Zwölf Choräle von Seb. Bach,

[10] umgearbeitet von Vogler, zergliedert von Carl Maria von Weber.


(21. Juni 1810.)


Recensere errores minimum – maximum est emendare opus, perficere inceptum2.

Vogler.


Einleitung.

Es ist allerdings ein gewagtes Unternehmen, den Ruhm und die Kenntnisse eines von der Welt anerkannten großen Mannes antasten zu wollen, und ein großer Theil wird mit Unwillen Gegenwärtiges betrachten, und, von Unfehlbarkeits-Glauben beseelt, aburtheilen, ohne beide Theile gehört zu haben. Demohngeachtet wage[10] ich es, im Vertrauen auf die Macht der Wahrheit, des Vermögens, jedes Wort beweisen zu können, und auf die Unparteilichkeit mehrerer Denker, die nicht ungeprüft verdammen werden.

Vogler ist so oft und häufig verkannt worden; die meist hämischen Angriffe seiner Gegner haben ihn so oft gezwungen, derb zu sprechen, und seine Verdienste selbst geltend zu machen zu suchen, – daß es auch hier nicht überflüssig sein dürfte, zu bemerken, daß nicht die eitle Sucht, sich über Andere erheben zu wollen, ihn bestimmt habe, diese Choräle umzuarbeiten, sondern daß blos das dringende Verlangen eines großen Theils von Kunstfreunden, denen beide Choralbegleitungen allerdings durch praktisch-theoretische Vergleiche für das Harmonie-Studium sehr interessante Ausbeute versprach – ihn bewog, vor der Hand diese zwölf nach den bei Breitkopf 1784 erschienenen zu bearbeiten, und dadurch wieder einen neuen Beweis seines Strebens und seiner Bereitwilligkeit, nützlich zu sein, zu geben.

Man hat so oft und häufig zum großen Nachtheile des Wesens und der Aufnahme der Kunst, Autoritäten großer Männer gegen einander aufgerufen (und zwar namentlich Bachs gegen Vogler), daß dadurch ohnfehlbar der Jünger der Kunst, der die Meister so uneinig in ihren Grundideen sieht, stets ein schwankendes Wissen und Errathen in sich fühlen muß, wenn er nicht Kraft genug hat, sich von dem Erlernten einer Schule loszureißen, und prüfend seine Bahn zu wandeln.

Ein bekannter musikalischer Schriftsteller nennt Bach den größten Harmonisten seiner Zeit und aller Zeiten. Vogler, der immer höchst bereitwillig ist, das Verdienst Anderer zu ehren, erkennt Bach als ein seltenes großes Genie, von dem es bewundernswerth, daß er, ohne ein System der Umwendungen zu kennen, solche reichhaltige Harmonieenfolgen erfunden hat, in welcher Mannichfaltigkeit er alle seine Zeitgenossen übertraf. Aber daß durch ihn alle Harmonie-Kenntniß erschöpft sein sollte – ist wirklich eine gewagte Behauptung, und schon durch Vogler's Arbeiten hinlänglich widerlegt.

Vogler, – der rein systematisch zu Werke geht, dessen liberalere Grundsätze, die aus der Natur der Sache erzeugt und bewiesen[11] sind, der Harmonie ein ungleich größeres Feld der Mannichfaltigkeit darbieten – ist der Erste, der nicht nur verbietet und gebietet, sondern auch beweist, und philosophisch seine Grundsätze reiht.

Die Regeln der Kunst liegen so tief in ihr selbst gegründet, daß es nur reiner, unparteiischer Ansicht bedarf, um bei dem Vergleichen der Werke großer Männer, wie hier, das Wahre zu entdecken.

Deswegen halte ich es auch ganz unter der Würde der Kunst, hier etwas Anderes zu thun, als einen Gesichtspunkt zur erleichternden Ansicht beider Werke aufzustellen, von dem das Urtheil der Künstler-Welt ausgehen und sich bestimmen kann.

Schließlich erlaube man mir noch, zu bemerken, daß ich nur zu sehr fühle, was ein Würdigerer, als ich, aus meinem Stoffe hätte schöpfen können, und daß, verweisend, manches Auge auf den jungen Künstler, ohne Ruf, blicken wird. – Aber ich wiederhole es, die Macht der Wahrheit, das Zutrauen zu unparteiisch prüfenden Männern und die Aufforderung Vogler's stählen mich zu diesem Unternehmen.

C.M. v. Weber.


Zergliederung.

Vogler berücksichtigt bei seinen Choral-Begleitungen


1. Plan.


Nur durch consequente Tonfolge wird ein ästhetisches Ganze aufgestellt.

Bei der Anlage einer Choral-Begleitung muß man sich am Ende des Verses eine bestimmte Uebersicht der Schlußfälle verschaffen (wovon ich bei jeder Zergliederung beider Bearbeitungen einen Vergleichungs-Plan voransetzen werde).[12]


2. Harmonie.


Nämlich:


Nach Vogler'sTerminologie


Harmonia simultanea.


a) die Wahl der Harmonie oder Akkorde selbst

b) – der Lage


Harmonia successiva.


c) und – der Folge derselben.

Das ängstliche Vermeiden der verrufenen Quinten und Oktaven erzeugt noch keine Reinheit der Harmoniefolge. Ein bloßer Fehler der Lage ist nicht so wesentlich und streng zu rügen, als die beinah noch nie von andern berührte Folge der Akkorde in rednerischer Hinsicht, als bestimmende Grundzüge der Ideen-Reihe.


3) Selbstständigkeit und Melodie der einzelnen Stimmen, im Verhältniß zu sich, und dem Ganzen.


Es ist nicht genug, daß eine jede Stimme einzeln für sich singe; ihre Zusammenstellung mit den andern ist das Wesentliche, und das dabei zu vermeidende unangenehme Zusammenstoßen durchgehender Noten, um eine einzelne Stimme fließend zu machen.


Choral Nr. 1.
Aus meines Herzens Grunde.
Vergleichungsplan der Schlußfälle.

Bach. D. G. D. G. D. C. D. G.

Vogler. – – A. – – – – –


NB. Bach wiederholt immer ganz den ersten Theil, und Vogler giebt ihn jedesmal neu.


Bei Bach finden wir Takt 3 in den Mittelstimmen gegen den Baß eine unangenehme Zusammenstellung, wo erst Zwölf Choräle von Seb. Bach zum c im Basse,[13] und dann gleich Zwölf Choräle von Seb. Bach zum h im Basse angeschlagen wird. Takt 20 und 21 ist der durch die Harmonie-Begleitung erzeugte Sprung der Melodie eine auffallende Härte, da das H in der Oberstimme durch die begleitende kleine Septime des Basses G zum unwiderstehlichen Leittone (besonders nach der Lehre anderer Systeme) nach C wird; welches Vogler sehr fließend zu vermeiden wußte, indem bei ihm das H als siebenter Ton vorm C erscheint, und nach Belieben fortschreiten kann. Er hat zwar hier, zur vollkommenen Begründung des Schlusses, einen Takt eingeschaltet, der aber nicht in Anschlag zu bringen ist; theils, weil es derselbe Klang, theils, weil Vogler schon in dem einen Takte eben so gut hätte enden können.

Der Takt 24 bei Bach ist voll übelzusammentreffender Durchgänge, und in keiner Begleitung Vogler's wird man dergleichen finden.

Um nicht zu weitläufig zu sein, werde ich künftig immer nur diejenigen Durchgänge bezeichnen, die auf einen bestimmten Anschlag der Takttheile fallen, und die überall und besonders mit der Würde des Chorals unverträglich sind.


Choral Nr. 2.
Vergleichung der Schlußf.3

B. E. E. E. E. E. H. E. A.

V. A. – A. – – – – –


Die fünf Schlüsse in E bei B erzeugen Eintönigkeit, und sind besonders Takt 2 und 6 etwas hart, welches Vogler mit ungemeinem Reichthume der Harmonie jedesmal neu ausstattet. Takt 14 wird dem Gehör reine Quinten hören lassen. Auf dem Papiere sind sie zwar vermieden, und man erlaubte sich also Quinten zu hören, wenn man sie nur nicht sah. Takt 16 ist im Vergleiche mit dem Vogler'schen steif, und das Zusammentreffen von Zwölf Choräle von Seb. Bach unangenehm,[14] dahingegen bei Vogler jede Stimme allein und mit den andern fließt und singt.


Choral Nr. 3.
»Ach Gott vom Himmel sieh darein
Vergl. die Schlußf.

B. E. A. E. A. H. A. E.

V. H. D. – – – – –


Dieser Choral ist einer der schönsten und fließendsten von Bach, bis auf Takt 3, wo, um den Baß singend zu machen, im letzten 4tel Zwölf Choräle von Seb. Bach zusammentreffen. Auch die Sechszehntel in den Melodieen scheinen willkührlich eingeschoben zu sein, und der Natur des Chorals widerstrebend.


Choral Nr. 4.

Es ist das Heil uns kommen her.

Vergl. der Schlußf.


B. A. H. A. H. H. Cis E.

V. – – D. E. – – –


Ref. kann hier nicht unbemerkt lassen, daß Takt 3–7 eine ganz andere Harmonie, als die dem Basse nach zu erwartende sich befindet, welches Bach offenbar dem Gange des Basses zu lieb gethan hat.

Da sich dergleichen noch öfters vorfindet, so drängt sich die Bemerkung auf, daß Bach oft, um den Gang einzelner Stimmen zu erhalten, die Harmonie opferte.

Die Begleitung Voglers zu diesem Choral ist ein Meisterstück, das durch seine vortreffliche, edle Haltung jeden entzücken muß. Die durchaus analoge Fortschreitung des Tenors und Basses, gleich der erste Eintritt des Letzteren im 4. Viertel des ersten Taktes (und die Anwendung hiervon im Takte 6–7) ist ungemein reizend.


Choral Nr. 5.
[15] An Wasserflüssen Babylons.

B. G. G. G. G. G. D. E. A. D. G.

V. H. – E. C. – – H. – G. –


Fünf Schlußfälle in G, wovon der erste choralwidrig in der Terz schließt. Takt 2 zweites Achtel ist derselbe Fall wie im vierten Choral, wo die drei Oberstimmen eine dem Basse ganz fremde Harmonie bezeichnen. Takt 12––13 ist besonders mit unangenehmen Zusammentreffen des Tenors mit dem Basse überhäuft, wo Ref. nur im Allgemeinen darauf verweisen und Vogler's rein harmonische Bearbeitungen als Gegenstück anführen kann.


Choral Nr. 6.
Nun lob' meine Seel' den Herren.

B. A. A. A. A. Fis. E. D. H. D. E. E. A.

V. Cis – Fis – – – – – A. – H. –


Der erste Schlußfall bei Bach wieder in der Terz. Takt 21, das zweite Viertel nur zweistimmig. Takt 31, 32 drängt sich Baß und Tenor, und Takt 43 windet sich der Diskant um den Alt.

Vogler hat überhaupt in diesem, wie in den meisten, einen ungleich größeren Harmonie-Reichthum entwickelt, und doch nie von den Hülfsmitteln des Einschaltens von enharmonischen Nötchen etc. Gebrauch gemacht, um sich fließend zu erhalten. Merkwürdig ist im 14. Takte das Zusammenschmelzen von g und fisfis.


Choral Nr. 7.
Christus, der ist mein Leben.

B. F. F. C. F.

V. D. A. – –4


In diesem übrigens sehr schön geschriebenen Choral sind Takt 5, zweites Viertel, im Alt Zweisechszehntel, eingeschaltet, die zwar die[16] Fortschreitung zweier Quinten decken soll, aber ihn in seinem Flussestören. Vogler hat in seiner Bearbeitung die Terz-Schlüsse, Takt 2 – 4, vermieden, und überhaupt mehr Abwechselung hinein zu legen gewußt.


Choral Nr. 8.
»Freuet Euch, Ihr Christen« etc.

B. F. As. F. As. B. F. C. As. F.

V. – – – C. – – – Des. –


In denn Takten 2, 8, 14, 16 und 20 hat Bach immer die letzten Zweiviertel in gleichen Akkorden anschlagen lassen, welches eine gewisse Einförmigkeit über das Ganze verbreitet, statt daß es Vogler immer mit einer Dissonanz verschönert.

Takt 19 trifft der Baß mit Alt Zwölf Choräle von Seb. Bach zusammen.

Höchst kräftig und fest tritt bei Vogler's Bearbeitung der Baß in den letzten 4 Takten einher, und verstärkt durch seinen analogen Gang das Gefühl des (Takt 20 fünfstimmigen) Schlusses.


Choral Nr. 9.
Ermuntre dich, mein schwacher Geist.

B. G. D. G. D. G. A. E. D. G.

V. – C. – – – – – –


Sehr häufig kommt hier ein steifes Begegnen der Stimmen und durchgehenden Noten vor. (Dem fließenden Gesange zu gefallen, hat Vogler im 11. Takte sich zwei, doch ungleiche Quinten erlaubt; Zwölf Choräle von Seb. Bach die durch Zwölf Choräle von Seb. Bach statt Zwölf Choräle von Seb. Bach leicht vermieden würden5.


Choral Nr. 10.


Aus tiefer Noth schrei ich zu dir.


B. E. E. E. E. A. G. E.

V. – A. H. – D. – –


Die vier Schlußfälle in E klingen einförmig6.


Choral Nr. 11.
[17] Puer natus in Bethlehem.

B. G. C. C. A. A.

V. F. C. – –


NB. Dieser Choral ist in der gedruckten Ausgabe Bach's Nummer 12 und der nächstfolgende Nummer 11.

Wieder bei Bach 2 auf einander folgende Abschnitte in C, die in diesem, ohnedies kurzen Choral, auffallend sind.


Choral Nr. 12.
Jesu nur sei gepreiset.

B. B. C. F. C. B. C. F. C. A. C. C. D. C. D. G. C.

V. G. C. F. C. D. C. F. C. C. C. A. D. E. G. G. C.


In der Tonart C ist bei Bach gleich der erste Schluß, begründet in B. Außerdem sind der durchgehenden und übelzusammenschlagenden Noten so viele, daß Ref. nur hauptsächlich Takt 17 – 19, 38, 39 herausheben und bezeichnen muß. In diesem Choral erscheint Vogler in seiner ganzen Größe. Welche Erhabenheit liegt in der Modulation Takt 19 – 20, wie neu und überraschend kräftig ist sie in ihrem fünfstimmigen Gange. Wie arbeitet und drängt sich Alles am Schlusse, der mit dem wahren Pomp des Kirchengesanges fünfstimmig einhertritt. Kurz, man darf nur sehen, um überzeugt zu sein, und Ref. schließt mit der gegründetsten Hoffnung, daß die Welt dieß Urtheil bestätigen, und dadurch vielleicht Vogler bewegen wird, ihr mehrere dieser Choräle und auch seiner größern Werke zu schenken.[18]

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 3, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 10-19.
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