Eichen-Rindenlaus (Phylloxera quercus)

[581] Die Eichen-Rindenlaus (Phylloxēra quercus) hat in jüngster Zeit durch die höchst eigenthümliche und abweichende Entwickelungsgeschichte, wie sie Balbiani und Lichtenstein in erster Linie beobachtet haben, die Aufmerksamkeit der Forscher in ungewöhnlich hohem Grade auf sich gelenkt. Im Frühlinge, gegen den 20. Mai, wie letzterer aus Montpellier berichtet, erscheinen auf der Blattrückseite der gewöhnlichen Eichen (Quercus pedunculata und pubescens) geflügelte Läuse, welche in ihrer Gestalt an die oben abgebildete Tannenlaus erinnern. Der Mittelleib ist schwarz, der breite Kopf, der Hinterleib und die kurzen Beine sind roth, mehr oder weniger gelblich. Die gedrungenen Fühler lassen nur drei Glieder erkennen, deren letztes ungefähr zweimal so lang als die breiten Grundglieder zusammengenommen und in seinem ersten Drittel nach außen mit zahnartigem Vorsprunge versehen ist. Die Vorderflügel haben ein röthlichgelbes Randmal und drei sehr feine und einfache Schrägäste, die Hinterflügel nur zwei Längsadern. Die Thierchen laufen, emsig suchend, hin und her und legen in die wollige Bedeckung der jungen Blätter gelbliche Eierchen [581] nieder. Sechs bis acht Tage später entschlüpfen diesen weiße, ungeflügelte Läuse von breiter, schildlausartiger Körperform. Sie saugen sich fest, bewirken hindurch gelbe Flecke, in deren Mitte je eine Laus sitzt, die, wenn sie nach einigen Häutungen geschlechtsreif und schwach warzig geworden, ringförmig um sich dreißig bis vierzig Eier ablegt. Aus diesen entsteht in gleicher Weise eine zweite Brut, und so mehrere hintereinander, bis zum August, die späteren jedoch ärmer an Zahl, und alle ohne Zuthun eines Männchens. Im genannten Monate finden sich zwischen den ungeflügelten einige geflügelte Läuse, die aus in der ersten Jugend nicht unterschiedenen Larven entstehen, nur später durch Auftreten von Flügelstümpfen ein von den früheren verschiedenes Ansehen erhalten.

In einer Nacht gegen Anfang September verschwinden nach Lichtensteins Berichte mit einemmale alle geflügelten Läuse und ziehen gegen Süden, wo sie sich in Massen auf der strauchartigen, in den Gebirgen wachsenden Quercus coccifera wieder zusammenfinden. Alsbald legen sie einige Eier von zweierlei Größe, von denen die größeren hellgelb bleiben, während die kleineren eine röthliche Färbung annehmen. Die nach kurzer Frist sich aus diesen Eiern entwickelnden Geschöpfe entsprechen in Größe und Färbung den Eiern, denen sie entstammen, sind außerordentlich beweglich, haben keine Spur vom Schnabel, wohl aber gleich bei der Geburt entwickelte Geschlechtsunterschiede. Die kleinen sind die Männchen, welche sofort mit verschiedenen Weibchen zur Paarung schreiten und dann absterben. Die größeren weiblichen Läuse leben noch einige Tage, bis jede ihr einziges »Winterei«, geschützt zwischen Knospenschuppen oder Rindenrisse, abgelegt hat. Dasselbe ist nach Verhältnis sehr groß, indem es die Mitte des Körpers einnimmt, und gelb gefärbt. Mit dem nächsten Frühlinge bekommt das Winterei Leben, nach mehreren Häutungen ist eine stachelige Mutterlaus vorhanden, die in den ersten Maitagen an den Stengel oder die Blattunterseite der eben entwickelten Knospe der Kermeseiche einhundertfunfzig bis zweihundert weiße Eierchen legt und sodann stirbt. Vier bis sechs Tage später erscheinen kleine, glatte Läuse, die sich an den Blättern festsaugen, sehr schnell wachsen, nach einigen Häutungen Flügelstümpfe bekommen und nach der letzten Gebrauch von den Flugwerkzeugen machen, um die gewöhnlichen Eichen der nördlicheren Gegenden oder ausländische Arten in den Gärten aufzusuchen, wo wir sie im Anfange unserer Schilderung antrafen. Daß jene Wanderungen auf die südlichere Eichenart zu der Entwickelung nicht nöthig, scheint aus dem Umstande hervorzugehen, daß ich Mitte Juli 1876 bei Erfurt und bei Naumburg das Insekt gleichfalls beobachtet habe und nicht voraussetzen kann, daß es aus dem Mittelpunkte Deutschlands nach der nur in den Gebirgen des südlicheren Europa wachsenden Kermeseiche fliegen sollte.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 581-582.
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