1803. Wiener Publikum

[74] Ein halbes Jahrhundert lang hatte ununterbrochen eine Reihe der größten Meister im Reiche der Töne, deren geringster noch zu der Legion der Unsterblichen gehört, aufeinanderfolgend oder gleichzeitig ihre Offenbarungen dem beglückten Wiener Publikum verkündet, fünfzig Jahre lang hatten ihre emsigen Bestrebungen an dem ungefügen Blocke des öffentlichen Geschmacks gebildet, gemeißelt und polirt, um sich und ihren Epigonen ebenbürtige Hörer zu schaffen. Von Gluck's erstem Auftreten in der Kaiserstadt an, war kein Jahr vergangen, wo nicht ein unsterbliches neues Werk dem Empfinden der Wiener einen neuen, seinen Sinn hinzugefügt hätte, jedes Jahrzehnt hatte mit einem neuen Lichtbringer im Cosmos des Klanges bisher ungeahnte Bahnen der Kunst erschlossen. So hatte das Wiener Publikum, einestheils allzusehr an das Hinausschauen am Gewaltigen gewöhnt, den Maßstab für die gewöhnliche tüchtige Leistung verloren, anderntheils aber eine Allgemeinheit des Feinsinns für das Schöne und Bedeutsame in der Kunst gewonnen, daß, als die großen Leitsterne am Kunsthimmel erloschen, ihre Erziehung in diesem Publikum einen selten irrenden[74] Areopag zurückließ, dem sich selbst die Adepten nur mit Zagen vor dem Richterspruche, den er tönen lassen werde, näherten.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 1, Leipzig: Ernst Keil, 1864, S. 74-75.
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