4. An Henriette Vogt in Leipzig.

[331] (Zwickau, den 2. November 1834.)


Eben las ich Deinen alten Brief –

Dies Blatt war eigentlich für Ernestine bestimmt. Darf ich es meiner theuern Henriette gestehen, daß ich den Unterschied, ob ich für Sie oder sie schreibe, nicht sehr hoch anschlage? – Schon Ludwig2[331] bemerkte, daß Sie setzt eigentlich von mir vertreten würden, daß ich somit Sie wäre, wenigstens für Zwickau – o wie wünschte ich mir dann etwas von meiner Rücksicht gegen Freunde, die sich mehr im Handeln zeigte, als im Versprechen, etwas von meiner Eil im Schreiben an ein einsam stehendes Geliebtenherz, ja! ich wünschte Alles von mir zu besitzen – Leicht könnte ich das als Entschuldigung anführen und sagen »man hat ohnehin genug zu schreiben, z.B. an Henrietten, Ernestinen – nun gar noch an sich schreiben« – aber ich glaube, ein einfaches Fürwort, etwa »sein Sie nicht böse«, thut dasselbe. Ueberdem erinnere ich mich seit Jahren leider keines Briefes, der sich nicht wegen einer langweiligen Entschuldigung wegen Nachlässigkeit angefangen hätte, daß es meinen Briefempfängern ordentlich lästig werden muß.

Meine theure Freundin – wie lieb' ich und acht' ich Sie so innig, als daß ich glaubte, Sie würden dieses Schweigen für etwas anderes als eine Pause nehmen, die ja nur ein stummes Unterbrechen, aber kein Aufhören ist – ich dichte, wenn ich an Sie denke und meine Verwandten wissen's, wenn ich es ausspreche. Dann stehen Sie vor mir, treu wie eine Gestalt, jetzt sinnend, jetzt rathend, selten nur etwas schmollend, manchesmal ein wenig finster, öfter heiter, immer liebend und gütig – dann kommt Ernestine hinzu mit dem Madonnenkopf, der kindlichen Hingebung für mich, sanft und licht, wie ein Himmelsange, das blau durch die Wolke dringt – und dann umarmt Euch Ludwig, leise wie seine ganze äußere Erscheinung mit dem Schmerz im Gesicht und mit dem edlen Spott, den er ihm entgegenstellt – die Gruppe ist fertig – ich ziehe für wenige Augenblicke den Schleier darüber – –.


Vier Tage später, am 5. November.


Sonntags nach jenem Freitagsabschied kam ich hier an. Eigentlich sollte der Fortgehende nie zu antworten haben – denn der Zurückbleibende behält wenigstens den Ort zurück, welcher die Vergangenheitsbilder sicherer fesselt, als alle Fantasie; der Fortgehende wird durch neue Gesichte, neue Verhältnisse zerstreut, er steht wie im Zusammentreffen der Zeiten, die da sonderbar durcheinander wogen. Und überhaupt spürt das Ganze den herausgerissenen Ring aus der Kette weniger, als der Einzelne sein Fehlen im Ganzen.


Am 7.


Mit jedem Augenblick wächst meine Schuld. Wie quälen mich[332] Eure Bilder, Ihres und Ludwigs! Jetzt setz ich mich mit dem festen Vorsatz nieder, nicht eher aufzustehen, als der Brief fertig ist.

Könnte ich nur eine kleine Zeit bei Ihnen sein, so wüßten Sie mehr, als Ihnen ein Brief in Stücken sagen kann. Was wollte ich nicht Alles hier arbeiten, vollbringen, Correspondenzen mit gewissen Leipzigern fortführen, an der Zeitung, am Damenconversationslexikon3 arbeiten – Nichts von Allem. Meine ganzen Studien bestehen in einem Brief an Ernestinen, von der ich schon einen Tag nach meiner Ankunft einen unter Ihrer Adresse erhielt. Seitdem haben die Zerstreuungen kein Ende genommen. Diese tausend bekannten Gesichter in einer Geburtsstadt wollen alle ein Lächeln, ein Wort, von unserer alten Köchin bis zur Obristin hinauf. Was für schmeichelhafte Albernheiten hat man zu schlucken, zu beantworten. – Nun entschädigt aber das Wiederfinden der ältesten Seelen, die in der jahrelangen Trennung ihre Probe bestanden haben und dann mein leibliches Kindheitsthal, in dem Einen Alles so bekannt ansieht. Man lernt dieses nicht und weiß es doch, so scharf hat es die Gewohnheit eingezeichnet. Dies Alles erfreut und zerstreut mich – sonst ist aber mein Seelenzustand der alte, d.h. einer, vor dem es mir schaudert. Ich habe eine Virtuosität im Festhalten der unglücklichen Ideen – es ist der böse Geist, der sich dem äußern Glück entgegenstellt und es verhöhnt. Diese Selbstquälerei treib' ich oft bis zur Versündigung an meinem ganzen Wesen – dann genüg' ich mir nimmer, ich möchte in einen andern Körper oder fortrennen Ewigkeiten lang – – Ernestine hat mir ganz seelig geschrieben. Sie hat durch die Mutter den Vater erforscht und er giebt sie mir – – Henriette, er giebt Sie mir... fühlen Sie, was das heißt – und dennoch dieser qualvolle Zustand, als fürchtete ich, dieses Kleinod annehmen zu dürfen, weil ich es in unseligen Händen weiß. Wollten Sie einen Namen für meinen Schmerz wissen, könnte ich Ihnen keinen nennen – ich glaube, es ist der Schmerz selbst, ich könnte es nicht richtiger ausdrücken – ach! und vielleicht ist es auch die Liebe selbst und die Sehnsucht nach Ernestinen. Ich trag's auch nicht länger mehr und habe schon geschrieben, daß sie über eine Zusammenkunft in[333] den nächsten Tagen nachsinnen möchte. Sollten Sie vielleicht einmal ein recht Wohlgefühl spüren, so denken Sie an zwei Seelen, die in Ihrer dritten ihr Heiligstes niedergelegt haben und deren künftiges Clück unzertrennlich von Ihrem ist.

Was schreib' ich heute confus. Aber der Brief brennt mir unter den Fingern und er muß noch in dieser Stunde aus dem Dause. Es war an mir die Zeit, zu trösten – rechtes Herzensstroh erhalten Sie. – Von Ludwig schreiben Sie mir, was Sie wissen. Ich richte danach meinen Brief ein. Wie kann ich nur den Gedanken tragen ihn hinzugeben. Stirbt er, so schreiben Sie mir's um Himmelswillen nicht, oder lassen mir's schreiben. Das erste brauchte ich gar nicht zu sagen.

Eben sah ich zum Himmel. Es hat fünf geschlagen. Weiße Lämmerwölkchen schwimmen vorüber. Ihre Stube seh' ich nicht erleuchtet – aber im Hintergrunde gewahre ich eine zarte Gestalt, den Kopf in die Hand gesenkt – ich seh es ihr am schmerzlichen Auge an, wie sie daran denkt, ob sie noch halten soll an dem, was man gewöhnlich das Heiligste nennt – an Freundschaft und Liebe – ich möchte mich ihr nähern dürfen und demuthsvoll ihre Hand küssen – aber sie wendet sich weg.

Nun! bleiben Sie mein, meine theure Freundin!


Robert Schumann.

2

Ludwig Schunke.

3

Schumann war kurze Zeit hindurch Mitarbeiter an dem damals von Herlossohn herausgegebenen Damenconversationslexicon, während welcher er mehrere kleine musikalische Artikel für dasselbe lieferte. S. neue Zeitschrift für Musik Bd. 12. S. 132.

Quelle:
Wasielewski, Wilhelm Joseph von: Robert Schumann. Bonn 31880, S. 331-334.
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