Feldulmeneule (Cosmia diffinis)

[412] Die Gefräßigkeit der Raupen, fast sprichwörtlich geworden, kennt jedermann, denkt aber dabei an die ihm vielleicht verunstalteten Ziergewächse seines Blumengartens, an die fehlgeschlagene Obsternte, oder an die eben geschilderten Verwüstungen im Forste. Daß eine Raupe die andere auffrißt, weiß nur der Sammler und Züchter solchen Geziefers und lernt diese löbliche Eigenschaft auch nur bei gewissen von ihnen kennen. Dieselben hat er zu fürchten, denn er darf darauf rechnen, daß, wenn er eine einzige dieser Mordraupen mit anderen zugleich in dieselbe Schachtel einschloß, um sie heimzutragen, unterwegs ein Theil der mühsam errungenen Ausbeute zu Grunde gerichtet wird. Ich zweifle, ob in freier Natur, wo unter den Kerfen Mord und Raub zum gewöhnlichen Handwerk gehören, dergleichen Raupen sich an anderen vergreifen, da jede der anderen leicht ausweichen kann; in der Gefangenschaft gehört es aber zu den gewöhnlichen Erscheinungen, zumal wenn viele in einem Behälter beisammen sind, auch unter der Voraussetzung, daß es keiner an grünem, frischem Futter gebricht.


1 Forleule (Trachea piniperda) nebst Raupe. 2 Feldulmen-Eule (Cosmia diffinis). Natürliche Größe.
1 Forleule (Trachea piniperda) nebst Raupe. 2 Feldulmen-Eule (Cosmia diffinis). Natürliche Größe.

Delessert theilt eine Beobachtung mit, welche das Grauenhafte der Gefräßigkeit in volles Licht stellt. Eine Mordraupe (Scapelosoma satellitia), nachdem sie sich an einer anderen Raupe fett gefressen hatte, wurde mit einer zweiten Mordraupe (Cosmia trapezina) zusammengesperrt, von dieser an der Seite angefressen, daß die Eingeweide heraushingen, dann aber vom Ende her nach und nach aufgezehrt. Um die Lebenszähigkeit dieses Opfers festzustellen, wurden ihm die eigenen Eingeweide vorgelegt. Die Raupe fraß dieselben auf, während sie von hinten her selbst mehr und mehr verschwand; erst dann, als ihr der Kopf und der Halsring allein noch übrig waren, hörten die Bewegungen der Kinnbacken auf. Dieses Doppelmahl nahm einen Zeitraum von zwei Stunden in Anspruch. Die letztgenannte Gattung enthält mehrere Arten, deren Larven sämmtlich den Mordraupen angehören, so die im Mai auf Rüstern lebende, ihrem äußeren Ansehen nach recht artige Raupe der Feldulmeneule (Cosmia diffinis). Dieselbe, mit glänzend braunem Nackenschilde und schwarzbraunem Kopfe, ist auf gelbgrünem Grunde von fünf weißen Längslinien in gleichen Abständen durchzogen und mit braunen, behaarten Wärzchen in weißen Fleckchen bestreut. Eine lichte, gabelförmige Stirnzeichnung und braune Luftlöcher vollenden ihre Ausstattung. Nicht minder zierlich, glatt und kastanienbraun glänzend, rothgrau angeflogen, besonders am Innenrande, nimmt sich der Schmetterling (Fig. 2) aus, welchen am gelbgrauen Vorderrande zwei große weiße Flecke, die Anfänge der Querlinien, deren hintere stark gebrochen ist, kenntlich machen. Die Stirn beschuppt sich anliegend, der schopflose Mittelleib wird von feinen, glatt gestriegelten Haaren bedeckt, und die Taster, ebenfalls glatt beschuppt, steigen stark auf. Von noch zwei Rüstern bewohnenden Brüdern (Cosmia affinis und pyralina), die mit ihm im Juli erscheinen, ist er der seltenste, aber entschieden auch der hübscheste; jener hat sehr schwache weiße Fleckchen am Vorderrande der Vorderflügel, dieser gar keine.

[412] Man hat neuerdings unter dem Gattungsnamen Agrotis, welcher sich am besten durch Ackereule verdeutschen läßt, eine große Menge von Eulen vereinigt, deren viele schmutzig und unscheinbar aussehen, grau wie der Erdboden, auf welchem sie sich, unter Laub versteckt, am liebsten aufhalten; andere wieder genießen den bei Eulen im allgemeinen seltenen Vorzug, daß ihre Hinterflügel bunt gefärbt sind, gelb mit einer schwarzen Saumbinde. Wenn sie somit das Kleid, welches in einer wissenschaftlichen Eintheilung überhaupt nicht maßgebend sein darf, nicht vereinigt, so stimmen sie in anderen Merkmalen, wenn auch nicht ausnahmslos, mehr überein. Ein kräftiger Körperbau, ein anliegend behaarter Kopf und Mittelleib, welch letzteren kein schneidiger Längskamm auszeichnet, nackte, unbewimperte Augen, aussteigende Taster mit geneigtem Endgliede, ein schopfloser, oft breitgedrückter Hinterleib, unten behaarte Schenkel, die Mittel- und Hinterschienen mit Dornenborsten bewehrt und, wie bei so vielen anderen, die siebente Rippe der Hinterflügel aus der vorderen Ecke der Mittelzelle entspringend, das dürften in der Hauptsache die körperlichen Eigenschaften sein, die wir bei ihnen antreffen. Nehmen wir nun noch dazu die bereits erwähnte Art, sich bei Tage zu verbergen, die auf dem Rücken wagerecht übereinander gelegten Flügel, wenn sie ruhen, die zitternde Bewegung, welche sie mit denselben vornehmen, wenn sie am Tage gestört werden, bevor sie aufgehen, ein Stück hinfliegen, um sich dann wieder an der Erde zu verkriechen, und das sehr versteckte Wesen ihrer nur Kräuter oder Gras fressenden, nackten und feisten Raupen, welche meines Wissens nach ohne Ausnahme überwintern und sich dann in der Erde verpuppen: so vereinigen sich eine Menge Umstände, die ihre Zusammengehörigkeit außer Zweifel setzen. Der Raum gestattet leider nicht, mehr als ein paar der gewöhnlichsten Arten näher vorzuführen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 412-413.
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