's Es dur-Koncert betheiligte.

Von da aus reiste er nach Wien, wo er im »Hotel London« domicilirte. Hier, in Wien, war man während der sechs Jahre, in denen man ihn nicht gehört, virtuosen- und klaviermüde geworden. Die bedeutenden und mittelmäßigen Virtuosen jener Zeit hielten die Kaiserstadt in einem beständigen musikalischen Belagerungszustand. Dazu kam, daß die technische Steigerung, welche Liszt, bedingt von der Gewalt seines Geistes, dem Klavier als dessen Ausdrucksmittel geschaffen hatte und die durch seine Kompositionen andern zugänglich gemacht war, von der Mittelmäßigkeit mißverstanden zum Aufbauschen der Fertigkeiten benutzt wurde und somit der Virtuosität als Selbstzweck diente. Man war nur allzu geneigt ihn für die musikleere pianistische Akrobatie verantwortlich zu machen. Liszt's Erscheinen in Wien war darum nicht von dem anticipirenden Enthusiasmus begleitet, wie vor Jahren. Mißtrauen in seine Kunsthöhe, Mißtrauen in die eigene Urtheilsfähigkeit machte neben der Erwartung, ihn wieder zu hören, sich geltend. Es sollte sich zeigen, wie Aug. Schmidt es aussprach,7 ob seine Kunst den Sieg über die herrschende Indifferenz davontrage und er das Urtheil über ihn, welches durch die von ihm beeinflußten verschiedenartigsten Erscheinungen auf dem Gebiet der Virtuosität schwankend geworden war, wieder im früheren Sinn festzusetzen vermöge.

Aber es bedurfte nur seines ersten Koncertes, um ihn als einen Unvergleichlichen von Neuem anzuerkennen und sich selbst im vollsten Besitz schwungvoller Frische der Empfänglichkeit zu fühlen. Trotzdem war der Ton ein anderer geworden und ebenso die Art seiner Wirkung. War in früheren Jahren die Hörermasse zum Theil von der Unmittelbarkeit des jugendkräftigen und heißen Temperaments[269] des Künstlers, unter dem er gewissermaßen noch selbst zu stehen schien, fortgerissen worden, so stand sie jetzt unter der vollgereiften und geklärten Mannesgewalt des Genies. Diese Seite hat die Wiener Presse jener Tage seitens einzelner ihrer Vertreter festgehalten. Sie erging sich nicht mehr in unendlichen Dithyramben, wie anno 1838 und 1839/40. Zum Theil inzwischen getrieben durch Berlioz' Rundzug durch die Musikstädte Deutschlands, Deutsch-Österreichs, Ungarns, Rußlands (1843), begann die Kritik die historische Mission des Künstlers und den historischen Umschwung der Tonkunst zu fassen. Der schon genannte Aug. Schmidt – der in manchen Beziehungen ein Vorgänger Franz Brendel's genannt werden kann –, Julius Wend u.A. wurden zu Mit- und Vorkämpfern des mehr und mehr zum Bewußtsein vordringenden Fortschritts der Musik8 und der mit ihm im Zusammenhange stehenden Ideen, die in Liszt's Genius und in allen Äußerungen desselben eine Verkörperung gefunden haben.

Liszt gab vom 1. März bis 17. Mai zehn eigene Koncerte in Wien,9 die ersten neun ohne Mitwirkung anderer Künstler, das Abschiedskoncert jedoch mit Orchester und Gesang.[270]

Daneben nahm er noch an Koncerten Anderer Theil: an einem von Bocklet (15. März), an einem ihm zu Ehren von der Wiener Literatur- und Musikwelt veranstalteten (am 18. März) mit Bankett, einem für den greisen A. Gyrowetz (am 21. März), einem von dem Liedersänger Hölzel (am 26. März), von Nicolais zum Sterbetag Beethoven's u.a. Desgleichen spielte er in einem Hof-Koncert (am 15. (?) März), an dem auch Pischek und Ernst mitwirkten, geleitet von seinem ehemaligen Mitschüler bei Salieri, dem Vice-Hofkapellmeister Randhartinger, nach welchem Kaiser Ferdinand I. ihm eine Brillantnadel mit der Namenschiffre verehrte, (am 18. Mai (?) in den Appartements der Kaiserin Mutter, wobei II. Majestäten der regierende Kaiser mit der Kaiserin, die Erzherzogin Marie Louise, die Vicekönigin von Italien und mehrere Prinzen anwesend waren. Vornehmlich wurde der Künstler von der Erzherzogin M. Louise, einer hohen Beschützerin der Tonkunst, auf das schmeichelhafteste ausgezeichnet.

Von Wien aus folgte der Künstler mehreren Einladungen anderer Städte und. koncertirte zu musikalischen und wohlthätigen Zwecken in Brünn (März), Prag (März), Olmütz (April), Grätz (14. Juni), Marburg (Juni), zu Bad Rohitsch, Agram (Juli), Oedenburg (3. Aug.) – von wo er einen Abstecher nach Raiding, jeder Schritt begleitet von guten Werken, machte – u.a. Städten.[271]

Den größten Theil des Sommers verbrachte er in Wien, den Juli in dem nahe gelegenen Dorfe Rodaun. Zu seinen steten Begleitern zählte S. Löwy, schon von früher ein enthusiastischer Anhänger und Freund Liszt's, den dieser durch die Widmung seiner hinreißenden Tanzpoesien »Soirées de Vienne« verewigt hat, Baron Lannoi, Dr. Gros, H. Ehrlich, Mortier de Fontaine, O. Nicolai, sein Onkel und Freund Eduard Liszt10, Haslinger, Spina, Fürst Metternich (nachmaliger Botschafter am französischen Hof), Dr. Becher, Graf Laurencin, Dr. Bacher u.a. Beinahe täglich unternahm der Künstler Ausflüge aufs Land, am häufigsten zu Dr. Bacher in Hietzing, zur Gräfin Jeanette Esterhazy, zu Haslinger in Rodaun, mit dem er sich gerne dem Sport des Kegelspiels und des Wettlaufens hingab, der seinem wohlbeleibten Freund Tobias doppelt zu gute kam. Oft auch besuchte er mit Balfe und Wallace den Volksgarten, Strauß'sche Weisen zu hören,11 die nächst Schubert's Walzern ihm die liebsten waren. Einmal spielte er sogar in einer Art Gartenkoncert, das Vater Strauß mit seiner meisterhaften Kapelle am 20. Juli zu einem wohlthätigen Zweck leitete. Es war ein musikalisches Fest in der reizenden Brühl, in dem herrlichen von pittoresken Formationen der Kalkfelsen umschlossenen Thale, unter einem italienischen Himmel, in der gewähltesten Gesellschaft, die in der heitersten Stimmung in zahlreichen Gruppen vertheilt war, – Liszt am Klavier, um ihn herum ein zahlreicher Kranz von Damen.

Sein bedeutendster Ausflug von Wien aus führte ihn indeß nach Budapest. Es war der zweite Besuch in seinem Vaterlande und fiel in die Zeit zwischen seinem neunten und seinem Abschiedskoncert in Wien. Zunächst reiste er nach Raab, um dem kunstsinnigen Bischof Stankowitz einen Besuch abzustatten und mit seinen Freunden, den Grafen Stephan Fay und Leo Festetics, zusammenzutreffen. Ersterer war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Zigeunermusik und als solcher in Ungarn sehr bekannt. Er hatte selbst mehrmals vorzügliche Zigeuner-Kapellen in seinem Dienst. Und auch jetzt führte er Liszt eine solche vor, die ihn bis tief in die Nacht hinein mit ihren Weisen und Improvisationen fesselte.[272]

Anderntags begab er sich nach Schloß Táka, wo er bei seinem Freunde Graf Leo Festetics zwei Wochen verbrachte.

Von hier reiste er nach Budapest. Die Aufregung der Erwartung seitens aller patriotischen Kreise und der gesammten Bewohner währte bereits Tage, ja Wochen vor seinem Kommen.12 Schon in Waitzen warteten seiner zwei Schiffe mit Magnaten, Würdenträgern und deren Damen. Mit Blumen förmlich beworfen erreichte er den Pester Landungsplatz, dessen Ufer von einer ungeduldig harrenden Volksmasse dicht besetzt war. Beim Landen betrat Stefan Széchenyi, der große Ungar, an der Spitze einer Deputation sein Schiff und bot mit einer Ansprache dem mit Ruhm Gekrönten den vaterländischen Willkomm. Am Ufer selbst erwartete ihn die gesammte Universitätsjugend in ungarischem Galakleid mit gezogenem Säbel, um ihm das Ehrengeleit zu geben. Längs der Donau aber, über die Wasser dahinschallend, füllten endlose Eljens! die Luft.

Liszt wohnte diesmal im Hôtel »zur Königin von England«. Die Ovationen währten bis tief in die Nacht hinein. Ein Fackelzug mit Serenade, ausgeführt von dem Orchester des ungarischen Nationaltheaters, dirigirt von Franz Erkel, mit ungarischen Kompositionen von diesem, Carl Thern und Johann Grill beschlossen dieselben.

Nun folgten wieder seine Koncerte, die von demselben jauchzenden, von Patriotismus durchglühten Enthusiasmus begleitet waren wie vor sechs Jahren. Der Schauplatz war der Redoutensaal und das Nationaltheater. Jede seiner Kunstäußerungen am Klavier wirkte wie mit zündender Gewalt. Insbesondere steigerte sich der Begeisterungssturm bis zur Trunkenheit beim Vortrag der von ihm bearbeiteten »Ungarischen National-Melodien«. Emrich Vachot13 gab diesem patriotischen Zusammenklang in seiner Zeitung »Pesti Divatlap« Ausdruck, indem er sagt:


»Liszt's Feuergeist hat die Musik aller Nationen erfaßt und ihren Charakter in sich aufgenommen. Dessenungeachtet ist doch die schönste, anmuthigste und duftendste Blume in dem Kranz seiner Triumphe die ungarische Melodie geblieben – die einfache zu[273] Herzen sprechende ungarische Melodie: sein theuerster Schatz und der unsere!«


Bleibenden dichterischen Ausdruck fand die allgemeine Begeisterung in des Deutsch-Ungarn Gustav Steinacker's Gedicht an Franz Liszt: »Dem Zauberer, der am Flügel Flügel webt«, in Koloman Lisznyai's: »An Franz Liszt« u.A.

Das Bild patriotischer Bestrebungen und Anregungen, wie es sich zwischen dem Künstler und den Ungarn 1839/40 entwickelt hatte, setzte sich fort. Neue Linien desselben Charakters traten hinzu. Seine Einnahmen wanderten wieder zum großen Theil in den vaterländischen Opferstock. Es war keine Schmeichelei, es war Wahrheit, wenn der Pester »Hirharang«, als der Künstler im Herbst eine Reise durch Ungarn machte, bemerkte: »Wenn jeder Ungar verhältnismäßig so viel für sein Vaterland thun würde, wie Liszt, so wäre die lange Reihe des zu Geschehenden bald – kürzer.« Unter die Ehrungen, die ihm in jener Zeit zu Theil wurden, gehört seine Krönung mit goldenem Lorbeer, das Diplom als Ehrenbürger, überreicht vom Bürgermeister Szépessi, das Geleit, nach einem zweiten Wohlthätigkeits-Koncert, seitens der Pester Bürger in Uniform mit Musik und Fackeln u.A.

Von Budapest aus suchte Liszt den braunen Sohn der Pußta in seinen Zelten auf und forschte, indem er seinen Melodien lauschte und sie sammelte, nach den Gesetzen ihrer Musik. Er wollte, nach seiner eigenen Erzählung, diese Horden lieber in Wäldern und Feldern, lieber in dem lärmenden pêle-mêle ihrer Wanderungen und Rastplätze, frei von dem die Kontraste der Leidenschaften und Stimmungen ihrer Altersstufen überdeckenden Firniß der Konvention wiedersehen, als in den dumpfen Straßen der Städte, deren Staub sie gerne abschütteln und vorziehen ihre Füße an Dorn und Ginster der öden Haide zu ritzen, als am holperigen Pflaster. »Wir sind zu ihnen allen, unter sie alle gegangen« – fährt er fort – »wir schliefen mit ihnen unter freiem Sternenhimmel, scherzten mit ihren Kindern, beschenkten ihre jungen Mädchen, plauderten mit den Heerführern und Häuptlingen und hörten ihrem Spiel vor ihrem eigenen Publikum beim Scheine ihres eigenen Feuers zu, dessen Herd der Zufall bestimmt, und fanden sie bereit, vor uns ihre Bestialisation zu verneinen, deren man sie anklagt.«14[274]

In seinem schon mehrfach berührten Buch über »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« entwirft Liszt ein farbenreiches Bild voll poetischer Schönheit von diesen Besuchen bei den Parias des Occidents, deren Musik ihnen den Zauber eines poetischen und psychologischen Problems verlieh, das zu durchforschen ein geheimer Trieb den Künstler immer wieder von neuem »zu entdecken« anspornte, unter welchem Himmelsstrich sich ihm eine Fährte auch bieten mochte. Wie der Natur- und Geschichtsforscher, der den geheimen Wink des noch Unbekannten in sich trägt, diesem unerläßlich, unüberwindlich sich ergiebt und so, kraft dieses geheimen Winkes, bald untergegangene, bald ungekannte und ungeahnte Welten und Schätze erschließt, so verfolgte Liszt die Spuren der Klänge, Rhythmen und Weisen jener der Civilisation sich entziehenden Volksstämme, um allmählich jenem Probleme das innewohnende Geheimnis zu entreißen und es als kunstfähiges Lebensreis mit der Kunst zu verbinden, worauf wir nochmals zurückkommen werden. Nur sei hier noch erwähnt, daß der Künstler sich keine Seite entgehen ließ, um zu einem Einblick und Urtheil aus eigener Erfahrung über die zigeunerische Fähigkeit zu gelangen. So wurde ihm auf Äußerung eines Wunsches vom Grafen Sandor Teleky ein äußerst musikalisch begabter Zigeunerknabe von zwölf Jahren nach Paris gesandt (1844) und ihm von seinem Freund zum Geschenk dargebracht. An diesem jungen Cygan, Jozy, der »die Gesichtsfarbe schwarzbraun, die Haare ein verwilderter Urwald, der Blick kühn, das Benehmen arrogant, als sei er über die größten Könige erhaben, eine Violine in der Hand,«15 vor ihn hintrat, machte Liszt seine musikalisch-erziehlichen Versuche, deren Resultate er in genanntem Buch niedergelegt hat, worauf wir verweisen.

Die Frucht jener Streifzüge trat noch in diesem Jahre in der Herausgabe des 5.–10. Heftes der »Ungarischen National-Melodien« unter dem Titel


Ungarische Rhapsodien (5.–10.)


hervor.16 Indeß war die Kritik nicht erbaut von ihnen. Werth und Bedeutung derselben sollten erst nach Jahrzehnten erkannt[275] werden. Die Leipziger »Neue Zeitschrift für Musik«17 sah in ihnen nirgends Eigenthümliches. Nur sagte sie bezüglich der »Melodien« (3. und 4. Heft?):


»Als Rarität müssen wir eine Kadenz aus einer langen Reihe von Quintsextakkorden bestehend, sowie die mehrfache Folge des B dur-Akkordes nach dem H moll-Akkord in parallelem Quintenfortschritt auf Seite 11 bezeichnen.«


Und bald darauf nennt sie indignirt die Ungarischen Rhapsodien: »übelangebrachte Spielereien«. Ihr Anathema esto! lautete:


»Hätte er, wenn er es nicht besser konnte, sich begnügt, sein »quasi Zimbalo«18 in einem dieser Gelegenheits-Virtuosenstücke anzubringen: man würde gelächelt, die Achseln gezuckt und die Sache vergessen haben. Allein der Spaß mag ihm und seinem Publikum so wohl gefallen haben; denn er kehrt mehrfach und in mehreren Heften wieder. Das fehlte uns noch, daß, nachdem man endlich die große Trommel und Becken von den Flügelpianoforten verbannt hat, der Klavierspieler selbst das Tambourin in den Koncertsaal einführte, als wenn da nicht neben einer nicht unbedeutenden Quantität Metall auch Kalb- und Eselsfell genug verbraucht würde, der Klavierpauker aus Profession nicht zu gedenken.«


Der Künstler wandte sich, wie wir bereits erzählten, wieder zurück nach Wien. Zu Anfang Oktober setzte er von da seine Koncertreise fort dem Osten zu, durchreiste Ungarn, Siebenbürgen, Südrußland, bis hinunter nach Konstantinopel. Sein Auftreten als Virtuos in Günz (Ende September), Szekszád, Temesvar (Oktober), Arad, Klausenburg (Dezember), Bukarest, Kiew (Februar 1847), Lemberg, Krzemienice, Czernowitz, Jassy u.a. Städten war von außerordentlichstem Erfolg, umgeben von Ehrenbezeigungen jeglicher Art. Als er Wien verließ, suchten seine dortigen Verehrer durch ein Notenpult, massiv in Silber, das sie ihm als Andenken verehrten, ihrer Sympathie Ausdruck zu geben.19 Eine auf ihn geprägte Medaille kursirte ebenfalls in[276] Wien.20 In Ödenburg wurde er zum »Gerichtstafelbeisitzer« (Gerichtsrath) des Ödenburger Komitats feierlichst ernannt. Die Freistadt Günz überreichte ihm das Diplom als Ehrenbürger, der dortige Musikverein das Diplom als Ehrenmitglied. Arad ernannte ihn ebenfalls zum Ehrenbürger und übergab ihm das Diplom unter Ausrückung des ungarischen Bürgerkorps. In anderen Städten, wie Temesvar, zogen ihm Empfangsdeputationen entgegen, und wieder andere, ebenfalls in Arad, gaben ihm das Ehrengeleit bis zum Weichbild der Stadt. Überall Festlichkeiten ohne Ende. Nur eine Stadt – Hermannstadt – pfiff ihn aus.

Im Juni traf er in Konstantinopel ein. Zu seinem großen Erstaunen wurde er mit einem Verhaftsbefehl empfangen und unter Begleitung vom Schiffe aus vor das Antlitz des Beherrschers aller Gläubigen geführt, was ihn in diesem Moment sehr belästigte, da er Zahnschmerzen und ein geschwollenes Gesicht hatte und einen Bund um die Backe trug. Die Sache klärte sich bald auf. Ein Pseudo-Liszt, ein Pianist List, hatte unter der Klangverwandtschaft des Namens sich vor Kurzem in Konstantinopel ein- und nicht unbedeutende Summen als Ernte seiner Künste mit fortgeführt. Man hielt ihn für den »großen Liszt« und den eben Angekommenen für einen Betrüger. Sultan Abdul Medjid-Khan erkannte baldigst die wahre Sachlage und entließ den Künstler unter Zusicherung seiner besonderen Huld. Liszt begab sich schleunigst in sein Hôtel und verlangte nach einem Zahnarzt. Man nannte ihm zögernd einen Deutschen. Er eilte dahin. Dieser rief, als er seiner ansichtig wurde, höchlichst erstaunt:

»Herr Doktor – Sie hier!«

»Kennen Sie mich denn?« entgegnete Liszt verwundert.

»Ich war 1842 in jedem Ihrer Berliner Koncerte – Sie aber werden in Konstantinopel mein einziger Patient bleiben.« –

»Wie so?«

»Als einem Ausländer und nach irgend einem Gesetzesparagraphen verweigert man mir die Ausübung meines Berufes.« –

»Ich werde helfen,« unterbrach ihn Liszt schnell.[277]

Am 8. Juni spielte er in den Gemächern des Sultans zu dessen höchstem Staunen. Ein Moslime äußerte: es seien schon mehrere Virtuosen im Serail gehört worden, aber keiner, »der so schnell« seine Finger bewegt habe. Die Gunst des Herrschers wendete sich dem Künstler zu. Schon nach einigen Tagen hielt der Zahnarzt die geschriebene Genehmigung des Sultans zum Prakticiren in Konstantinopel in seinen Händen.

Liszt dankte ihm für diesen und manchen anderen Huldbeweis mit der Widmung seiner:


Grande Paraphrase

über einen Marsch von Donizzeti,21


der sich des besonderen Beifalls des Abdul Medjid-Khan erfreut hatte. Dieser aber zeichnete ihn vor seiner Abreise durch Zusendung einer goldenen Dose mit der großherrlichen Namenschiffre in Brillanten aus.

Von Konstantinopel begab sich der Künstler nach Odessa (Juli). Es war gerade zu einer Saison, in der die vornehmen und genußliebenden Grundbesitzer Süd-Rußlands mit ihren Familien sich hier erfrischten.

Zudem war in der Nähe, in Elisabethgrad, eine große Militär-Revue, welche unter den Augen des Kaisers Nicolaus I. abgehalten wurde, was einen großen Theil der vornehmen Welt der russischen Hauptstadt ebenfalls dahin zog. Ein Leben mit orientalischer Pracht und Üppigkeit herrschte und schlang sich wie bunte Guirlanden von Riesenblumen um die weltberühmte, glänzende Künstlererscheinung, deren Feier in- und außerhalb des Koncertsaales vom high-life dieser Saison unzertrennlich blieb. Seine zehn Koncerte,22 unter denen wieder so und so viele edlen Zwecken galten, bildeten eine Art Mittelpunkt der Gesellschaft.

Der Einladung eines der kommandirenden Generäle, Osten-Sacken, nachkommend, besuchte er im Spätsommer von Odessa aus Elisabethgrad und gab hier einige Koncerte im Theater. Diese Koncerte wurden für Liszt von Bedeutung: hier war das letzte Koncert, dessen Ertrag ihm zufiel und mit welchem er seine Virtuosenlaufbahn abschloß.

Fußnoten

1 Siehe I. Bd. des Werkes S. 289.


2 Über den persönlichen Verkehr zwischen A. Dumas und Liszt erzählt Janka Wohl. (»Franc. Liszt.« Paris, P. Ollendorff, 1877, S. 76.)


3 Nach einer Notiz des »Monde musical« vom 3. Juli 1845.


4 Edirt 1846 (Febr.): Schott's Söhne in Mainz.

Edirt 1876, zweite Ausgabe mit Orchesterbegleitung, ebendas.


5 In Baden-Baden, Tonkünstler-Versammlung, 1880; Berlin, 11. Okt. 1886, unter K. Klindworth zur Gedächtnisfeier des dahingeschiedenen Meisters.


6 »A.M.Z.« 1846, S. 224.


7 »Wiener Allg. M.-Z.«, 1846, Nr. 28, S. 109.


8 Siehe »Wiener Allg. M.-Z.«, 1846, Nr. 28, 29, 35, 37, 42 u.f.


9 Programm des I. Koncerts am 1. März im Saale der Gesellschaft der Musikfreunde: Don Juan-Fantasie von Liszt, seine Übertragung desAve Maria und »Erlkönig« von Schubert, Es dur-Sonate op. 27 von Beethoven, Marche funèbre (Motive aus »Dom Sebastian«) und Ungarische Weisen, bearbeitet von Liszt.

II. Koncert am 5. März, ebendaselbst: Rossini's Wilhelm Tell-Ouvertüre, für Klavier, »Au lac de Wallenstadt« und »Au bord d'une source« von Liszt, C dur-Fantasie von Schubert, zwei Etüden von Chopin, die Norma-Fantasie und Ungarische Weisen.

III. Koncert am 8. März, ebendaselbst: F moll-Sonate op. 57 von Beethoven, Liszt's Robert-Fantasie und Sonette nach Petrarca, Präludium und Fuge von J.S. Bach, Hexameron.

IV. Koncert am 11. März, ebendaselbst: Liszt's Lucia-Fantasie (Andante Finale), Scherzo (Fism.) von Mendelssohn, Fantasie op. 27 von Czerny, zwei Mazurken von Chopin, Ungarisches Divertissement von Schubert, Sonnambula-Fantasie von Liszt.

V. Koncert am 17. März, ebendaselbst: Liszt's Hugenotten-Fantasie, seine Übertragung des Pilger-Chores von Berlioz, As dur-Sonate op. 26 von Beethoven, Liszt's Übertragung der Tarantelle von Rossini, Mazurka von Chopin, Übertragung der Polonaise der »Puritaner« und der Taubenpost Schubert's, Galop chromatique von Liszt.

VI. Koncert am 22. März, ebendaselbst: Dom Sebastian-Paraphrase von Kullak, Schubert's Ziegenglöcklein und Forelle, übertragen von Liszt, A dur-Sonate op. 101 von Beethoven, »Aufforderung zum Tanz« von Weber, Chromatische Fantasie und Fuge von J.S. Bach, Lucrezia Borgia-Fantasie von Liszt.

VII. Koncert am 27. März, ebendaselbst: »Oberon«-Ouvertüre für Klavier von Liszt, C dur-Fantasie von Schubert, Capriccio über Pacini's »I tuoi frequenti palpiti« von Liszt, »Les tourments« und »La persecution« von Schachner, C moll-Var. von Beethoven.

VIII. Koncert am 31. März, ebendaselbst: As dur-Sonate op. 110 von Beethoven, Russische Melodie von Döhler, »Das Nachsinnen« von Licke; von Liszt: die Übertragungen »Romanesca«, »Serenade et Orgia«, sodann»Harmonies poëtiques« (?), Reminiscences d'Espagne und Don Juan-Fatasie.

IX. Koncert am 4. April, ebendaselbst: Liszt: Oberon-Ouvertüre und Adelaide, Robert-Fantasie, Marsch von Schubert (zu zwei Händen von Liszt), Suite von Händel, Sonnambula- Fantasie (Liszt).

X. Koncert, Abschiedskoncert, am 17. Mai, ebendaselbst: Es dur-Koncert von Beethoven, eine italienische Arie von Frl. Sulzer, Gr. Bravour-Var. für Klavier und Orchester von Czerny, »Il m'aimait tant« und »Comment disaient-ils« von Liszt, gesungen von Frl. Treffz, begleitet vom Komp., Erkel's »Hunyadi Làszlo-Ouvertüre (dir. von Liszt), Ung. Melodien nach Schubert, Tarantelle (nach Auber) von Liszt, Koncertstück von Weber.


10 Siehe I. Bd. dieses Werkes, S. 6.


11 Nach I.N. Dunkl (ein Schüler und Schützling Liszts von 1846), »Aus den Erinnerungen eines Musikers«. Wien, L. Rosner, 1876.


12 Nach I.N. Dunkl's »Erinnerungen etc.«; Wiener allg. M.-Z. 1846, Nr. 59 u.f.


13 Der Bruder des ungarischen Patrioten und Dichters, des unglücklichen Alexander Vachot.


14 Fr. Liszt's »Gesammelte Schriften« VI. Bd., S. 136.


15 Ebend. S. 165.


16 1846 und 1847: Wien, Haslinger. (Siehe III. Kap. S. 52.)


17 1845, XXV. Bd. Nr. 1.


18 Hieraus ist zu ersehen, daß derartige so wichtige Fingerzeige erst durch Liszt Anwendung fanden. Jetzt sind sie eingebürgert. H.v. Bülow z.B. hat seiner Herausgabe der Beethoven-Sonaten durch Bemerkungen wie: quasi flauti, quasi Violoncelle etc. dem Spieler durch nichts zu ersetzende Aufschlüsse über den Vortrag gegeben.


19 Dieses Notenpult wurde nach des Meisters Tod der »Gesellschaft der Musikfreunde« zu Wien 1887 zum Andenken übergeben.


20 Sie war von C. Lange gravirt. Die Aversseite zeigte den Kopf des Künstlers mit der Umschrift:»Franz Liszt. Nostri Saeculi Clavichordi Orpheus«. Die Reversseite trug die Inschrift: »Perituris sonis, non perituragloria. Vindobona MDCCCXLVI.«


21 Edirt 1847: Schlesinger in Berlin.


22 Drei im großen Börsensaal, eins im »Hôtel Richelieu«, sechs im Theater.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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