Zehntes Kapitel.

Gluck – Händel und Bach.

In engerer Beziehung nach ihrer künstlerischen Schaffensthätigkeit stehen nur die letztgenannten beiden Meister: Händel und Bach; Gluck ist ihnen anzureihen, weil auch er, unter dem Einfluß ähnlicher Ideen schaffend, auf seinem Gebiete eben so die letzten Consequenzen zog, wie jene auf ihren Gebieten.

Bis weit in das sechzehnte Jahrhundert hinein wurde der Gang der Entwickelung unserer Kunst fast ausschließlich durch die Kirche beeinflußt; unter der Herrschaft der religiösen Ideen waren namentlich die Vocalformen, und zwar als mehr- und vielstimmige, in großer Fülle ausgebildet worden. Der neue Geist, der seit dem vierzehnten Jahrhundert auch in Deutschland zum Durchbruch gelangte und in der Reformation sich gipfelte, ließ dann das Volkslied mächtig emporblühen und unter seinem treibenden Einflusse erlangte auch die weltliche Musik und mit ihr die Instrumentalmusik größere Beachtung und selbständige Ausbildung. Die Pflege des einstimmigen Gesanges führte dann zu jener Umgestaltung der dramatischen Formen, aus welcher die Oper und das Oratorium als die höchsten Producte dieser ganzen Entwickelung hervorgingen.

[188] Als Bach und Händel im Beginne des achtzehnten Jahrhunderts in ihre künstlerische Laufbahn eintraten, hatte sich die gesammte Musikpraxis schon in den verschiedensten Richtungen verzweigt und zum Theil hoch bedeutsame Resultate gewonnen. Das siebenzehnte Jahrhundert hatte nicht nur auf kirchlichem, sondern auch auf weltlichem Gebiete eine große Menge neuer Musikformen erzeugt und die alten entsprechend umgestaltet. Die Vocalformen des protestantischen Cultus: Choral und Motette namentlich waren nicht einflußlos auf die Entwickelung des, nun sich bildenden Instrumentalstils geblieben. Für den Orgelstil wurde hauptsächlich der Choral grundleglich, für den Clavierstil, ebenso wie für den Stil der andern Instrumente das weltliche Lied, die Motette und vor allem der Tanz.

Zu besonderer Blüthe war, unter dem siegenden Einflusse der Gewalt italienischen Gesanges, die italienische Oper gelangt, die bald auch in andern Ländern festen Boden faßte und auf die gesammte Musikpraxis in Deutschland, Frankreich und England entscheidende Einwirkung gewann. Sie fand bald überall an den Fürsten aller Länder Schützer und Beförderer und half dem entsprechend auch den Gang der gesammten Musikpraxis bestimmen.

Wie Händel und Bach, so fand auch Gluck früh seine ersten Anregungen zur Musik im Kirchendienst, aber doch unter wesentlich andern Bedingungen. Jene beiden, früh mit dem Geiste des Protestantismus genährt, erhielten ihre specielle Ausbildung für ihren Beruf in der Organistenschule; sie wurden hier mit den künstlicheren Formen des Vocalstils eben so bekannt gemacht, wie mit deren bereits erfolgender Uebertragung auf den Instrumentalstil, und sie wußten diesen dann eben so kunstvoll zu gestalten, als sie ihm ihre Thätigkeit widmeten, wie jenen. Als Händel seinen Kirchendienst verließ und in Hamburg sich dem Dienste der italienischen Oper zuwendete, gab er dabei sein ernstes Kunststreben nicht auf, sondern er war bemüht, durch die, in ernsteren Studien gewonnene Technik die Oper selber kunstvoller zu gestalten, sie auf eine höhere Stufe ihrer Bedeutung zu stellen. Das ist es, wodurch sich hauptsächlich diese italienischen Opern Händels von den frühesten Glucks unterscheiden. Dieser Meister war früh[189] durch die eigene Art des katholischen Cultus und der diesen begleitenden Musik auf das mehr sinnlich reizvolle Element derselben geführt worden und sein weiterer Bildungs- und Lebensgang hatte ihn in dieser Richtung energisch weiter gebracht. Die Unterweisung Sammartini's beschränkte sich wol hauptsächlich darauf, ihn mit den schlagendsten, dramatisch wirksamsten Mitteln musikalischen Ausdrucks bekannt zu machen, das bezeugen seine ersten Opern. So wirksam, wie Gluck schon hier, hat Händel niemals die italienische Cantilene zu verwenden verstanden. Händels Arien sind vielmehr liedmäßig construirt, aus einzelnen, meist kurzen Motiven zusammengestellt und in der Regel sehr kunstvoll ineinander gefügt. Glucks Arien sind dagegen vielmehr darauf berechnet, den Klang der Stimmen zur höchst möglichen sinnlich reizvollen Entfaltung zu bringen, sie erheben sich meist zu großem Schwunge, in breit austönenden Phrasen. So schwungvolle Arien wie die, in den Notenbeilagen mitgetheilten: »Se mai senti spirarti sul volto« oder »Getta il nocchier talora« dürften wir in Händels italienischen Opern vergeblich suchen, während wieder dessen seines architektonisches Gefüge kaum eine der Gluck'schen Arien zeigt. Darauf vor allem beruht es, daß beide Meister schließlich nach ganz verschiedenen Seiten gedrängt wurden, daß Händel die äußere Darstellung bei seinen dramatischen Werken ganz aufgab und das Oratorium zur höchsten Höhe führte, während Gluck gerade die äußere Darstellung, die Scenerie zu einem Hauptfactor machte und diese eingehend bei seiner Musik mit in Rechnung zog.

Auf diesem Wege schuf Händel mehrere Opern, die an Kunstwerth Alles übertreffen, was die italienische Oper überhaupt zu leisten vermochte. Er hatte sich nicht nur den ganzen dramatischen Apparat derselben zu vollständiger Herrschaft angeeignet, sondern war auch zugleich mit den Formen des künstlichen Contrapunkts vertraut und das giebt seinen Opern größeren künstlerischen Werth. Der Stil der älteren italienischen Oper kommt dadurch bei ihm zu entschieden höchster Ausgestaltung, aber das ist doch nur von zeitlicher Bedeutung. Die italienische Oper konnte nach dieser Seite zu keiner weiteren Entwickelung[190] mehr gelangen, sie mußte umgeformt werden in dem Sinne, wie das Gluck that.

Zwanzig Opern hatte dieser im Stile der alten italienischen Oper geschrieben, als er, ein gereifter Mann, seine Reform begann. Diese war demnach nicht das Product jugendlichen Dranges nach Neuerung, sondern das Ergebniß reicher Erfahrung und des eingehendern Kunstverständnisses. Giebt er doch selber in einer vollständigen Abhandlung, in der Dedication, mit welcher er seine Oper »Alceste« dem Großherzog von Toscana widmete, darüber ausführlich Rechenschaft.

Er spricht in ihr seine Anschauung vom Wesen der dramatischen Musik so klar aus, daß man nicht begreift, wie er bis auf den heutigen Tag so mißverstanden werden konnte. Offen bekennt er, daß er nicht entfernt daran dachte, den alten Organismus der Oper aufzulösen, die Formen desselben zu zertrümmern, oder auch nur allmälig verwildern zu lassen. Er will nichts weiter, als jedem einzelnen Theil derselben nach seiner eigensten Ueberzeugung den rechten Platz anweisen. Er suchte damit nur die Musik zu ihrer wahren Bestimmung zurückzuführen, das ist: die Dichtung zu unterstützen, um den Ausdruck der Gefühle und das Interesse der Situationen zu verstärken, ohne die Handlung zu unterbrechen, oder durch unnütze Verzierungen zu entstellen. Er glaubt, »die Musik müsse für die Poesie das sein, was die Lebhaftigkeit der Farben und eine glückliche Mischung von Schatten und Licht für eine fehlerfreie und wohlgeordnete Zeichnung sind, welche nur dazu dienen, die Figuren zu beleben, ohne die Umrisse zu zerstören.« Demnach hütet er sich: »den Schauspieler im Feuer des Dialogs zu unterbrechen, um ihn ein langweiliges Ritornell abwarten zu lassen, oder plötzlich mitten in einer Phrase bei einem günstigen Vocale aufzuhalten, damit er entweder in einer langen Passage die Beweglichkeit seiner schönen Stimme zeigen könne, oder abzuwarten, bis das Orchester ihm Zeit lasse, Luft zu einer langen Fermate zu schöpfen.« Er ist weit davon entfernt, die Form der Arie auf zu geben, und sie in seiner Oper durch das Recitativ zu ersetzen, ganz im Gegentheil will er über die zweite Hälfte der Arie nicht rasch hinweg gehen, »wenn diese vielleicht der leidenschaftlichste [191] und wichtigste Theil ist, nur um regelmäßig viermal die Worte der Arie wiederholen zu können; und er erlaubt sich auch nicht die Arie dort zu schließen, wo der Sinn nicht schließt, nur um dem Sänger Gelegenheit zu verschaffen, seine Fertigkeit im Variiren einer Stelle zeigen zu können.« Nur nicht für diesen und seine selbstischen, unkünstlerischen Zwecke will er die Arie verwendet wissen; sie soll immer einer der Hauptfactoren der dramatischen Wirkung sein. Einzig in diesem Sinn will er auch die übrigen Formen und Instrumente eingeführt wissen. Jene sollen nicht nur unterhalten und diese nicht nur mit langweiligen Ritornellen die Handlung unterbrechen.

Er verlangt mit vollem Recht: daß die Ouvertüre den Zuhörer auf den Charakter der Handlung, die man darzustellen gedenkt, vorbereiten und ihm den Inhalt derselben andeuten soll; daß die Instrumente immer nur im Verhältniß mit dem Grade des Interesses und der Leidenschaft angewendet werden müssen, und daß man vermeiden solle, im Dialog einen so großen Zwischenraum zwischen dem Recitativ und der Arie zu lassen, um nicht, dem Sinn entgegen, die Periode zu unterbrechen und den Gesang und das Feuer der Scene am unrechten Orte zu stören.

Weiterhin glaubte er »einen großen Theil seiner Bemühungen auf die Erzielung einer edlen Einfachheit verwenden zu müssen«, daher vermied er es auch, auf Kosten der Klarheit mit Schwierigkeiten zu prunken; er hat niemals auf die Erfindung eines neuen Gedankens irgend einen Werth gelegt, wenn er nicht von der Situation selbst herbeigeführt und dem Ausdruck angemessen war.

Wir haben an den einzelnen Werken nachzuweisen versucht, wie Gluck allmälig diese Reform vollzieht. Wir zeigten, wie seine Ouvertüren, anfangs nur Einleitungen, die ganz entfernt mit der eigentlichen Handlung in Zusammenhang stehen, allmälig zu wirklichen Orchesterprologen werden, die uns auf das Kommende durch ganz directe Hinweise vorbereiten. Es wurde dort dargethan, wie schon die Ouverture zu »Orpheus« auf Vorgänge hinweist und wie die Motive immer bedeutsamer und inhaltvoller werden, immer mehr den Charakter [192] des bloßen Tonspiels abstreifen. Die Wirkung durch den Contrast, welchen die alte Schule in ihrer weitschweifigen Weise durch verschiedene rhythmisirte Sätze zu erreichen suchte, wird jetzt wirksamer in einem Satze durch Entgegensetzen verschieden charakterisirter Motive gewonnen. Ein noch bedeutsamerer Fortschritt ist in den Chören erreicht: diese waren aus der italienischen Oper fast ganz herausgeworfen; Gluck führt sie wie der ein und macht sie zugleich zu wesentlichen Factoren der dramatischen Wirkung. Er geht auf die knappe Liedform zurück, indem er sie aber mit den Mitteln seiner reicheren und auch in lebendigerer polyphon dargestellter Harmonik ausstattet, wird der Chor eine wirkliche dramatisch wirkende Macht.

Die bedeutendste Umgestaltung aber erfuhren durch ihn Recitativ und Arie. An Stelle der leichten, fast leichtfertigen Declamation des Recitativs, wie sie in der älteren italienischen Oper geübt wird, tritt jene, mit dem reichsten Verständniß erwogene, nach welcher nicht nur jedes Wort nach seiner logischen Bedeutung, sondern zugleich auch in dem Bestreben betont wird, durch die Summe der so gewonnenen Accente zugleich einen Gesammtausdruck der Stimmung zu gewinnen.

Ganz in derselben Weise gelangt Gluck auch zu der neuen Arienform. Im »Orpheus« und selbst noch in der »Alceste« hält er noch mehr an der behaglichen Breite, mit welcher die italienische Oper die eine Stimmung austönt, fest; erst mit »Iphigenie in Aulis« hat er die knappe Arienform ganz gewonnen, die schlagfertig Personen Situationen und Stimmungen zeichnet, und damit erst ist die Reform der Oper als beendet zu betrachten. Die Bedeutung derselben wird viel zu einseitig bezeichnet, wenn man nur auf die Vortrefflichkeit der Declamation, auf die tiefe psychologische Wahrheit des Wortausdrucks hinweist. Durch sie wird die Verständlichkeit des, die Handlung motivirenden Dialogs befördert, und seit Lully und Rameau waren die französischen Componisten bestrebt, diesen Anforderungen möglichst treu zu entsprechen, und daß Gluck nach dieser Richtung von ihnen lernte, wissen wir. Allein mit dieser, auch noch so sein abgewogenen Declamation ist doch im Grunde nur wenig gewonnen; der eigentliche Nerv der Handlung, die substanzielle Empfindung wird davon nur wenig [193] berührt. Erst in den völlig ausgeprägten Musikformen kommen die, den dramatischen Verlauf bedingenden psychologischen Prozesse zu sinnlich gegenwärtiger Erscheinung, und darauf beruht Glucks ungleich höhere Bedeutung, daß er die lyrische Empfindung auf ihre Pointen zusammengefaßt, im engsten Anschluß an das Wort, aber doch in selbständigen, abgeschlossenen Tonformen zu zwingendem Ausdrucke bringt. Diese Fähigkeit hatte er aus seiner Thätigkeit auf dem Gebiete der italienischen Oper sich erworben. In ihr ist Alles Form und Stimmung, und die Arie bot den vollständigsten Apparat für den Erguß der verschiedensten Empfindungen; aber er erschien für den Fortgang der dramatischen Handlung zu weitschweifig; Gluck rückte ihn, deshalb zusammen, er entkleidete ihn von allem Unwesentlichen und beseelte ihn durch seine schärferen Wort- und Gefühlsaccente. Die charakteristischen Intervallenschritte des recitativischen Gesanges werden jetzt auch der Arie einverleibt und diese gelangt dadurch nicht nur zu dramatischer Wahrheit, sondern auch zu einer Innigkeit der Empfindung, welche die Oper bisher nicht kannte. Die Personen, welche uns in der Oper vorgeführt werden, gewinnen dadurch, daß die einzelnen Gefühlsausbrüche aufeinander bezogen werden, Charakter und die Handlung wird dramatisch belebt. Diese knappen Formen stattet der Meister dann mit einer reicheren Harmonik und einer unendlich verfeinerten Instrumentation aus, daß man seinem eigenen Ausspruche: »daß er beim Schaffen vor allem den Musiker zu vergessen sucht«, eine andere Bedeutung geben muß, als in der Regel geschieht. Gluck war und blieb Musiker in der wahren Bedeutung des Wortes: seine Harmonik ist nicht so tief und reich wie die eines Bach oder Händel, aber sie überragt doch alle früheren und gleichzeitigen Erscheinungen auf dem Gebiete der Oper ganz bedeutend und seine Instrumentation ist ganz eigenthümlich und steht der unsrigen näher, als die eines Händel oder Bach. Die eigentlichen Aufgaben dieser Meister erforderten einen Stil, der mehr auf dem Vocalstil basirt, der den Klang weniger in seiner sinnlichen Gewalt wirkend erscheinen läßt; daher wird auch der Orchesterstil beider immer noch mehr nach vocalen Principien gebildet, die einzelnen Instrumente werden von ihnen vielmehr nach ihrem Ton- und weniger [194] nach ihrem Klangvermögen verwendet. Glucks besondere Aufgaben führten ihn dem entgegen darauf, den Orchesterstil Rameau's weiter zu bilden, die Instrumente weniger an der Polyphonie des Gesanges Theil nehmen zu lassen, sondern mit den Klängen einzelner Instrumente besondere Farben und dadurch eigenthümlichere Wirkung hervorzubringen. Gerade nach dieser Richtung erzielte Gluck besondere Erfolge. Solche Wirkung, wie er mit seinen Posaunen in der Ouvertüre zur »Alceste« oder durch ihre Verbindung mit Fagotten und Hörnern bei dem »Dieu puissant« des Oberpriesters, oder mit den Clarinetten, Oboen und Hörnern in der dritten Scene des zweiten Acts in der »Armida« und in vielen anderen erreichte, hatte vor ihm noch kein Operncomponist hervorgebracht. Daher darf man jene Aeußerung Glucks auch nur dahin verstehen, daß er nur den italienischen Musiker vergessen mußte, der, unbekümmert um die dramatische Entwickelung, diese in einzelne lyrische Ergüsse auflöste, um jede dann in einem möglichst weit ausgesponnenen Tonsatze darzulegen.

Er mußte vergessen, daß man damals von dem Musiker den größten Aufwand aller nur sinnlich reizenden und rührenden Mittel verlangte, und diese Rückhaltung, mit der Unterordnung unter Text und Situation, die im Ausdrucke des Wortes und der musikalischen Darstellung des ethischen Hintergrundes der ganzen Handlung höchste Aufgabe sah und sich scheute, in Ritornellen, Zierrathen und Cadenzen die Handlung zu unterbrechen, machte Gluck zum Schöpfer der Oper seiner Zeit, der sogenannten heroischen Oper. Diese versetzt uns, wie das klassische Epos, dem sie ihre Stoffe entnimmt, in die, aus der Gemüthswelt der mythischen Zeit entwickelte Welt der Heroen. Diese ist nicht geradezu erträumt, sondern sie ist der wirklichen Welt nachgebildet, aber aller Zufälligkeiten der äußeren Erscheinungsform enthoben, und darum gewaltiger und erhabener. Es ist eine ruhig sich ausbreitende, objective Welt; ihre Helden erscheinen als allgemeine Typen menschlicher Kraft und so muß sie die Tonkunst zeichnen; eben ihrer Allgemeinheit halber schließen sie eine feinere Charakteristik aus. So hat sie Gluck hinzustellen verstanden, wie keiner außer ihm, weil er sich ihnen unterordnete. Deshalb gab er eine ganze Reihe musikalischer Darstellungsmittel [195] der italienischen Oper auf und verengte diese formell ganz bedeutend. Einer solchen Rückhaltung war jener andere Meister, der gleichfalls die eine Hälfte seines Lebens der italienischen Oper gewidmet hatte: Georg Friedrich Händel, nicht fähig. Er war im Gegentheil bemüht, den ganzen Apparat der italienischen Oper nicht nur nicht zu verengen, sondern zu erweitern, damit die theatralische, die scenische Darstellung überflüssig würde. Er giebt nichts von den Mitteln der italienischen Oper auf, sondern er erweitert sie vielmehr und erfüllt die breiten Formen derselben, die er auch auf den Chor überträgt, mit seinem gewaltigen, von den Wunderthaten der alten Geschichte erfüllten Geist, wozu ihn seine Meisterschaft im Contrapunkt vollständig befähigte. Er entkleidet die Darstellung seiner Stoffe von allem äußern Beiwerke: Decoration, Action und Costüm und läßt die Handlung nur vor unserm inneren Auge vorüberziehen; sie entwickelt sich nur nach ihrem inneren Verlauf, nach ihren psychologischen Prozessen, an deren lebendiger, unmittelbarer Darstellung die Tonkunst den lebhaftesten Antheil nimmt; und was sie hier vermag, das hat Händel in solchem Umfange, in solcher Meisterschaft zuerst gezeigt. In unmittelbarem Anschluß an die Situationen schafft er Tonbilder, die den ganzen dramatischen Verlauf nur auf sich selbst bezogen, zu unmittelbarer, erschöpfender Anschauung bringen, und die, weil sie nicht schnell an uns vorüberziehen, Raum gewähren, sich in sie zu vertiefen. Damit ist die Form gewonnen, in welcher uns eine ganze Reihe dramatischer Stoffe – wie beispielsweise die der heiligen Geschichte entlehnten – vorgeführt werden können. Diese Stoffe sind auch durch die imposanteste Theaterwirklichkeit nicht in ihrer ganzen Größe darzustellen; dies muß der Fantasie überlassen werden, und um dieser den Aufbau der Handlung zu erleichtern, bietet die Musik ihre wirksamsten Mittel auf und verwendet sie zu ausführlichster auch in das Einzelne eingehendster Darstellung. Um der Phantasie Zeit und Anregung zu gewähren, sich in den Stoff ganz zu vertiefen, muß sie sich vielmehr ausbreiten, muß umständlicher werden. Recitativ und Arie erscheinen daher hier in erweiterter Form als bei der Oper und ebenso auch die Ensemblesätze. Reiche Verwendung findet auch die Instrumentalmusik, durch deren wirksamere Betheiligung hauptsächlich [196] die Scenerie u. dgl. ersetzt werden kann. Eines der mächtigsten Hülfsmittel oratorischer Darstellung wird der Chor, der eine Ausdehnung gewinnt, wie niemals in der Oper und in allen Formen, von der einfachsten bis zur künstlichsten zur Verwendung kommt. Die Größe der Anschauung und Sicherheit in der Ausführung, die zu einer solchen Darstellung gehört, hatte Händel entschieden durch seine langjährige Thätigkeit innerhalb der italienischen Oper sich angeeignet. Seine ersten derartigen Werke: »Esther« – »Deborah« – »Athalia« – weisen noch auf theatralische Darstellung hin; erst mit den späteren gewaltigeren Werken: »Israel in Aegypten« – »Saul« – »Messias« – »Samson« – »Judas Makkabäus« und »Josua« schuf er die unvergänglichen Meisterwerke dieser Form. Diese Stoffe in ihren großartigsten und allgemeinsten Beziehungen zur Weit und Weltgeschichte aufzufassen und so darzustellen, das war Händels eigenste Mission und dem entsprechend mußte sich auch sein Stil anders gestalten, wie der eines Gluck, dessen Stoffe einer andern Welt angehören und die zu ihrer Darstellung des äußeren sinnlichen Apparats bedürfen.

In anderer Richtung fand endlich Joh. Seb. Bach seine Aufgabe, ebenfalls durch seinen Lebensgang bedingt. Wie Händel, war auch er aus der Organistenschule hervorgegangen, dabei aber hatten ihn seine Stellungen in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, in Köthen und in Leipzig dazu geführt, die Musik als die Kunst des Ausdrucks der persönlichsten Empfindungen des Einzelnen zu erfassen. Das Orgelspiel während des Gottesdienstes und ebenso die Kirchenmusik sollen den persönlichen Antheil, den die Gemeinde am Gottesdienst nimmt, leiten, regeln und erhöhen. Das persönliche Empfinden eines jeden Einzelnen soll durch Beides hinübergeleitet werden in die Stimmung ehrfurchtsvoller Anbetung, demüthigen Gebetes, hochheiligen Jubels und Dankes. Diese Aufgabe ist eine wesentlich andere als jene, welche Händel zu lösen früh schon begann, wenn sie auch in ihren Ausgangs- und Endpunkten zusammentreffen. In Köthen aber, wo Bach nicht für das religiöse Bedürfniß zu sorgen hatte, diente er dem künstlerischen seines Fürsten. In diesem Sinne schrieb er seine Clavierwerke und seine Kammermusik, die deshalb ebenso wie seine kirchlichen Werke der [197] Ausdruck des rein persönlichen Empfindens des Meisters werden mußten; und in der Zeit, in welcher er ähnliche Stoffe behandelt, wie Händel, stand er wieder inmitten einer Gemeinde, auf deren persönliches Empfinden er direct Einfluß gewinnen mußte und wollte. Dem entsprechend aber schrieb er nicht eigentlich Oratorien, sondern Passionsmusiken, Messen, ein Magnificat und Cantaten. Die Passionsmusik ist das Oratorium, an welchem die Gemeinde direct Antheil nehmen muß. Jeder Einzelne soll des Opfertodes des Erlösers theilhaftig werden, und so ist es ganz selbstverständlich, daß er bei dem Oratorium auch seine Stimme erhebt, im Choral. Dieser durchaus veränderte Standpunkt, welchen Bach seinen Stoffen gegenüber einnimmt, giebt ihm auch eine veränderte und größere Bedeutung für die Kunstentwickelung.

Mit seinen monumentalen dramatischen Werken hat Gluck die Form der Oper künstlerisch organisirt, so daß sie grundleglich für die ganze weitere Entwickelung geworden ist, und die besondere Weise seiner Instrumentation blieb nicht ganz ohne Einfluß auf die neue Organisation des Orchesters; allein dieser er streckt sich nicht weiter, als, wie früher nachgewiesen wurde, auf die reichere Verwerthung des Klangwesens. In ganz gleicher Weise stellte dann Händel die Form des Oratoriums für alle Zeiten fest. Außerdem componirte Händel auch eine Reihe von Instrumentalwerken, die indeß weder an sich, noch für die Kunstentwickelung bedeutungsvoll geworden sind. Er schrieb sie fast ausschließlich für praktische Zwecke, für seine hocharistokratischen Schülerinnen und für seine öffentlichen Aufführungen. Die Vertiefung, welche diese mehr dem individuellen Ausdruck dienenden Formen erfordern, lag außerhalb seiner Aufgabe. Diese fiel vielmehr jenem Meister zu, der selbst die großartigsten weltgeschichtlichen Ereignisse in ihrer Einwirkung auf das Gemüth erfaßte, Joh. Seb. Bach.

Dieser Meister hatte sich alle instrumentalen Mittel und Formen seiner Zeit angeeignet, nicht nur die contrapunktischen und die Tanzformen der Suite, die Form der Sonate u. dgl., sondern auch die freieren der Variation, des Präludiums und der Fantasie, und indem er sie mit eben dem tiefen Inhalte erfüllte, wie seine Vocalformen, gab er den [198] meisten nicht nur monumentale Bedeutung, sondern erweckte mit ihnen zugleich jenen neuen Geist, der nunmehr der Musikentwickelung eine neue Richtung gab. So vollendete sich in ihm die Kunst als christliche Kunst und trat zu gleich als weltliche, als selbständige Instrumentalmusik in bisher nicht gekannter Weise in die Erscheinung.

Das, den drei großen Meistern Gemeinsame ist demnach, daß sie alle drei unter dem Einfluß der höchsten und heiligsten Ideen, die zugleich die wesentlichsten und treibenden des menschlichen Lebens sind, künstlerisch schaffend thätig waren; bei Gluck offenbaren sie sich nach ihrer Erscheinungsweise in der antiken, bei Händel und Bach in der christlichen Welt; jener erfaßte die Ereignisse dann mehr nach ihrer großen welthistorischen Bedeutung, dieser nach ihrem Eindruck auf die persönliche Empfindung, und er bereitet damit die neue Richtung vor, in welcher das gemüthliche Verhalten zur Natur, der Liebe Lust und Leid, Form und Klang in der Musik gewinnen, die Wunder der Schöpfung und auch profane Weltbegebenheiten auf die künstlerische Fantasie wirken, bei Haydn, Mozart und Beethoven.

Quelle:
Reissmann, August: Christoph Willibald von Gluck. Sein Leben und seine Werke. Berlin und Leipzig: J. Guttentag (D. Collin), 1882..
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