Vorwort.

Nicht ohne ein Gefühl schwerer Verantwortung habe ich die ehrenvolle Aufgabe übernommen, Thayers Werk über Beethoven in der deutschen Bearbeitung von Hermann Deiters zu Ende zu führen, zunächst die Drucklegung der letzten beiden Bände zu überwachen, weiterhin aber auch die für die Neuauflage des 2. und 3. Bandes notwendigen Ergänzungen und Berichtigungen einzufügen, und damit das ganze Werk einheitlich durchzuarbeiten und mit den Resultaten der zahlreichen neueren Spezialforschungen über Beethoven in Einklang zu bringen. Leider ist ja derjenige, welcher das umfangreiche, grundlegende Material zusammengebracht und darin seine Lebensaufgabe gefunden hat, Alexander Wheelock Thayer bereits vor zehn Jahren aus dem Leben geschieden, und auch sein würdiger Genosse, der Verfasser der deutschen Bearbeitung Hermann Deiters, hat die Arbeit nicht zu Ende führen können, sondern ist am 11. Mai 1907 zu Koblenz gestorben. So war es denn unabweislich geworden, daß noch ein dritter Name auf dem Titelblatte erschien und auch an der Gestaltung des Textes eine dritte Hand sich beteiligte.

Der 1901 in zweiter Auflage ausgegebene erste Band hat bereits im Vorworte Rechenschaft abgelegt über einige nicht belanglose Änderungen, welche die Anlage des ganzen Werks teils schon erfahren hat, teils noch weiter erfahren soll. Hermann Deiters hat die in den ersten drei Bänden durchgeführte (nicht von Thayer, sondern von ihm herrührende) Einteilung in »Bücher« bereits in der Neuauflage des ersten Bandes fallen lassen und daher auch in dem vorliegenden vierten Bande von ihr abgesehen; es geschah das wohl hauptsächlich darum, weil die letzten Lebensjahre Beethovens, über welche am meisten zu sagen ist, nur sehr schwer einer solchen Teilung sich fügen wollen. Es wird daher das ganze Werk nunmehr nur noch die von Thayer zugrunde gelegte chronologische Ordnung nach Einzeljahren, von 1800 ab im allgemeinen für jedes Jahr ein besonderes Kapitel aufweisen. Diese Ordnung [3] hat den Vorzug großer Übersichtlichkeit und leichter Auffindbarkeit von Details für den, der das Buch nicht nur lesen sondern benutzen will. Freilich gibt sie aber anderseits Anlaß, inhaltlich eng zusammengehöriges unter Umständen weit auseinander zu rücken, bringt auch die Gefahr an sich entbehrlicher Wiederholungen.

Eine zweite noch einschneidendere Änderung des ursprünglichen Plans hat ebenfalls die Vorrede der 2. Auflage des ersten Bandes angezeigt: Deiters gab dem mehrfach ausgesprochenen Wunsche nach, der Zusammentragung der biographischen Tatsachen »etwas mehr Musik hinzuzutun« (S. VIII). Schon die 2. Auflage des ersten Bandes hat dadurch ein stark verändertes Aussehen bekommen, freilich nicht dadurch allein, sondern in weit höherem Grade durch Einreihung der seit dem Erscheinen der ersten Auflage (1866) gewonnenen neuen Erkenntnisse. Deiters' Darstellung emanzipiert sich somit seit Thayers Tode stärker von dessen ursprünglichen Plane der Arbeit und gibt sich als eine Neubearbeitung des Ganzen, mit dem ausdrücklichen Hinweise, daß Thayer selbst sich dem Gedanken nicht würde verschlossen haben, »daß die entwicklung des Komponisten von der des Menschen nicht völlig getrennt werden könne«. Obgleich nicht Berufsmusiker, war doch Deiters auf musikalischem Gebiete derart zu Hause, daß er wohl wagen durfte, in ähnlicher Weise wie sein Lehrer Otto Jahn in der Biographie Mozarts und wie Spitta in der Biographie Bachs auf die musikalische Bedeutung der Werke einzugehen, deren Entstehungsgeschichte er nachzuweisen hatte, und er hat das mit Erfolg getan.

Hermann Deiters hat in den letzten Jahren seines arbeitsreichen Lebens in rastlosem Mühen gegen Krankheit und Alter angekämpft, um den Abschluß des Werkes zu vollenden und ihm, soweit seine Kräfte reichten, Inhalt und Form den früheren Bänden entsprechend zu geben. Der hier zum ersten Male erscheinende vierte Band lag bereits bis zum letzten Bogen ausgedruckt vor, als meine Tätigkeit einzusetzen hatte. Meine Aufgabe beschränkte sich daher darauf, demselben ein Vorwort zu geben und eventuell Druckfehler und andere Richtigstellungen anzumerken. Ich bekenne mit Freuden, daß der Inhalt dieses Bandes ein Stück ernster und gewissenhafter Arbeit bedeutet, eine würdige Fortsetzung der früheren Bände. In weit höherem Grade als in der Neuauflage des ersten Bandes war eine Fülle neuen, Thayer selbst seiner Zeit noch nicht bekannten Materials zu [4] verarbeiten, eine Aufgabe, welche Deiters, ich darf wohl sagen, restlos gelöst hat. Ein Blick auf das am Schluß von mir angehängte alphabetische Register zeigt schon, in welchem Umfange die Arbeiten Nottebohms, Nohls, Kalischers, Frimmels verwertet worden sind. Das gleiche gilt aber auch von verstreuten Einzelarbeiten anderer, von denen wohl kaum eine für die Jahre 1817–1823 in Betracht kommende unbeachtet geblieben ist. Durch die Beifügung eines Registers zu diesem Bande habe ich mich ein wenig in Widerspruch gesetzt mit Deiters' am Schluß des Vorworts zur 2. Auflage des ersten Bandes ausgesprochener Verheißung eines Generalregisters nach Fertigstellung des ganzen Werkes, glaubte aber das darum tun zu müssen, weil doch zweifellos in vielen Händen sich Exemplare ansammeln werden, welche die Bände I–III der ersten Auflage durch die neuen Bände IV–V ergänzen; ein Generalregister würde immer ein unvollständiges Ding bleiben, da voraussichtlich durch Neuauflagen auch der Schlußbände der Begriff Fertigstellung des ganzen Werkes ein zerfließender werden muß. Ich verheiße darum lieber Spezialregister zu jedem fernerhin erscheinenden Bande, die auf alle Fälle bessere Dienste leisten werden. Das gänzliche Fehlen von Registern bei den früher erschienenen Bänden ist ein Übelstand, den sehr viele gleich mir empfunden haben werden; für den vorliegenden erwies sich ein Register als schlechterdings unentbehrlich wegen der sehr zahlreichen Bezugnahmen auf schon erwähntes oder weiterhin zu erwähnendes ohne bestimmt orientierende Seitenzahlen.

Meine persönliche Beisteuer zum Inhalte dieses Bandes konnte nur eine außerordentlich beschränkte sein; das versteht sich ja nach dem oben gesagten von selbst. Ich freue mich aber, doch wenigstens einiges wenige positive beisteuern zu können. Erstens glaube ich die S. 175 noch als verloren betrauerten Mödlinger »Walzer« Beethovens vom Sommer 1819 (vgl. auch den ausführlicheren Bericht III. 43) gefunden zu haben und zwar in anonymen Stimmheften im Archiv der Thomasschule zu Leipzig. Es sind 4 Walzer, 5 Menuette und 2 Laenderer für sieben Instrumente (nur Nr. 2 hat als achtes Instrument ein Fagott), Tänze von auffallender Schönheit und meisterlicher Instrumentierung. Obgleich dieselben inzwischen in Partitur und Stimmen im Verlage von Breitkopf und Härtel erschienen sind, notiere ich doch hier ihre thematischen Anfänge:


Vorwort

[6] Daß über Nr. 5 in der ersten Violinstimme ein auffälliges ›d. B.‹ eingezeichnet ist, daß dieses Menuett Takt 9–11 mit dem Hauptmotiv der Bagatelle Op. 119 Nr. VII gearbeitet ist:


Vorwort

daß Nr. 10 Takt 17–18 sogar in der Tonlage mit Takt 25–26 der Bagatelle Op. 119 Nr. III übereinstimmt:


Vorwort

und daß der Anfang des Trio von Nr. 2 dem des Seitenthemas des Larghetto der D dur-Sinfonie entspricht:


Vorwort

fällt weniger ins Gewicht, die Autorschaft Beethovens zu beweisen, als die Gesammtfaktur der Tänze, der fortgesetzte Rollenwechsel der Instrumente, die frappanten Kontrastierungen des Ausdrucks, barsche Baßmotive (Nr. 6, 11), exquisite Hornwirkungen usw., vor allem aber das Überlaufen des Melodiefadens aus einem Instrument ins andere mit meisterlicher kontrapunktischen Führung. Da die Stimmen zweifellos ungefähr aus der Zeit um 1820 stammen, so müßte man die Tänze Beethoven zuschreiben, auch wenn uns nicht der Verlust eines derartigen Beethovenschen Werkes gerade für sieben Instrumente verbürgt wäre. Anfechtungen meiner Beweisführung werden gewiß nicht ausbleiben; gelingt es aber nicht, dieselbe zu entkräften, oder findet sich vielleicht gar noch ein bestimmterer Beweis für die Autorschaft Beethovens, so bedeutet dieser Fund nicht nur eine wertvolle Bereicherung unseres Besitzstandes an klassischen Elitetänzen (das ist er auf alle Fälle), sondern vielleicht den glücklichsten Beethovenfund seit langer Zeit. Ich habe in einem kleinen Aufsatze in der Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft [7] (November 1907) das Resultat einer Vergleichung dieser Tänze mit den 1872 von R. v. Perger im Archiv des Künstler-Pensions-Instituts zu Wien aufgefundenen und von I. Chantavoine bei Henghel in Paris herausgegebenen 12 Menuetten Beethovens vom Jahre 1799 mitgeteilt, auf das ich verweisen darf. Die Zahl der bestimmt als beethovenisch erweislichen Wendungen wächst durch dasselbe sehr stark, zugleich tritt aber auch ein gewaltiger Fortschritt in der Faktur hervor.

Ein zweiter positiver Beitrag zum Inhalte des Bandes ist mir durch das Entgegenkommen des Herrn Hans Simrock möglich geworden, welcher mir auf meine dringliche Bitte eine Einsichtnahme der bisher gänzlich unzugänglichen Briefe Beethovens an die Firma Nikolaus Simrock gestattete. Da die Briefe demnächst in extenso veröffentlicht werden sollen, so wird auch ihr Wortlaut, den ich wiederzugeben nicht in der Lage bin, bald meine Mitteilungen weiter ergänzen. Ich teile den Inhalt, soweit er den Text des gegenwärtigen Bandes angeht, hier folgend S. XI–XIII unter Hinweis auf die bezüglichen Seiten mit. Herrn Hans Simrock aber sage ich für seine Freundlichkeit auch hier noch besonders Dank.

Für die mancherlei Schwierigkeiten, denen mich die Überarbeitung der andern Bände zweifellos noch gegenüber stellen wird, erbitte ich schon zum voraus um freundlichen Beistand aller derjenigen, welche mir dabei nützen können. Möge es mir vergönnt sein, das mir entgegengebrachte Vertrauen zu rechtfertigen und mich der Mitarbeiterschaft an dem biographischen Denkmal des großen Meisters würdig zu erweisen.


Leipzig, im November 1907.

Hugo Riemann.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 4, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1907., S. 3-8.
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