Der Vampir.

[70] Es waren einmal zwei Nachbarn, die lange Zeit in bester Freundschaft miteinander gelebt hatten. Aus irgend welchem nichtigen Grunde aber entzweiten sie sich und wollten nun nichts mehr voneinander wissen. Der eine, welcher ein Quärulant war und immer in allerhand Prozessen steckte, kehrte eines Tages aus der Stadt, wo er einen gerichtlichen Termin gehabt, zurück, trat in seine Stube, fiel hin und war auf der Stelle tot.

Da half nun nichts – wer tot ist, bleibt tot – man mußte den Verstorbenen, wie sich's gebührt, bestatten.

Einige Wochen später fuhr der andere Wirt zur Stadt. Auf dem Heimwege, es war schon dunkler Abend, mußte er am Friedhofe vorbei. Gerade als er bei der Pforte vorüber wollte, blieb sein Pferd stehen und ging, trotz aller Schläge und Flüche, nicht von der Stelle. Es erhob sich ein starker Wind und aus einem noch frischen Grabe stieg ein großer weißer Mann mit hohen schwarzen Stiefeln, in der Hand einen mächtigen Dolch. Der sprach zu dem Bauer: »Tritt nur ein und sieh, wie's mir jetzt ergeht, ich bin ja dein gewesener Nachbar. In dieser Nacht mußt du sterben, aber ich will dir zuerst für deine Wohlthaten danken!« Wohl oder[70] übel mußte der Wirt mit dem gespentischen Manne gehen. Der führte ihn zuerst in ein prächtiges unterirdisches Schloß und bewirtete ihn aufs beste; dann brachte er ihn wieder auf die Oberwelt und in einen nahgelegenen Bauerhof, wo gerade eine Hochzeit gefeiert wurde. Niemand von den Anwesenden aber vermochte die beiden zu sehen. Der Vampir trat von hinten an die Braut heran, biß sie in den Hals und sog ihr alles Blut aus, so daß sie tot zu Boden sank. Die Gäste gerieten in Furcht und Verzweiflung, der Unhold aber zog seinen Begleiter schnell mit sich fort.

»Kann die Braut denn gar nicht mehr lebendig gemacht werden?« fragte der Bauer.

»Gewiß,« erwiderte der Vampir, »aber wer kennt das Mittel? Man muß ihr einen Schnitt in den kleinen Finger der linken Hand machen und von dem heraussickernden Blute drei Tropfen in den Mund träufeln; dann wird sie wieder heil und gesund.«

Sie gingen weiter und kamen in eine Bauerhütte, wo, bei Branntwein und Bier, gerade Kindtaufe gefeiert wurde. Der Vampir trat an die Wiege des Neugebornen, biß das arme Würmchen in den Hals und sog ihm das Blut aus. Die Mutter begann zu weinen und zu jammern, alle Gäste aber gerieten in großen Schrecken.

»Auch dieses Kind kann man auf dieselbe Weise wieder zum Leben erwecken,« sagte der Unhold und führte seinen Begleiter fort. Jetzt kamen sie an ein Haus, wo gerade ein Beerdigungsschmauß stattfand. Der Vampir wollte hineingehen, prallte aber von der Thür zurück, denn auf derselben befand sich die Zeichnung eines zauberischen Fünfecks,1 welches alle bösen Geister bannen sollte. Jetzt sagte der Wirt: »Laß mich auf einen Augenblick hinein, ich habe großen Hunger!« Der Vampir erlaubte es, unter der Bedingung, daß der Bauer so schnell als möglich wiederkomme. Der aber[71] dachte nicht daran. Einmal in Sicherheit, blieb er, trotz aller Mahnungen des draußen harrenden Unholdes, hinter der schützenden Thür, bis der Hahn krähte. Da verschwand der Vampir, der Bauer aber wurde allen Gästen sichtbar und erzählte denselben, wie's ihm ergangen. Am andern Morgen rief er die Braut und das Kindlein wieder ins Leben zurück. Dann begaben sich alle auf den Friedhof, wo sie das Grab und den Sarg des Vampirs öffneten. Richtig, da lag der Unhold auf dem Gesicht; er hatte wahrscheinlich keine Zeit mehr gehabt, sich auf den Rücken zu kehren. Sie schlugen ihm den Kopf ab, legten diesen zu den Füßen des Leichnams und versahen den Sargdeckel mit dem zauberischen Fünfeck. Seitdem irrte der tote Nachbar nicht mehr als Vampir umher.

1

Pentagramma, Drudenfuß.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 72.
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