Die Tausendfüßler [619] (Myriopoda)

Etwa fünf- oder sechshundert lichtscheuen Gliederfüßlern, welche in den heißen Ländern reicher an Zahl und stattlicher an Größe vorkommen als bei uns, hat man den Namen der Tausendfüßler (Myriopoda) beigelegt, nicht um damit anzudeuten, daß sie gerade tausend, sondern nur unbestimmt viele Beine haben. Zahlreiche, unter sich fast gleiche, hartschalige Glieder, die je ein Paar, auch zwei Paare gegliederter, einklauiger Beine tragen, und ein davon deutlich abgegrenzter Kopf setzen den wurmförmigen oder asselähnlichen Körper dieser Thiere zusammen, welcher insofern äußerlich einen wesentlichen Unterschied von dem der Insekten zeigt, als mit Ausschluß des Kopfes alle Glieder gleichwerthig erscheinen und somit der Gegensatz zwischen einem mittleren, Flügel und nur sechs Beine tragenden, und einem fußlosen hinteren Körpertheile vollkommen aufgehoben ist. Der Kopf führt an der Stirne oder unter ihrem Rande zwei faden- oder borstenförmige, seltener nach der Spitze hin unmerklich verdickte Fühler sowie jederseits eine Gruppe einfacher Augen in schwankenden Zahlenverhältnissen, die hier und da auch ganz fehlen und bei einer Gattung (Scutigera) durch Netzaugen ersetzt sind. Die Freßwerkzeuge aller Tausendfüßler bestehen im wesentlichen aus tief im Munde eingelenkten hakigen Kinnbacken und einer viertheiligen unteren Mundklappe, deren beide Seitentheile den Kinnladen, die beiden mittleren der Unterlippe der Kerfe entsprechen, sämmtlich aber der Taster ermangeln.

Je weniger die Tausendfüßler der äußeren Erscheinung nach mit den Insekten übereinstimmen, desto mehr nähern sie sich ihnen durch den inneren Bau des Körpers. Zunächst durchziehen diesen verzweigte Luftröhren (Tracheen), die sich nach außen in deutliche, wenn sie in der Bindehaut zwischen den Rücken- und Bauchplatten liegen, oder unter den Ringen mehr versteckte Luftlöcher (Stigmen) öffnen. Der Darmkanal entspricht fast durchweg der Körperlänge und verläuft dann in gerader Richtung vom Munde bis zum After. Das Herz wird durch ein Rückengefäß vertreten, dessen Kammern sich in der Zahl nach derjenigen der Körperringe richten. Am Bauche entlang zieht der Nervenstrang, hier mit zahlreicheren und einander mehr genäherten Knoten versehen als bei den Kerfen, wie die bedeutend größere Anzahl der Ringe von vornherein erwarten ließ. Nicht minder wiederholt sich in der Einrichtung der Speicheldrüsen und der Geschlechtswerkzeuge die Uebereinstimmung mit der vorangegangenen Abtheilung.

Aus den Eiern, welche die Weibchen der Tausendfüßler in ihre dumpfen Aufenthaltsorte, unter Steine, nasses Laub, in faulendes Holz, alte Baumstämme usw., legen, entschlüpfen, soweit die noch lückenhaften Beobachtungen reichen, theils fußlose Junge, welche mit der ersten Häutung drei Paar Beine erhalten, mit jeder folgenden einige mehr, die sich sammt den sie tragenden [619] Gliedern zwischen die bereits vorhandenen einschieben, theils bringen sie deren sechs bis acht mit. Nach Gervais und Lucas soll die Gattung Scolopendra Junge mit vollzähliger Körpergliederung gebären. Indem sich durch die wiederholten Häutungen auch die Augen vermehren, scheint vorherrschend hier die Entwickelung vor sich zu gehen, wie sie bereits früher bei den Springschwänzen unter den Insekten zur Sprache kam. Weil aber eine und dieselbe Art je nach ihrer Entwickelungsstufe mit weniger oder mehr Gliedern und Beinen ausgestattet ist, so scheint der von einigen Systematikern gemachte Versuch, eine Gattung nach der Anzahl der Beine zu charakterisiren, auf sehr unsicheren Füßen zu stehen. Die Tausendfüßler sind zum Theil Pflanzen-, zum Theil Fleischfresser.

Ueber die Stellung der Myriopoden zu den übrigen Gliederfüßlern haben sich die Forscher noch nicht einigen können. Die einen verbinden sie mit den Krebsen, indem sie die harte Körperbedeckung, den Reichthum an Beinen und die äußere Uebereinstimmung gewisser Formen unter ihnen mit den bekannten Kellerasseln zur Begründung ihrer Ansicht hervorheben. Die anderen vereinigen sie mit den Spinnen oder reihen sie einer nichts weniger als natürlichen Klasse der Ungeflügelten an, was aber von jeher in Deutschland weniger Anklang fand als in Frankreich und England. Hier wurde es vorgezogen, sie nach dem Vorgange von Leach als besondere Klasse aufzustellen, welche sich entschieden an die Kerfe anschließt, den Uebergang zu den Krebsen vermittelt und dahin zu charakterisiren wäre, daß die Tausendfüßler landbewohnende Gliederfüßler darstellen, welche einen getrennten Kopf mit zwei Fühlhörnern und beißenden Mundtheilen, zahlreiche, fast völlig gleiche Körperringe mit wenigstens je einem Paare von Gangfüßen und keine Flügel haben, durch Luftröhren athmen und durch unvollkommene Verwandlung zur Geschlechtsreife gelangen.

Fossile Reste haben sich vereinzelt in den Juraschichten gefunden, zahlreicher im Bernsteine; die noch lebenden Arten zerfallen in zwei sehr natürliche Ordnungen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 619-620.
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