Wanderjahre

[33] O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!

Wandern! Was für ein Klingen und Singen liegt in diesem Wort! Wäre ich allein gewesen, jetzt hätte ich mein Bündel geschnürt, hätte mich als »Wanderbursche« durch die Welt treiben lassen – wie ein Treibholz – auf den Strömen des Lebens. Und wo aus dem Erwerbs- und Wirtschaftsleben die Turmkamine am weitesten in die Höhe ragten und wo aus Industriezentralen die Maschinen am lautesten rasselten und lärmten – da hätte ich haltgemacht, wie der Wanderer an einem aussichtsreichen Plätzchen haltmacht und sich hineinsetzt in den wärmenden Schein der Sonne.

Aber ich war nicht allein. Ich hatte ja noch meine Mutter. Und die Anhänglichkeit an die Mutter brachte mich auf den Gedanken, womöglich Heimat und Fremde unter einen Hut zu bringen und die praktischen Erfahrungen der »Fremde« zunächst auf dem Boden der Heimat zu suchen.

Da bis dahin die Handarbeit auf meinem Entwicklungsgang verhältnismäßig bescheiden zurücktreten mußte hinter[33] die Kopfarbeit, ich aber in bezug auf praktisches Können in allen Sätteln gerecht sein wollte, stellte ich mich als Arbeiter an Schraubstock und Drehbank neben andere gewöhnliche Arbeiter. Ich sagte mir ganz richtig: Um allen Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden, um überragende Werte zu schaffen, muß man unten, ganz unten bei den Grundlagen anfangen.

So hatte mich nach meinem gymnasialen und fachwissenschaftlichen Studium die Liebe zu den Lokomotiven in eine Lokomotivenfabrik – die Maschinenbaugesellschaft Karlsruhe – geführt. Der Dienst war schwer und hart, Sommer wie Winter von morgens 6 bis abends 7 Uhr, nur mit einer Stunde Mittagspause. Nicht nur Arme und Hände waren vom Tagwerk abends müde, sondern infolge der damaligen mangelhaften Beleuchtung der Fabrikräume auch die Augen. Hier lernte ich, wenn ich zwölf Stunden lang im Halbdunkel gebohrt und gefeilt hatte, das Wort: »Lehrjahre sind keine Herrenjahre« von seiner strengsten Seite her kennen.

Trotzdem arbeitete ich nach den Feierabendstunden noch angestrengt an meiner theoretischen Weiterbildung. Dabei gab mir meine Lieblingsidee, die Lokomotive auf die Straße zu stellen, die innere Spannkraft. Ich wollte die Lokomotive aus ihrer Zwangsläufigkeit befreien. Sie sollte nicht mehr gebunden sein an die eiserne Linie der Schiene, an den starren Schienenstrang. Alle Straßen nach allen Seiten, nach links und rechts, nach oben und unten, kurz, den ganzen Raum sollte sie beherrschen. »Schienen los«, das war der Leitgedanke meines erfinderischen Tastens schon auf der Hochschule gewesen. Auf einmal nehmen meine[34] Ideen bestimmtere Formen an. Es entsteht ein erster Entwurf, eine erste Zeichnung. Bis ins kleinste hinein wird das neue schienenlose Fahrzeug mit aller Sorgfalt durchkonstruiert. Der junge »Erfinder« hatte keine Ahnung davon, daß das, was er in seinem Innern erwog und konstruktiv zu Papier brachte, in England und Frankreich lange vor ihm praktische Form und Gestalt angenommen hatte – als Straßenlokomotive. Mein Fahrzeug ist immer nur ein papierenes geblieben, da mir zur praktischen Ausführung so ziemlich alles fehlte: Geld, Zeit und Gelegenheit.

Zweieinhalb Jahre ließ sich der Lokomotivenschwärmer praktisch arbeitend in der Stellung festhalten von seinen eisernen Idealen. Die Hand voll Ruß und Schwielen, aber mit einem Herzen voll mutiger Zukunftspläne.

Jetzt, nachdem ich sämtliche Betriebe im Lokomotivenbau praktisch durchlaufen und gründlich kennengelernt hatte, wollte ich weiter. Der Erfahrungskreis meiner Fabrik- und Büropraxis sollte noch weitergespannt werden. Daher verließ ich 1867 die Residenz und ging nach Mannheim. Hier vertauschte ich Feile und Bohrer wieder mit Maßstab und Zirkel. Auf dem technischen Büro von Johann Schweizer sen. konstruierte ich Kranen, Wagen, Zentrifugen usw. So interessant auch die Kranen waren, die wir bauten, eines vermochten sie doch nicht, nämlich mein Ideal des pferdelosen Fahrzeugs aus den Angeln zu heben und in den Hintergrund des Interesses zu verdrängen. Allerlei Konstruktionen entstanden in meinem Kopfe und auf dem Reißbrett. Aber ich blieb immer in den Entwürfen stecken.

Und doch bin ich um diese Zeit schon pferdelos gefahren als Kunstreiter auf dem Knochenschüttler.[35]

Quelle:
Benz, Carl Friedrich: Lebensfahrt eines deutschen Erfinders. Die Erfindung des Automobils, Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Leipzig 1936, S. 33-36.
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