Der Kreis der Urthiere

[542] Wenn wir früher einmal, als wir den Kreis der Würmer zu bestimmen suchten, auf offenbare Schwachheiten älterer, sich großen Ansehens erfreuender Systeme hinwiesen, so können wir schon selbst den von den meisten heutigen Zoologen angenommenen Kreis der Urthiere die verwundbare Stelle unseres Systemes nennen. Der Name besagt viel und nichts. Das Eine, indem er uns die Einsicht in die Anfänge der Lebewelt, in jene niedrigsten Reihen verspricht, die eben aus dem Gestaltungslosen sich zu den einfachsten Formen herausarbeiten; das Andere, indem er unsere Vorstellungen über den eigentlichen Inhalt der großen Abtheilung vollkommen im unklaren läßt. Die Worte »Würmer«, »Weichthiere«, »Wirbelthiere« usw. knüpfen an uns täglich vor Augen kommende Geschöpfe von einem jedermann verständlichen Gepräge an. Unter einem Urthiere kann ich mir aber ohne ganz bestimmte Anleitung gar nichts denken, und habe ich auch einige gesehen, so lassen sie auf die Gestalt und typische Ausbildung der Uebrigen keinen sicheren Schluß ziehen. Die Uebersicht über die anderen Kreise des Thierreiches wird von vornherein dadurch erleichtert, daß man für sie eine bestimmte Richtung der Formenbildung, des Baustiles angeben kann. Die meisten Urthiere sind nun zwar nicht überhaupt formlos, bestehen aber aus Formen der verschiedenartigsten Anlage, und es bleibt nichts anderes übrig, als sich mit der ganz allgemeinen und vagen Angabe zu begnügen, daß wir alle diejenigen Thiere Urthiere (Protozoa) nennen, welche auf einer niederen Stufe der Organisation und bei einer solchen niederen Entfaltung der Gewebetheile ihres Körpers beharren, wie sie durch das Vorherrschen der sogenannten Sarcode oder des thierischen Protoplasma bedingt ist.

Damit dieses unvermeidliche Wort, ohne welches ein Verständnis der Beschaffenheit und des Lebens, auch der Lebeweise der Urthiere ganz unmöglich ist, kein leerer Klang bleibt, ist freilich kein anderer Ausweg möglich, als daß man sich von einem befreundeten Naturforscher wirkliches Protoplasma unter dem Mikroskope zeigen läßt. Ein sehr günstiges, im Sommer immer leicht herbeizuschaffendes Objekt sind die Haare an den Staubfäden der Tradescantia. In diesen Haaren, verlängerten Zellen, ist bei einer Vergrößerung von vier- bis fünfhundert ein in fortwährender Veränderung und stetem Fließen befindliches Netz einer dickflüssigen Substanz wahrzunehmen, deren Bewegung sich besonders aus dem Fortgleiten darin enthaltener feiner Körnchen ergibt. Diese Beweglichkeit erscheint als eine der auffallendsten und wichtigsten Eigenschaften des in der Pflanzenzelle eingeschlossenen Protoplasma. Durchaus dieselbe Substanz, sowohl in Zellen enthalten als im freien Zustande, ist nun auch in der Thierwelt ungemein verbreitet. Während aber in den höheren Thieren der anfängliche einfache Protoplasma-Inhalt weitere Verwandlungen, z.B. [542] in den Inhalt der Muskel- und der Nervenfasern eingeht, verharrt er bei anderen, und das sind eben die Protozoen, in seiner ursprünglichen Einfachheit und Formlosigkeit und verleiht dem ganzen Organismus das Gepräge eines tieferen, man darf sagen, anfänglicheren Standpunktes.

Unter diesen Umständen ist eine allgemeine Schilderung der Urthiere unmöglich. Es gehören nach der Meinung vieler Naturforscher große Gruppen von Organismen hinzu, deren thierische Natur von anderen mit guten Gründen angezweifelt wird. Wir kommen mit ihnen überhaupt in das Grenzgebiet der Pflanzenwelt, und es ist viel darüber geforscht und gestritten worden, ob es wirkliche Grenzen zwischen beiden Reichen gäbe, oder ob nicht vielmehr Wesen zweideutiger oder einfacher Beschaffenheit den Uebergang zu einem unmerklichen machen. Es darf nicht mehr daran gezweifelt werden, daß wirklich ein solches Mittelreich besteht. Wir gerathen ferner beim Studium dieser Protozoen in das schwierige Kapitel der sogenannten Urzeugung und mit ihm fast an die Grenze der thatsächlichen Forschung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 542-544.
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