Zehnter Abschnitt.
Dr. Burney in Wien. (1772.)

So weit war Gluck mit seiner ersten französischen Oper gekommen, als der rühmlichst bekannte englische Doktor der Tonkunst, Charles Burney, nach Wien kam. Es war am 30. Tage des Monats August im Jahre 1772.[161]

Ausgestattet mit zahlreichen Empfehlungsbriefen an verschiedene hier lebende ausgezeichnete Männer, besonders an den damaligen grossbrittanischen Botschafter am kaiserlichen Hofe, Viscount Stormont, ward es dem gelehrten Musiker leicht, dieselben, vorzüglich aber den vortrefflichen Dichter Metastasio, den Kapellmeister Hasse und Andere, deren Bekanntschaft ihm das meiste Interesse einflösste, vorzüglich aber den Ritter von Gluck, dessen Ruhm schon längst nach Albion gedrungen war, genau kennen zu lernen.1

Schon damals, meldet Burney, gab es in Wien zwei musikalische Partheien; Metastasio und Hasse standen an der Spitze der Einen, Calzabigi und Gluck an der Spitze der Andern. Beide waren insofern einander gegenübergestellt, dass die erste Parthei alle Neuerungen verwarf, als Schwärmerei betrachtete, felsenfest der alten Form des musikalischen Dramas anhing und sowohl für den Dichter als für den Tonsetzer eine gleich gespannte Aufmerksamkeit von dem Zuhörer in Anspruch nahm, für den Dichter rücksichtlich der Recitative und des erzählenden Theils, für den Musiker hinsichtlich seiner Arien, Duetten und Chöre. Die zweite Parthei sah auf dramatische Wirkung, richtig gezeichnete Charaktere, Einfalt in der dichterischen Sprache und musikalische Ausführung, und vermied Alles, was sie in der Poesie der Andern blumenreiche Schilderungen, überflüssige Gleichnisse und frostige Moral, in der Musik aber langweilige Vor-, Zwischen- und Nachspiele, und gedehnte Gurgeleien nannte. Diesem zufolge war das Streben des Ritters von Gluck ausschliesslich dahin gerichtet, die Musik zu vereinfachen, und, anstatt mit gränzenloser Erfindungskraft die eigensinnigsten Schwierigkeiten hervorzubringen und seine Melodien mit buhlerischen Zierrathen zu verbrämen, wendet er Alles an das Streben, seine Muse keusch und nüchtern zu erhalten.

Seine drei Opern »Orfeo,« »Alceste« und »Paride,« die weit weniger Schwierigkeit in Hinsicht der Ausführung, wohl[162] aber viele in Beziehung auf den Ausdruck enthalten, liefern davon die sprechendsten Beweise.

Um dieselbe Zeit hatte er den Plan zu einer neuen Ode auf den St. Cäcilia's-Tag, der eben so viel Genie als Urtheilskraft verräth, einem gewandten Dichter angegeben. Lord Cowper liess kurz zuvor Dryden's, von Haendel in Musik gesetzte Ode in Florenz zur Aufführung bringen; allein, man hatte Haendel's Tönen italische Worte unterlegt, welche sylbenweise gebildet waren, um die Musik so unverändert als möglich zu erhalten. Diese zärtliche Hochachtung für den Tonsetzer wurde jedoch dem Dichter so nachtheilig, dass Dryden's herrliche Worte in der erbärmlichen Uebertragung nicht nur ganz unpoetisch, sondern auch völlig unverständlich wurden. Eben diese Musik war bald nachher auch in Wien mit derselben Wortunterlage zur Aufführung gekommen, und manche Stellen darin hatten, trotz des sinnlosen Textes, dennoch grossen Beifall geerntet. Gluck, voll Verehrung für die Gedanken des grossen englischen Dichters, wünschte über eben diesen Gegenstand, jedoch nach einem ganz andern Plan, eine Ode zu haben, welche so viele Stellen als möglich von dem Originale beibehielte: denn er war der Meinung, ein Gedicht von solchem Umfange könne nach der Tonsetzweise seiner Zeit keineswegs von Einer Person abgesungen werden; und da Dryden's Ode ganz zur erzählenden Gattung gehört, so scheine es unschicklich, sie bei der Aufführung unter mehrere zu vertheilen. Er wünschte sie demnach in die Form eines Dramas, in welchem die singenden Personen ihre verschiedenen Leidenschaften auszudrücken Gelegenheit fänden, umgegossen zu sehen. Ein Dichter entsprach Gluck's Ansinnen in folgender Weise: das Drama beginnt mit einem Bacchusfeste, wobei Alexander und Thaïs zugegen sind. Diese vereinigen sich, den Timotheus rufen zu lassen, damit er den Zauber seines Gesanges in ihrer Gegenwart entfalte. Ehe dieser jedoch anlangt, äussern der Held und seine Geliebte die verschiedensten Ansichten über des Sängers Kunst. Thaïs achtet diese nicht so gross, als seinen Ruf; Alexander aber behauptet, sie sei grösser als sein Ruhm. Der Streit belebt den Dialog und[163] ergötzt den Zuhörer so lange, bis der Künstler selbst erscheint, und den Krieg von Troja singt. Nun wird Alexander dergestalt gerührt und begeistert, dass er in jene lauten, uns durch die Geschichte bekannten Klagen ausbricht, dass er nämlich nicht, wie Achilles, einen H omer habe, der seine Thaten verewige. –

Diese Art Cantate, deren Theile Gluck selbst unter einander verbunden hatte, brachte bei der Aufführung eine überaus grosse Wirkung hervor. Nur Gluck war noch nicht zufrieden gestellt; er vermisste die Handlung und das scenische Spiel, und wünschte wiederholt, ein Dichter möchte diesen Stoff zum Vorwurf einer Oper wählen.


Eine Gräfin von Thun, die den Dr. Burney im Hause des englischen Botschafters kennen gelernt hatte, suchte des Ersteren Bekanntschaft mit Gluck zu vermitteln. Sie schrieb desshalb ein Briefchen an diesen, und Gluck ertheilte darauf in seiner Weise eine sehr artige Antwort: denn der grosse Tonsetzer war, wenn er wollte, ein wahrer Dragoner (wie sich Burney ausdrückt), vor dem Jedermann erzitterte.

Der Besuch war für den Tag angenommen. Um fünf Uhr brachte Lord Stormont's Wagen ihn selbst, die Gräfin von Thun und den englischen Doktor nach dem sehr geräumigen und geschmackvoll eingerichteten Wohnsitze, den der Ritter von Gluck damals am Rennwege auf der Landstrasse2 unweit der Sankt-Marxer Linie besass, und dessen Annehmlichkeiten von einem schönen dazu gehörigen Garten erhöht wurden. Herr und Frau von Gluck und deren Nichte, Marianna, die das Ehepaar an Kindes Statt angenommen hatte, empfingen die Gäste. Gluck sprach, sang und spielte, wie[164] später die Frau Gräfin von Thun sich äusserte, mehr, als sie sich jemals zu erinnern wusste. Er begann damit, den Gesang seiner dreizehnjährigen Nichte in zwei der besten Scenen aus seiner Oper »Alceste« auf dem Flügel zu begleiten. Dieses Fräulein, eine Schülerin des berühmten Sopransängers Millico, war mit einer starken, wohltönenden Stimme begabt und sang mit Geschmack, Empfindung und Ausdruck die schwierigsten Stücke. Nach obigen Scenen trug sie noch verschiedene Gesänge von andern Meistern und Schreibarten, namentlich von Traetta vor. Man versicherte den englischen Doktor: dieses Fräulein lerne erst seit zwei Jahren eigentlich singen, was Jenen, in Rücksicht der, von ihr bereits erreichten hohen Stufe der Vollkommenheit, in Staunen versetzte. Ihr Oheim hatte ihr den ersten Unterricht ertheilt, sie aber in einem Anfalle von übereilter Verzweiflung wieder aufgegeben. Da hatte nun der Sänger Millico, welcher den Ritter Gluck vor drei Jahren von Parma nach Wien begleitet hatte, in dem Mädchen sogleich die Entdeckung gemacht, dass ihre Stimme höchst bildungsfähig, sie selbst aber sehr gelehrig sei, Millico erbat sich die Erlaubniss, die Kleine, wenn auch nur auf einige Monate in seinen Unterricht zu nehmen, und zu sehen, ob es sich der Mühe lohne, bei ihrer musikalischen Weiterbildung zu verharren: denn der Sänger bemerkte ganz richtig, dass das über sie ausgesprochene ungünstige Urtheil mehr in der Ungeduld und Heftigkeit ihres Oheims, als in dem Mangel an Fähigkeit des lieblichen Kindes seinen Grund habe. Ihre schöne Singweise rechtfertigte nicht allein die Klugheit und Einsicht des Sängers Millico, sondern auch die Vortrefflichkeit seiner Lehrmethode: denn Marianna hatte seinen Ausdruck und Geschmack so wohl begriffen und sich angeeignet, dass keine Spur der Nachahmung in ihrem Gesange wahrzunehmen war, ja, dass derselbe lediglich ihrer eigenen Empfindung zu entquellen schien. Die Art ihres Singens hatte, da die Grazien sich noch dazu gesellten, bei ihr einen noch unwiderstehlicheren Reiz, als bei Millico selbst.

Fräulein von Gluck war schmächtigen Wuchses und zarter[165] Leibesbeschaffenheit; sie fühlte daher das, was sie sang, so tief innig, dass man für ihre Gesundheit besorgt hätte seyn müssen, wenn sie genöthigt gewesen wäre, ihre Kunst zum Lebensunterhalte zu wählen.3

Als das Fräulein geendet hatte, liess Gluck, von den Schmeichelworten der geistreichen und liebenswürdigen Frau Gräfin von Thun gewonnen, sich herbei, verschiedene der besten Scenen aus seinen Opern selbst zu singen. Mit so wenig Stimme, als er noch hatte, wusste er die Gesellschaft doch auf das angenehmste zu unterhalten, ja sogar in einem hohen Grade zu entzücken, weil er den Mangel an Stimme (denn er war bereits 58 Jahre alt) durch den Reichthum seiner Begleitung, durch sein Feuer, seinen treffenden Ausdruck und durch die Heftigkeit im Vortrage des Allegro dergestalt ersetzte, dass seine klanglose Stimme ein Fehler wurde, den man bald gänzlich vergass. Er war übrigens in so guter Laune, dass er seine Oper »Alceste« fast ganz durchging, auch viele andere vortreffliche Stellen aus seinem »Paride,« und endlich noch aus seiner neuen französischen, nach Racine's »Iphigénie« bearbeiteten Oper vortrug, wovon er nur wenige Nummern niedergeschrieben, das Ganze jedoch in seinem Kopf bereits so vollkommen ausgearbeitet hatte, dass er, von seinem bewunderungswürdigen Gedächtnisse unterstützt, dieselbe so fertig sang, als läge die Partitur vor ihm auf dem Pulte.

Ueber Gluck's Genius fällt der englische Doktor folgendes Urtheil:

»An Erfindung, zumal in der dramatischen Malerei und theatralischen Wirkung kommt ihm weder ein lebender, noch verstorbener Tonsetzer gleich. Er studiert ein Gedicht zuerst[166] lange, ehe er zum Tonsatze schreitet; er erwägt genau die Verhältnisse der Theile zu einander, wie auch die Grundlage eines jeden Charakters, und strebt mehr dem Gefühl und Verstande zu genügen, als dem Ohre zu schmeicheln. Darum ist Gluck nicht nur ein Freund der Dichtkunst, sondern er ist selbst ein Dichter. –

Stände ihm für den Ausdruck seiner Gedanken eine ausreichendere Sprache, als die Sprache der Töne zu Gebote, er würde ein eben so grosser Dichter geworden seyn; und doch wird diese Sprache, so wie sie ist, unter seiner Bearbeitung eine überaus reiche, körnige, zierliche und nachdrucksvolle. Selten kann man eine Arie aus ihrer Stelle nehmen und vereinzelt mit grosser Wirkung vortragen: denn das Ganze bildet eine Kette, wovon ein abgelöstes Glied seine wahre Bedeutung verliert.« –

Später heisst es noch:

»Wenn aber Gluck in seiner Cantilene die einfache Natur studiert, so ist er doch in seiner Begleitungsweise zuweilen nicht nur gelehrt, sondern darin noch mehr als Dichter – er ist Maler. Seine Instrumente malen sehr oft den Gemüthszustand des Singenden und verleihen den Leidenschaften die lebhafteste Färbung.« –

Ein so glänzendes und zugleich wahres Lob, das rühmlichste, das man der dramatischen Musik zollen kann, erhält aus der Feder eines entschiedenen Anhängers der damaligen italischen, mit Gluck's Art zu setzen im geraden Gegensatze stehenden Musik ein desto grösseres Gewicht.

Weiter äussert sich der englische Doktor: »Wenn es den Verfechtern der alten französischen Musik möglich ist, irgend eine andere Musik, als die eines Lully und Rameau, mit Vergnügen zu hören, so muss es die ›Iphigénie‹ seyn, in der sich Gluck dem Nationalgeschmacke der Franzosen, ihrem Styl und ihrer Sprache so weit angeschmiegt hat, dass er dem Einen oft nachahmt, und den andern in sich aufgenommen zu haben scheint.«

Doktor Burney erinnerte Gluck an seine im Jahre 1746[167] in England allgemein beliebt gewordene Arie: »Rasserena il mesto ciglio,«4 – und gewann ihn dahin, dass dieser nicht allein die genannte Arie, sondern auch noch andere seiner frühesten und besten Lieblingsarien vortrug. Gluck legte Burney das Geständniss ab, dass England ihn zuerst auf den Gedanken geleitet habe, bei seinen dramatischen Schöpfungen nur dem Studium der Natur zu folgen. Es war ein ungünstiger Zeitpunkt, als er nach London kam; Haendel stand damals auf dem Höhenpunkte seines Ruhmes, und Niemand war geneigt, etwas Anderes, als die Tonschöpfungen dieses Giganten zu hören. Dazu kam noch, dass die Rebellion ausbrach und alle Fremden für staatsgefährlich gehalten wurden. Das Opernhaus war auf Befehl des Lord Oberkammerherrn verschlossen, und Lord Middlessex brachte es nur mit Mühe dahin, dass das Theater für das politische, den Zeitumständen angepasste Drama: »La Caduta de' Giganti« wieder geöffnet wurde. An dieses Stück hatte sich Gluck nur mit Angst und Zittern gewagt, da er so wenig Freunde in England hatte und einen Auflauf des Pöbels fürchtete, weil nur Fremde und Papisten in dieser Oper beschäftigt waren. Gluck studierte den Geschmack der Engländer und lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf das, was die Zuhörer am meisten ansprach, und da er wahrnahm, dass die einfachsten Stellen die meiste Wirkung hervorriefen, so war er später bemüht, mehr in natürlichen Tönen der menschlichen Empfindungen und Leidenschaften für die Singstimmen zu schreiben, als den Liebhabern tiefer Wissenschaft und den Freunden grosser Schwierigkeiten zu schmeicheln. Es ist daher bemerkenswerth, dass bereits die meisten seiner früheren Arien das Gepräge der Einfachheit haben, und dass jene Zusätze, welche die Herren Bach und Guglielmo sich bei ihrer ersten Aufführung des Gluck'schen »Orfeo« in London erlaubt hatten, zwar in ihrer Weise vortrefflich waren, aber dennoch, als eine fremdartige Zugabe, auf die Einfachheit des Styls und die Charakteristik[168] des Ganzen, die bei den Wiener Aufführungen so allgemeine Bewunderung hervorriefen, höchst störend einwirkten.

Ein solches Urtheil über unsern Gluck wird gewiss jeder Kunstrichter fällen, der, ein treuer Priester der Wahrheit, jenen breiten Weg niemals betreten hat, auf dem die, vom Partheigeiste geleitete Afterkritik in jedem Lande so gerne wandelt.

Dr. Burney kam mit der Familie Gluck zwei Tage darnach bei Lord Stormont zusammen, wo eine auserlesene Gesellschaft bereits versammelt war. Nach den mannigfaltigsten Gesprächen über verschiedene Gegenstände, die während der Tafel und nach deren Aufhube gewechselt wurden, kam auch die Tonkunst an die Ordnung. Da erzählte unser Tonsetzer, unter andern, wie viele Mühe es ihm gekostet habe, bei den Proben der ersten seiner wahrhaft dramatischen Arbeiten, des »Orfeo,« sowohl die Sänger als Instrumentisten nach seinem Sinne zu lenken; dass diese Oper auch bei der Krönung des römischen Königs zu Frankfurt mit hohem Beifalle aufgenommen worden sei, und nur der Kaiserin-Königin nicht habe gefallen wollen: allein, als Ihre Majestät Jedermann bei Hofe davon mit Lobe sprechen hörte und fand, dass diese Oper der allgemeine Gegenstand der Unterredungen war, habe sie beschlossen, dieselbe noch einmal anzuhören. Die erhabene Frau äusserte nun ihren, wenn auch etwas verspäteten Beifall dadurch, dass sie dem Dichter Calzabigi einen Brillantring, und dem Ritter von Gluck eine Börse mit hundert Dukaten verehrte. Noch erzählte der Ritter, dass, als vor einigen Jahren eines Tages auf dem churpfälzischen Theater zu Schwetzingen eine komische Oper von seiner Komposition gegeben wurde, der Churfürst ein so grosses Wohlgefallen daran gefunden habe, dass er entzückt ausrief: »Mich deucht, Gluck habe verdient, für seine Mühe einen guten Trunk zu bekommen« – und zugleich den Befehl ertheilte, dass dem Tonsetzer ein Fass des vortrefflichsten Rheinweines zugesendet werde.

Fräulein von Gluck sang auch bei Lord Stormont, weil die hier versammelte Gesellschaft sie zu hören wünschte. Sie that es, zuweilen bloss mit der Begleitung ihres Oheims auf[169] dem Flügel, zuweilen auch mit mehreren Instrumenten, in so vortrefflicher Weise, dass Dr. Burney einen besseren Gesang in dieser Welt für unmöglich hielt. Sie trug zur allgemeinen Bewunderung ganze Scenen aus den Opern ihres Oheims vor, in denen die Musik so wahrhaft dramatisch, malerisch und ausdrucksvoll war, dass, da die Vokalmusik unstreitig den ersten Rang einnimmt, weil nur sie die Stimme der Leidenschaft und der Ruf der Natur ist, der Tonsatz des Ritters von Gluck und der Gesang seiner Nichte diesen Begriff völlig erschöpften. In einigen Scenen grossen Missgeschickes, worin das menschliche Herz von gehäuften Leiden erdrückt wird; wo »Schauder auf Schauder« folgen, wird Gluck weit über die Schranken eines gewöhnlichen Talentes hinweggetragen; da gibt er den Leidenschaften eine so kräftige Färbung, eine so eindringliche Sprache, dass man in ihm zugleich den Dichter, den Maler und den Tonkünstler erkennen muss. Er scheint in der Musik ein Michelangelo zu seyn, und ist in der Schilderung der schweren Lagen und Stellungen der Seele eben so glücklich, wie der Maler in der Darstellung der Lagen und Stellungen des Körpers. Wohl mag der Ausdruck der Leidenschaften gemeinen Zuhörern nicht selten zu stark erscheinen, allein:


»Il échappe souvent des sons à la douleur

Qui sont faux pour l'oreille, et sont vrais pour le coeur.«


(In solchen Tönen klaget oft der Schmerz

Die falsch nur sind für's Ohr, doch wahr für's Herz!)

Dorat.


Zwischen den Gesängen dieses entzückenden Konzertes hörte Dr. Burney noch einige von Jos. Haydn's lieblichen Quartetten von den ausgezeichnetsten Instrumentisten, deren Namen noch heut' zu Tag einen guten Klang haben, mit möglichster Vollkommenheit ausführen. Ihre Namen sind: Starzer, erste Violine, Ordonnez, zweite Violine, der Graf von Brühl, Viola, und der Vater des vor wenigen Jahren verstorbenen Vice-Hofkapellmeisters Joseph Weigl Violoncello. Die Gesellschaft war über Alles, was sie zu hören bekommen hatte, von einem so hohen Enthusiasmus ergriffen, dass zwischen[170] den Aufführenden und Zuhörern ein Wettstreit entstand, welche von beiden Partheien am meisten gerührt habe, und welche am meisten gerührt worden sei.

Als der englische Doktor endlich von Gluck Abschied nahm (es war am 11. September, Vormittags um 11 Uhr), traf er ihn noch, wie ein wahres Genie, in den Federn. Frau von Gluck entschuldigte ihn zwar, dass er oft spät in die Nacht hinein zu schreiben pflege, und desshalb am Morgen zu seiner Erholung etwas länger das Bett hüte: als aber Gluck selbst zum Vorschein kam, brachte dieser keine so gute Entschuldigung vor, sondern gestand ganz offen seine Trägheit: »Je suis un peu poltron ce matin!« –

Auch die Nichte war noch nicht sichtbar, und die Tante sagte zu deren Rechtfertigung, sie habe ihrer geschwächten Brust wegen ihr den Morgenschlummer angerathen.

Gluck und Burney hielten noch eine lange Unterredung über musikalische und dramatische Wirkungen, besonders über jene, die seine Oper »Orfeo« hervor gebracht hatte, als diese im Jahre 1762 in Wien zum ersten Male gegeben, später in Parma und Bologna wieder auf das Theater gebracht worden war.

Ehe die beiden Tonkünstler sich in freundschaftlicher Weise trennten, gab Gluck dem Engländer Abdrücke seiner Opern »Alceste« und »Paride« und versprach ihm am folgenden Morgen noch eine Abschrift seines Balletes »Don Juan« zu übersenden.

1

Siehe Burney's Tagebuch seiner musikalischen Reisen. 2. Bd.

2

Der Rennweg ist eine sehr lange Gasse der Vorstadt Landstrasse in Wien.

3

Fräulein Marianna von Gluck war die Tochter einer Schwester des Tonsetzers, die mit einem kaiserlichen Husaren-Rittmeister in dem damaligen Bethlen'schen Regimente, Namens Claudius Hedler, verehlicht war. Marianna wurde im Jahre 1759 geboren, und starb im Jahre 1776 an den Blattern. Sie war mit Gluck das erste Mal in Paris und hatte zum öfteren vor der Königin Maria Antoinette gesungen. Mehrere Dichter feierten sie in ihren Liedern.

4

Aus dessen Oper »Artamene.« –

Quelle:
Schmid, Anton: Christoph Willibald Ritter von Gluck. Dessen Leben und tonkünstlerisches Wirken. Leipzig: Friedrich Fleischer, 1854., S. 161-171.
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