Neunter Abschnitt.
Fortsetzung der dritten Kunstperiode Gluck's. (1768–1770.) Die Oper »Paride ed Elena.« Aufenthalt in Parma. Gluck und Salieri. Gluck und der Bailly Du Rollet.

Nach der »Alceste« im Jahre 1769 lieferte Gluck die Musik zur Oper »Paride ed Elena,« welche jedoch keinen so mächtigen und nachhaltigen Eindruck in den Gemüthern der Zuschauer hinterliess, auch wegen der Natur des Gegenstandes nicht hinterlassen konnte. Wie die Rollen dieser dramatischen Schöpfung damals besetzt waren, und was bei der Aufführung derselben sich sonst noch begeben hat, ist mir bis jetzt nicht bekannt geworden.

Soviel man jedoch aus der Partitur des Tonwerkes selbst ersehen kann, so muss man es als ein eben so grosses Meisterstück, als den »Orfeo« und die »Alceste« betrachten, weil der Verfasser bei dessen Schöpfung denselben Grundsätzen gefolgt ist.

Hinsichtlich der Fabel der Oper sind die alten Schriftsteller verschiedener Meinung. Homer lässtHelena, die Gemahlin des Menelaus, Königs in Sparta, von Paris rauben. Euripides[143] erzählt, dass Paris, von der Venus betrogen, bloss eine, der Helena gleichsehende Gestalt nach Troja gebracht habe, und dass die wahre Helena von dieser Göttin nach Aegypten übersetzt worden sei. Herodot glaubt dagegen, Paris wäre, als er mit Helena nach Troja schiffte, von widrigen Winden nach Aegypten verschlagen worden, wo Proteus, damals König von Memphis, diese Fürstentochter entführt, und dem Könige Menelaus wieder zurückgesendet habe. Unser Dichter führt Helena nicht als die Gemahlin, sondern als die Verlobte des Menelaus und als Königin von Sparta auf, welche Paris durch seine heisse, beharrliche Liebe mit Amors Beistand erst besiegen muss.

Die in dieser Oper handelnden Personen sind:Elena, Königin von Sparta (Sopran), Paride, Sohn des Priamo, Königs von Troja (Sopran), Amore, der unter dem Namen Erasto Elena's Vertrauten spielt (Sopran), die Göttin Pallade (Sopran), ein Trojaner (Tenor) und die Chöre der Trojaner und Spartaner.

Die Tonstücke des Werkes sind folgende:

Im I. Akte 1. Die Ouverture, in C maj. Neunter Abschnitt Takt, Allegro für Streichquartett, Flauti, Oboi, Fagotti, Corni, Tromboni und Timpani. Sie ist ein rauschender, feierlicher Tonsatz, der in ein sanftes Andante in A min. 3/8 Takt übergeht, und in C maj. mit diesem Zeitmasse schliesst.

2. Chor in G maj. 3/4 Takt: »Non sdegnare o bella Venere« – bloss vom Streichquartette begleitet. Er wird von dem kurzen Solo einer Stimme unterbrochen, wobei Oboe und Fagotto eintreten; dann der Chor da Capo.

3. Aria di Paride in G min. Neunter Abschnitt Takt, Moderato: »O, del mio dolce ardor« – mit Streichquartett und obligater Oboe. Einfacher, edler Gesang elegischen Charakters. Nach einem kurzen Instrumentalsatze inB maj. fährt die Singstimme in derselben Ton- und Taktart fort. Das Ganze schliesst mit einem Ballete. Diese Nummer gehört zu den Mustern vortrefflicher Instrumentation. Hier erzeugt die, meistens nur die Pausen der Singstimme ausfüllende Oboe unter den fortan murmelnden Violinen und Violen die herrlichste Wirkung.

4. Einem kurzen Instrumentalsatze folgt nun die Arie:[144] »Dall' aurea sua stella.« – Sie zeichnet sich durch eine angenehme Melodie und Begleitung aus. Der zuweilen mit der Viola im Einklang einherschreitende Fagott erscheint originell.

5. Aria di Paride in F maj. Neunter Abschnitt Takt, Moderato: »Spiagge amate, ove talora« – mit Streichquartett und obligatem Corno. Paris singt, wie er mit seinen Gefährten das lakonische Ufer betritt, um zur Belohnung für den Cytheren zuerkannten Schönheitspreis die Helena zu sehen und ihr Herz zu gewinnen. Nach dem die Phrygier der Göttin am Meeresstrande einen Altar errichtet und sie um ihre fernere Leitung angefleht hatten, wird Paris von Sehnsucht nach der schönen Unbekannten erfüllt, und ruft die ganze Natur an, ihm den Aufenthalt der Helena zu zeigen. Diese reizende und kraftvolle Arie schliesst nach einem kurzen, edlen Gesange, der von zusammengehenden, harpeggirenden Violinen begleitet wird, während zwei Violen und ein Corno in lang gehaltenen Noten fortschreiten. Ein kurzes Recitativ schliesst den schönen Satz.

6. Recitativ zwischen Amore und Paride; dannDuetto in F maj. Neunter Abschnitt Takt, Andante: »Ma chi sei? ma come intendi?« – Schöne Stimmenführung und meisterhafte Begleitung des Streichquartetts zeichnen dieses Tonstück aus.

7. Kurzes Recitativ und Aria d' Amore in Es maj. 3/4 Takt: »Nell' Idea ch'ei volge in mente« – mit Begleitung des ganzen Orchesters. Sie ist höchst effektvoll, gegen den Schluss glänzend gehalten und vortrefflich instrumentirt. Der Akt endet mit einem Recitative.

Im II. Akte. 8. Grosses, durchaus vom Streichquartett begleitetes Recitativ der Elena und des Paride, mit der Aria d'Elena in G maj. 3/4 Takt,Andante, wo noch zwei Corni, und im Mittelsatze auch die Stimmen des Amore und Paride hinzutreten. Die Arie beginnt mit den Worten: »Forse più d'una beltà.« – Sie enthält einen durchaus einfachen und edlen Gesang und am Schluss eine glänzende Cadenz.

9. Recitativ und Aria di Paride in F min: 2/4 Takt, Andante: »La bella Imagine« – mit Streichquartett und Fagotti. Das[145] Tonstück hat ein schwermüthiges Gepräge, glänzt aber durch einen schönen Gesang und eine meisterliche Begleitung.

Im III. Akte. 10. Marsch, Maestoso in zwei Theilen für das ganze Orchester in C maj.; dann Recitativ des Paride und der Elena, nach welchem der vierstimmige Chor in D min. Neunter Abschnitt Takt: »Dalla reggia lucente scende a noi« – eintritt. Ein kurzer Tonsatz in C maj. Neunter Abschnitt Takt, Andante: Nelli strali, nell' arco possente, – und derselbe Chor, jedoch in C maj. schliessen die Scene.

11. Balletmusik in A min. 3/4 Takt, Spirituoso für Streichquartett und zwei Oboi mit der Ueberschrift:Aria per i Atleti. Das Tonstück ist höchst charakteristisch in lauter punktirten Noten. Diese, mit kurzen Recitativen und Singchören vermischten Ballete ahmen theils den olympischen Spielen nach, theils stellen sie ein Fest der Ueberwinder dar. Sie sind von vortrefflicher und mannigfaltiger Erfindung und am passenden Orte auch prachtvoll. Ueberhaupt enthalten die Ballete dieser Oper grosse Vorzüge.

12. Kurzes Recitativ das die Spiele unterbricht; dann Chor in C maj. Neunter Abschnitt Takt: »Lodi al Nume possente, Dio di Delfo.« –

13. Recitativ der Elena und des Paride. Diesem folgt eine grosse Scene in A maj. mit Streichquartett und obligater Harfe, die mit einem schönen Solo, einem Recitative und einem grossen Duett abwechselt. Die mit manchen, äusserst lieblichen Ariosi durchflochtene, lange Instrumentalbegleitung, welche mit den Worten: »Quegli occhi belli« – beginnt, und worin Paris auf der Lyra spielt, und der Elena seine feurige Liebe erklärt, ist durchgehends von vortrefflicher Erfindung und von hohem musikalischen Ausdrucke. Elena äussert dabei ihre Entrüstung, Beide gerathen in Verwirrung und Paride ist sogar einer Ohnmacht nahe. Das sich daran schliessende, grosse leidenschaftliche Duett: »Fingere più non sò« –, das die erwähnte Begleitung schliesst, und von Gluck, wie noch manches Andere in den Worten schon mehr zum blossen Deklamiren, als zum eigentlichen Gesange gesetzt worden ist, erscheint so richtig, so schön, so echt dramatisch, dass die ganze Scene der Glanzpunkt der[146] Oper genannt, und als die treue Abspiegelung seines schönen Systems angesehen werden kann.

14. Die folgenden Nummern dieses Aktes sind Balletstücke voll schöner Motive, und enthalten einen feierlichen Marsch in C maj., ein Chaconne in derselben Tonart, jedoch im 3/4 Takte mit Oboi und Corni, und eine Gavotte in G maj. C Takt.

Im IV. Akte. 15. Grosses Recitativ zwischen Elena, Paride und Amore, das später in ein Terzett F min. Neunter Abschnitt Takt, Andante: »Ah lo veggo ad ingannarmi« – übergeht. Letzteres ist schwärmerisch gehalten und durch eine meisterhafte Instrumentalbegleitung gehoben. Dieses herrliche, durch schöne Stimmenführung zugleich ausgezeichnete Trio löst sich in den heiteren, von Elena und Paride vorgetragenen Satz in F maj. 6/8 Takt: »Non lontana esser già« – freundlich auf. Wieder folgt ein grosses Recitativ, und alsFinale des Akts eine grosse Arie des Paride in Es maj. C Takt, Andante: »Di te sordarmi a vivere« – voll schönen deklamatorischen Ausdrucks und leidenschaftlichen Feuers. Das beständige Zunehmen der Bewegung verstärkt die dramatische Wirkung in einem hohen Grade, weil auch das Zeitmass nach dem Erfordernisse des Affekts des Sängers wechselt. Von der sich daran schliessenden Arie in D maj. Neunter Abschnitt Takt: »Lo potrò, ma fra tanto« – müssen wir obiges Urtheil wiederholen, und dem crescendo sino al fortissimo schon aus dem Grunde hohes Lob ertheilen, weil es allmählich und nicht in Eile geschieht. Die ganze Scene beurkundet neuerdings den Meister.

16. Grosses Recitativ zwischen Amore und Elena mit Quartettbegleitung; dann Arie der letzteren in C maj. 3/4 Takt, Andante: »Donzelle semplici, nò, non credete« – mit Streichquartett, 2 Trombe, Corni undTimpani. Einfacher Gesang, wobei die schöne Führung des Grundbasses beachtenswerth ist. Ein kurzes Recitativ schliesst diese Nummer.

17. Recitativ zwischen Elena, Paride und Amore: »Oportuno giungesti« –

18. Begleitetes Recitativ der, mit ihrem Gefolge in den Wolken erscheinenden Pallas, sammt einer herrlichen Arie der[147] Göttin in D maj. C Takt, Allegro: »Va coll' amata in seno« – vom Streichquartett, 2 Corni und dem vierstimmigen Chore begleitet. Ein Tonstück voll Ausdrucks kreischender Wuth und irarum coelestium!

Es singt darin die göttliche Pallas, mit ihrem Gefolge, dem trojanischen Jünglinge, wie er eben im Begriffe steht, mit Helena das Schiff zu besteigen, aus den Wolken folgende denkwürdigen Verse entgegen:


Va coll' amata in seno;

Torna al paterno regno:

Dietro al fatal tuo legno

Il mio furor verrà.


Godi del caro acquisto:

Spiegane altero il vanto;

Presto cambiato in pianto

Il tuo piacer sarà.1


Oh, da quante eccelse vele

Adombrar veggo Anfitrite!

Sotto mille prore unite

L'onda infranta fremerà.


Che a spezzar coll' infedele

Le funeste tue catene

Tutto d' Argo, e Sparta, e Atene.

Il poter congiurerà.


La città d' Asia Reina

Vasto incendio avvampa, e involve;

Fra faville, e fumo, e polve

Greca fiamma striderà.


Sulla vasta sua ruina

Fra la turba ignuda, estinta,

Serva madre a' figli avvinta

Scarmigliata piangerà.


Es enthält diese Dichtung dieselbe drohende Weissagung, die Horaz in der 15. Ode seines I. Buches dem Nereus in den Mund legt:[148]


Pastor cum traheret per freta navibus

Idaeis Helenen perfidus hospitam,

Ingrato celeres obruit otio

Ventos, ut caneret fera

Nereus fata: Mala ducis avi domum

Quam multo repetet Graecia milite,

Coniurata tuas rumpere nuptias

Et regnum Priami vetus u.s.w.


Die Anwendung des mittelsten und letzten Theiles der Symphonie in einer Begleitung gegen das Ende dieses Tonstücks, sammt einem kleinen Duett, ist sehr sinnreich.

19. Kurzes Recitativ zwischen Paride und Elena leitet ein Duett in C maj. 3/8 Takt, Allegro, ein, mit den Anfangsworten: »L' amo, l' adoro.« – Dieses Duett geht jedoch bald wieder in das Recitativ über, das Amor aufnimmt und in welchem beide Liebende sich dann vereinigen.

20. Terzetto zwischen Paride, Amore und Elena in C maj. 3/8 Takt, Andante: »Sempre a te sacrò fedele« – mit Streichquartett. Es ist ein Gemälde der heiteren, beglückenden und beglückten Liebe, welche die Herzen des Paares erfüllt, und dem Liebesgotte hohe Freude gewährt. Die Stimmen des Paride und derElena bewegen sich in einfachen Terzen und Sexten, bis Amor's Gesang hinzutritt.

21. Finale. Nach einer kurzen Instrumental-Einleitung in F maj. 3/4 Takt erhebt sich der, öfters von kurzen Solosätzen der drei Hauptpersonen und von Duetten unterbrochene muntere, die Oper zu Ende führende Chor mit Begleitung des ganzen Orchesters in C maj. Neunter Abschnitt Takt: »Vieni al mar, tranquilla è l' onda.« – Der Anfang desselben, an dem Orte, wo die Singstimmen mit dem Septimen-Akkorde auf dem G beginnen, und nebst den Trompetten und Pauken, welche darauf ganz allein, ohne Hinzutritt anderer Instrumente, das tiefe und das eingestrichene G durch vier Takte anschlagen, den Uebergang aus der TonartF, in der das Ritornell angefangen hat, in die TonartC, in welcher der Chor fortgesetzt wird, bilden – ist ein eben so launiger als vortrefflicher Gedanke, der bei der Stelle:[149] »Muove i legni aura seconda« – besonders wirksam hervortritt und seinem Schöpfer zum Ruhme gereicht. Die Wiederaufnahme des Ballets schliesst die dramatische Darstellung.


Gluck liess ein Jahr später auch die Partitur dieser Oper im Druck erscheinen und widmete sie dem Herzoge von Braganza.2 Gluck hatte die bitterste Kritik der norddeutschen Kunstrichter, deren Zähigkeit und Selbstliebe sich in das System des grossen Mannes nicht zu finden wusste, bereits nach der Herausgabe seiner »Alceste« erfahren müssen. Diess lieferte den Beweis, dass jener Beifall, dessen er sich mit Recht rühmen durfte, nicht so ganz allgemein war, als man dafür hielt: denn schon in der unten folgenden Zueignungsschrift beklagt er sich empfindlich über jene Kritiken, die seinen Ideen das Siegel der Verdammung aufdrücken wollten. Uebrigens sucht er in derselben neuerdings nachdrucksvoll zu beweisen, wie sehr jene Herren eben so gut als Feinde der Wahrheit, wie seines Systems bezeichnet werden müssen.

»Wenn ich Eurer Hoheit,« sagt Gluck, »diese meine Arbeit widme, bin ich weniger bemüht, einen Schützer, als einen Richter zu finden. Nur ein, gegen die Vorurtheile der Gewohnheit bewaffneter Geist, eine zureichende Kenntniss der erhabenen Lehren der Kunst, ein, sowohl nach grossen Mustern als nach den unveränderlichen Grundsätzen des Schönen und des Wahren gebildeter Geschmack sind es, die ich in meinem Mecaenas suche, und in Eurer Hoheit vereinigt antreffe. Nur in der Hoffnung, Nachahmer zu finden, entschloss ich mich, die Musik der ›Alceste‹ herauszugeben, und glaubte mir schmeicheln[150] zu dürfen, dass man sich beeifern würde, die von mir eröffnete Bahn zu verfolgen, um die Missbräuche zu zerstören, die sich in die italische Oper eingeschlichen und sie entwürdigt haben. Ich habe mich jedoch überzeugt, dass meine Hoffnung vergeblich gewesen ist. Die Halbgelehrten, die Kunstrichter und Tonangeber, eine Klasse von Menschen, die unglücklicher Weise sehr zahlreich ist, und zu allen Zeiten dem Fortschritte der Künste tausendmal nachtheiliger war, als die Unwissenden, wüthen gegen eine Methode, welche, wenn sie sich begründet, ihre eigene Anmassung zu vernichten droht.

Man hat geglaubt, nach unvollkommen einstudirten, schlecht geleiteten und noch schlechter ausgeführten Proben sogleich absprechen zu können; man hat in einem Zimmer die Wirkung berechnet, welche die Oper auf der Bühne hervorbringen könnte!3 – Ist das nicht der Scharfsinn jener griechischen Stadt, welche ganz in der Nähe die Wirkung mehrerer Bildsäulen, die für hohe Säulen bestimmt waren, berechnen wollte? – Einer dieser überspannten Kunstfreunde, deren Seele ihren Sitz nur in den Ohren hat, wird manche meiner Arien zu rauh, manche Passage zu hart oder zu wenig vorbereitet finden; er bedenkt aber nicht, dass, in Beziehung auf die Situation, eine Arie oder Passage gerade diesen erhabenen Ausdruck verlangte, und dadurch den glücklichsten Gegensatz bildete. Ein Pedant in der Harmonie wird ferner hie und da eine geniale Nachlässigkeit oder einen falschen Eindruck bemerken wollen, und sich für berufen halten, das Eine wie das Andere als unverzeihliche Sünden gegen die Geheimnisse der Harmonie zu erklären, worauf sich bald eine Menge vereinigen wird, diese Musik als barbarisch, wild und überspannt zu verdammen.[151]

Den übrigen Künsten geht es in dieser Hinsicht nicht viel besser; man urtheilt über sie mit eben so wenig Gerechtigkeit und Einsicht, und Eure Hoheit werden davon leicht den Grund errathen: denn je mehr man nach Vollkommenheit und Wahrheit strebt, desto nothwendiger werden die Eigenschaften der Richtigkeit und Genauigkeit. Die Züge, welche Raphael von den übrigen Malern unterscheiden, sind in manchen Fällen kaum bemerkbar. Leichte Abweichungen in den Umrissen zerstören die Aehnlichkeit eines Karikaturkopfes nicht, aber sie verunstalten das Antlitz einer schönen Gestalt gänzlich. In der Musik will ich nur ein Beispiel anführen, es ist die Arie aus der Oper Orfeo:Che farò senza Euridice.‹ – Nähme man damit nur die geringste Veränderung entweder in der Bewegung oder in der Art des Ausdruckes vor so würde sie eine Arie für das Marionetten-Theater werden. In einem Stücke dieser Gattung kann eine mehr oder weniger gehaltene Note, eine Verstärkung des Tons, eine Vernachlässigung des Zeitmasses, ein Triller, eine Passage u. dgl. den Effekt einer Scene gänzlich zerstören. Wenn es sich nun darum handelt, eine Musik nach den, von mir aufgestellten Grundsätzen durchzuführen, so ist die Gegenwart des Tonsetzers eben so nöthig, als die Sonne den Schöpfungen der Natur. Er ist die Seele und das Leben derselben; ohne ihn bleibt Alles in Unordnung und Verwirrung: allein er muss gefasst seyn, allen Hindernissen zu begegnen, wie man Menschen begegnet, welche, ungeachtet sie Augen und Ohren haben, dennoch unbekümmert über die Beschaffenheit derselben sich berufen fühlen, über die schönen Künste zu urtheilen, bloss, weil sie nur mit Augen und Ohren begabt sind: denn die Wuth, gerade über Dinge, die man am wenigsten versteht, schnell abzusprechen, ist ein gewöhnlicher Fehler der Menschen. Ja, einer der grössten Philosophen dieses Jahrhunderts hat es in jüngster Zeit gewagt über die Musik zu schreiben und seine Ideen als Orakelsprüche mit der Ueberschrift zu veröffentlichen:

Sogni di Ciechi e Fole di Romanzi.4[152]

Eure Hoheit werden das Drama des ›Paris‹ bereits gelesen und dabei bemerkt haben, dass es der Einbildungskraft des Tonsetzers jene starken Leidenschaften, jene grossartigen Gemälde, jene tragischen Situationen nicht darbietet, welche in der ›Alceste‹ die Gemüther der Zuschauer erschüttern, und zu ernsten Affekten Gelegenheit bieten. Hier wird man dieselbe Kraft und Stärke in der Musik eben so wenig erwarten, als man in einem, im hellen Licht gemalten Bilde weder dieselbe Kraft des Halbdunkels, noch dieselben grellen Gegensätze fordern würde, die der Maler nur bei einem Gegenstand anwenden kann, der ihm zur Wahl eines beschränkten Lichtes allein Raum gewährt. In der ›Alceste‹ handelt es sich um ein Weib, das nahe daran ist, ihren Gemahl zu verlieren, den zu retten sie Muth genug besitzt, um unter den schwarzen Schatten der Nacht in einem schauerlichen Haine die Geister der Unterwelt heraufzubeschwören, und die noch in ihrem letzten Todeskampfe für das Schicksal ihrer Kinder zittern und von einem angebeteten Gatten sich gewaltsam trennen muss. Im ›Paride‹ handelt es sich jedoch um einen liebenden Jüngling, der mit der Sprödigkeit eines zwar edlen, aber stolzen Weibes zu kämpfen hat, und dieses endlich mit allen Künsten erfinderischer Leidenschaft besiegt. Darum habe ich mir Mühe gegeben, einen Farbenwechsel zu ersinnen, den ich in den verschiedenen Charakteren des Phrygischen und Spartanischen Volksstammes aufsuchte, indem ich dem unbeugsamen und rauhen Sinn des Einen den zarten und weichen des Andern gegenüber stellte. Darum glaubte ich, dass der Gesang, der in meiner Oper lediglich die Stelle der Deklamation vertritt, in der Helena der, ihrer Nation angebornen Rauheit nachahmen müsse; eben so dachte ich, dass, weil ich diesen Charakter in der Musik festzuhalten suchte, man mir es nicht zum Fehler anrechnen würde, wenn ich mich je zuweilen bis zum Trivialen herabgelassen habe. Will man die Spur der Wahrheit verfolgen, so darf man nie vergessen, dass nach Massgabe des vorliegenden Gegenstandes selbst die grössten Schönheiten der Melodie und Harmonie zu Mängeln und Unvollkommenheiten werden können, wenn man sie am unrechten Orte[153] gebraucht. Ich erwarte von meinem ›Paride‹ keinen besseren Erfolg, als von meiner ›Alceste,‹ insofern es die Absicht betrifft, in den Tonsetzern die gewünschte Veränderung hervorzubringen; doch alle schon längst vorhergesehenen Hindernisse sollen mich keineswegs abschrecken, zur Erreichung meines guten Zweckes neue Versuche zu machen. Erhalte ich nur die Zustimmung Eurer Hoheit, dann werde ich mit zufriedenem Gemüthe mir stets sagen können: Tolle Syparium; sufficit mihi unus Plato pro cuncto populo.«

»Ich habe die Ehre mit tiefster Ehrfurcht zu seyn,« etc. etc.


Im Jahre 1769 wurde Gluck nach Parma gerufen, um die Vermählungsfeier des königlichen Infanten Don Ferdinand Ludwig Philipp Joseph mit Maria Amalia, Erzherzogin von Oesterreich, durch seine Kunst zu verherrlichen.

Die darauf bezüglichen Feierlichkeiten wurden am 27. Juni in Wien, und, nach glücklich zurückgelegter, einem Triumphzuge gleichenden Rundreise des erlauchten Paares durch die vorzüglicheren Städte Tyrols und Oberitaliens, am 24. August in Parma selbst abgehalten.

Die von Gluck dazu gesetzte dramatische Musik umfasste einen Prolog mit dem Titel: »Le Feste d'Apollo« – und noch drei andere verschiedene Stücke, und zwar: »L'Atto di Bauci e Filemone« – »L'Atto d'Aristeo,« und »L'Atto d'Orfeo.«

Die Musik zum »Prologo,« zu »Bauci e Filemone,« sowie zum »Aristeo« war vom Tonsetzer ganz neu gefertigt. Alle diese Stücke wurden als selbstständige Akte, nach Aufhebung ihrer besonderen Eintheilung in solche, bloss nach Scenen bezeichnet und zur Aufführung gebracht. Sie waren mit Chören, Tänzen, den herrlichsten Theatermalereien und anderem Prunke reichlich ausgestattet und wurden von den berühmtesten Sängern vorgetragen.

In dem, nur aus einer Scene bestehenden Prologo: »Le Feste d'Apollo« – sang Signor Gaetano Ottani den Sacerdote d'Apollo; der berühmte Musico Signor Giuseppe Millico, mit[154] dem Beinamen il Moscovito, weil er längere Zeit hindurch zu Moskau gesungen hatte, den Anfrisio, Oberhaupt der Athener; und die herzogliche Kammersängerin Signora Lucrezia Agujari die Rolle der Arcinia, Führerin der Athenischen Mädchen nach der Insel Delos, wo die kleine Handlung spielt. In diesem Vorspiele wird Apollo angerufen, dass er auf die, das Vermählungsfest des hohen Paares feiernden Spiele gnädig niederblicken wolle.

In dem ersten, aus fünf Scenen zusammengesetzten Atto di Bauci e Filemone waren Gaetano Ottani als Jupiter; Vincenzo Caselli, Kammersänger des Churfürsten von der Pfalz, als Hirt Filemone; und die Lucrezia Agujari als Hirtin Bauci beschäftigt.

Der Stoff dieser kleinen, niedlichen Oper ist beiläufig folgender:

In der Hütte des frommen phrygischen, bereits betagten Ehepaares, Philemon und Baucis hatten einstJupiter und Mercur gastliche Aufnahme und liebreiche Bewirthung genossen. Zum Lohne dafür wurden Beide von den Göttern bei einer, die ganze Gegend vernichtenden Wasserfluth gerettet und zu Priestern eines Tempels bestellt, auch ihr Wunsch, gemeinschaftlich zu sterben, durch gleichzeitige Verwandlung in Bäume gewährt. Um diesen Stoff für die Scene brauchbar zu machen, stellte der Dichter das genannte Paar als Liebende in der Blüthe der Jugend dar, und lässt es geschehen, dass Zeus ihnen die Unsterblichkeit zu verleihen und sie unter die Halbgötter zu versetzen verspricht.

In dem zweiten, neun Scenen enthaltendenAtto d'Aristeo sang Vincenzo Caselli den Part des Aristeo, Sohnes des Apollo und der Cyrene; die berühmte Signora Antonia Maria Girelli-Aquillar, die Gluck bereits in Bologna bei Gelegenheit der Aufführung seiner Oper, »Il Trionfo di Clelia« – kennen gelernt hatte, die Rolle derCyrene, einer Nymphe und Tochter des FlussgottesPeneus; die Signora Felicità Suardi die Partie der Nymphe Cidippe, Geliebten des Aristeo, und Gaetano Ottani den Ati, Vertrauten des Aristeo.[155]

Der schöne Stoff der dramatischen Dichtung ist beiläufig folgender:

Als Aristaeus, dieser segensreiche Halbgott der Alten, der Erfinder der Bienen- und Rinderzucht, sowie des Oelbaues, einst sich in die Nymphe Euridice, Gemahlin des Orpheus, verliebt hatte, diese aber vor seinen Umarmungen floh und auf der Flucht von einer Schlange tödtlich verwundet wurde, rächten die Nymphen den Tod ihrer Genossin dadurch, dass sie dem Aristaeus einen Theil seiner vortrefflichen Rinderherde und alle seine Bienen zu Grunde gehen liessen. Er suchte hierauf bei seiner Mutter Cyrene Beistand. Diese rieth ihm, sowohl die Nymphen, als Euridice mit Opfern zu versöhnen und die geschlachteten Opferthiere im Walde zurückzulassen. Nach neun Tagen fand er zu seinem grossen Erstaunen, dass aus den Bäuchen der geschlachteten Rinder neue Bienenschwärme hervorflogen. Der Dichter behandelte hier jedoch vorzugsweise das Liebesverhältniss zwischenAristaeus und Cidippe, und weist der Handlung das Thal Tempe zum Schauplatze an. Von allen diesen Stücken ist in den Mauern Wiens nichts zu finden.

Das dritte Stück war der Atto d'Orfeo, der hier nach Aufhebung der Eintheilung in Akte sieben aufeinanderfolgende Scenen bildete.

Darin sangen Giuseppe Millico den Orfeo; die Antonia Maria Girelli-Aquillar die Euridice, und die Felicità Suardi den Amor. Alle diese Tonwerke, namentlich der Orfeo, ernteten einen so grossen Beifall, dass sie 28 Wiederholungen erlebten und der Stadt eine ungeheure Summe eintrugen.

Als Gluck den Antrag stellte, dass man nebst den obigen Opern auch seinen »Orfeo« zur Aufführung bringen möchte, setzte man sich Anfangs mächtig dagegen. Der Beifall des Wiener Publikums leistete den Musikliebhabern Italiens keine hinlängliche Bürgschaft für den Werth dieses dramatischen Werkes; sie konnten nicht begreifen, wie es möglich wäre, einen Operntext zu verfassen, der besser wäre, als irgend Einer von Metastasio, und eine Musik zu schreiben, die jene eines Jomelli,[156] Sacchini oder Piccini übertreffen sollte. Als man dem ersten Sänger Millico die Rolle des Orfeo brachte, um sie für das dortige Hoftheater einzustudieren, vergoss er Thränen; denn es schien ihm, dass der Orfeo durchaus keine Rolle für einen primo uomo nach italischer Sitte wäre und dass man ihn um seinen guten Ruf bringen wolle. Unterdessen überwand Gluck auch diese Schwierigkeit, und nahm den Erfolg der Vorstellung auf sich. Nachdem Millico unter Gluck's Leitung die Rolle eingeübt hatte, schämte er sich seiner Kurzsichtigkeit, gewann damit den vollständigsten Beifall und ward dann so ganz Gluck's Freund, dass er sich entschloss, einige Jahre mit diesem in Wien zu verleben.5

Als man in Parma nach einiger Zeit der Abwechselung wegen anstatt des »Orfeo« ein anderes Stück ankündigte, wurde jener mit grossem Lärmen verlangt. Die »Armida« von Traetta, der neben Gluck seine Vorstellungen geben sollte, wollte man gar nicht zur Aufführung gelangen lassen.

So endete Gluck's Aufenthalt in Parma, wie überall, auf das ehrenvollste, und bereicherte den grossen Tonsetzer mit Gold und neuen Lorbeerkränzen.

Der Text der zuvor beschriebenen, durch Gluck's Musik verherrlichten Stücke ist mit folgendem Titel im Druck erschienen:

»Le Feste d'Apollo, celebrato sul Teatro di Corte nell' Agosto del MDCCLXIX. per le Auguste seguite Nozze tra il Reale Infante Don Ferdinando e la R. Arciduchessa Infanta Maria Amalia. Parma, nella stamperia Reale.« – kl. 4, mit 5 Kupfern. In dieser Druckschrift finden sich nicht nur die Namen der Sänger, sondern auch noch andere, auf die erwähnten Stücke und deren Darstellung sich beziehende Notizen, welche hier benützt worden sind.[157]

Im Jahre 1769 lernte Antonio Salieri unsern grossen Tonsetzer kennen. Salieri, begierig von Jedermann, besonders von einem Künstler, wie Gluck, zu lernen, gab sich unendliche Mühe, die Gunst des letzteren zu erwerben; und als ihm dieses gelungen war, schloss er sich auf das innigste an den Meister an, und lauschte mit ehrfurchtsvoller Aufmerksamkeit jedem Worte, das aus dessen Munde ging.

Als Salieri's väterlicher Lehrer Gassmann6 nach Rom berufen wurde, um für den Carneval des Jahres 1770 dort eine tragische Oper zu schreiben, leitete Salieri indessen unter der Oberaufsicht des Vicekapellmeisters Ferrandini auf dem Wiener-Hoftheater die Proben. Boccherini, ein Tänzer eben dieses Theaters und zugleich Dichter, hatte mit Hilfe des Herrn von Calzabigi die komische Oper: »Le Donne letterate« verfasst, und für den Kapellmeister Gassmann bestimmt. Calzabigi rieth ihm, diese Arbeit lieber dem jungen Salieri anzuvertrauen, der, ein Anfänger in der Composition, wie er (Baccherini) in der Dichtkunst, sich leichter mit ihm verständigen würde. Und so geschah es. Als die Oper, an welcher Salieri seine ersten Sporen versucht, und mit rastloser Thätigkeit und vieler Liebe gearbeitet hatte, der Vollendung nahe war, hatte der Impresario eben eine Oper in die Scene gesetzt, die »alle terre« gegangen war. Dieser sah sich daher genöthigt, derselben schnell ein anderes neues Werk folgen zu lassen. Calzabigi, der von dem, was Salieri bereits vollendet hatte, in seiner Wohnung eine kleine Probe zu hören wünschte, lud den jungen Tonsetzer zu sich ein; und dieser begab sich mit seinem Dichter und den fertigen Gesangstücken dahin. Salieri stutzte nicht wenig, auch den Impresario und die Kapellmeister Gluck und Scarlatti dort zu finden, glaubte aber, sie wären bloss aus Neugierde gekommen, und freute sich ihrer Gegenwart ungemein. Salieri sang und spielte, und Gluck und Scarlatti sangen mit ihm in den mehrstimmigen Sätzen.

[158] Gluck zeigte sich gleich Anfangs mit Salieri's Arbeit zufriegen; Scarlatti, der von Zeit zu Zeit kleine grammatische Compositionsfehler rügte, lobte gleichwohl im Ganzen jedes Gesangstück, und beide Meister sagten am Schlusse dem Impresario, dass, wenn Salieri das noch Fehlende bald zu Stande bringen wollte, man die Oper unverzüglich einstudiren und aufführen könnte, indem, wie Gluck sich äusserte, das Werk hinreichend sei, dem Publikum Vergnügen zu machen.

Die Oper gefiel und Salieri's Glück war gegründet.

Von nun an unterbreitete Salieri jedes seiner Werke dem Urtheile Gluck's, wenn dieser in Wien zugegen war; und daher kam es, dass, da Gluck's freundlicher Rath und Beistand zur Vortrefflichkeit der Opern Salieri's Manches beitrug, auch dessen Einfluss in den Arbeiten des Letzteren auffällig wahrgenommen wird. So viel ist jedoch gewiss, dass die Behandlung des Textes, besonders jene der instrumentalischen Recitative, die Art der Begleitung und der scenische Bau der ernsten Opern desselben völlig im Geiste Gluck's sind, welcher Geist sich auch in jedem der folgenden Werke Salieri's auf das erfreulichste beurkundet hat; denn gleiche Liebe zur dramatischen Kunst und gleiche Ansichten von dem Wesen derselben knüpften das Band der Freundschaft immer enger zwischen Salieri und Gluck, der jenen sowohl seines aussergewöhnlichen Talentes, als seiner heiteren Gemüthsart wegen ungemein lieb gewann und ebenso mit dem grössten Vertrauen beehrte.


Nach dieser Periode künstlerischer Thätigkeit lebte Gluck, dessen Talente von den einsichtsvollsten und gebildetsten Männern Deutschlands und Italiens hoch bewundert wurden, einige Jahre hindurch in philosophischer Ruhe. Sein Haus war der Sammelplatz aller Freunde des guten Geschmacks und kein Fremdling, der sich mit den Merkwürdigkeiten der Kaiserstadt vertraut machen wollte, versäumte es, den grossen Meister[159] zu besuchen, wenn ihm dieses auf irgend eine Art ermöglicht wurde.

Gluck war indessen nur scheinbar unthätig; denn er setzte in dieser Zeit verschiedene Lieder und Oden von Klopstock, ja sogar einzelne Scenen aus dessen »Hermannsschlacht« in Musik, und bereitete sich, da er durch die Erfolge seiner letzteren Opern keineswegs zufrieden gestellt war, zu einem Werke vor, das seine musikalisch-dramatischen Ideen noch vollkommener, als die bereits von ihm in's Leben getretenen Schöpfungen aussprechen sollte. Er war der Meinung: ein musikalisches Trauerspiel, dessen Rollen von Sopransängern vorgetragen würden, könne weder eine vollendete Täuschung, noch eine genügende theatralische Wirkung hervorbringen; er sah ferner ein, dass er seine Gedanken über die Wirkung dramatischer Musik, die hauptsächlich darin bestand, dass die Musik die Situationen nur verstärken, nicht aber sich von den Intentionen des Dichters trennen soll, niemals in ihrer ganzen Vollkommenheit auszuführen vermöge, wenn er dazu nicht ein vortreffliches tragisches Gedicht, ein prachtvolles Theater, gewiegte und verständige Schauspieler, die mit der Kunst des Gesanges zugleich ein wahres, edles und seelenvolles Gebärdenspiel verbänden, kurz, alle jene Eigenschaften fände, die er lediglich auf dem Pariser Operntheater vereinigt anzutreffen wähnte. Er glaubte demnach, dass nur die französische Bühne ganz geeignet wäre, seine Absichten zu verwirklichen.

Gluck unterredete sich desshalb mit einem feinen, kunstsinnigen Franzosen, damals Attaché der königlich französischen Gesandtschaft am kaiserlichen Hofe; es war der Herr Bailly Du Rollet, der Gluck's Bekanntschaft schon vor Jahren in Rom gemacht, und nun in Wien die besten Opern des grossen Meisters gehört hatte. Dieser geistreiche Kenner des gesammten Theaterwesens wurde, ungeachtet seiner Vorliebe für die französische Musik, von den Ideen Gluck's auf das lebhafteste berührt. Er fasste sie mit Scharfsinn und Eifer auf und wählte dazu, im Einverständnisse mit dem grossen Tonsetzer, die »Iphigénie en Aulide« von Racine, worin, seiner Meinung[160] nach, die mächtigen Eindrücke des wahren Trauerspiels mit den grossartigen Wirkungen einer leidenschaftlichen dramatischen Musik und dem Schauwerke des lyrischen Dramas vereinigt werden könnten. Der Herr Bailly nahm diese Arbeit sogleich in Angriff, schied alle überflüssig scheinenden Scenen und Stellen aus dem genannten Trauerspiele, drängte die Handlungen zusammen, gab dem Stücke die, einer Oper unerlässliche Einrichtung und überlieferte es in dieser Verwandlung dem Ritter von Gluck, der sogleich alle weiteren Geschäfte beseitigte, und den neuen Gegenstand mit aller Anstrengung seines Geistes durchdachte, dann seinen Plan dazu entwarf, und endlich das Werk ausarbeitete, wobei er sich die Benutzung der Vorzüge der französischen Rameau'schen im ausdrucksvollen Gesange bestehenden Musik, soweit sie sich mit der dramatischen und deklamatorischen Wahrheit vereinbaren liess, und die Bereicherung der Instrumentalpartie eben so weise und zweckmässig zur Pflicht machte, als früher schon in Italien und Wien das allmählige Entfernen alles Ueberflüssigen. So ward ein neues grosses Meisterstück der Tonkunst ins Leben gerufen.

Gluck hatte jedoch die ganze Schöpfung erst nur im Geiste vollendet und davon einige der vorzüglichsten Scenen niedergeschrieben, die er in Gegenwart des Herrn Bailly, dann auch vor dem kaiserlichen Hofe und einigen andern hohen Kennern und Kunstfreunden mit grossem Beifalle vortrug.

1

Diese beiden Verse werden nach jeder achtzeiligen Stanze der Göttin vom Chore wiederholt.

2

Der Titel lautet: »Paride ed Elena. Dramma per Musica. Dedicato a Sua Altezza il Signor Duca Giovanni di Braganza etc. etc. In Vienna, nella stamperia aulica di Giovanni Tomaso de Trattnern. 1770.« – Die im grossen Folioformate gedruckte Partitur zählt fünf Blätter und 196 Seiten. Die Wiener Hofbibliothek besitzt davon auch eine gleichzeitige Abschrift in 5 Bänden.

3

Man kann überhaupt auf Gluck's Musik dasjenige anwenden, was Horaz von einem Gemälde sagt:

Pictura poësis erit, quae, si propius stes,

Te capiet magis; et quædam, si longius abstes.

Hæc amat obscurum; volet hæc sub luce videri,

Judicis argutum quæ non formidat acumen.

4

Arteaga.

5

Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien besitzt in ihren Räumen ein wohlgetroffenes Oelbild dieses grossen Sängers.

6

S. »Mosel.« Ueber das Leben und die Werke des Anton Salieri. Wien 1827. 8. S. 30. 45 u. 75.

Quelle:
Schmid, Anton: Christoph Willibald Ritter von Gluck. Dessen Leben und tonkünstlerisches Wirken. Leipzig: Friedrich Fleischer, 1854., S. 143-161.
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