Die Mantelthiere

[410] Wir haben uns schon wiederholt auf einen der reichlicher versehenen Fischmärkte der italienischen und französischen Küstenstädte begeben, um die erste vorläufige Bekanntschaft mit gewissen Seethieren zu machen, welche den Bewohner der Binnenländer durch Form und Aussehen überraschen. Ich lade nochmals zu einem solchen Gange ein. Wir haben die Haufen der bunten, kostbareren Fische, der den ärmeren Klassen überlassenen Haie und Rochen sowie der unser Auge mehr als unsere Zunge reizenden Sepien und Calmars Revüe passiren lassen und sind an die Reihe der mit Schnecken und Muscheln gefüllten Körbe getreten. Wenn auch nicht nach Gattung und Art, sind uns diese Thiere doch im allgemeinen wohl bekannt. Da aber, mitten darunter, finden wir ein Gefäß voll bräunlicher und unregelmäßiger Knollen, voller Runzeln und Höcker, schmutzig und mit allerhand Ansiedlern bedeckt, zu deren Kauf wir ebenso eindringlich eingeladen werden, als vorher zu dem der leckeren Muränen und Branzine. Es ist vollkommen unmöglich, diesen Körpern anzusehen, ob sie pflanzliche oder thierische Gebilde sind; sie fühlen sich an wie hartes, ausgedörrtes Leder, sie bewegen sich nicht. Doch, indem wir einen derselben derb anfassen, spritzt uns ein feiner Wasserstrahl ins Gesicht, und wir entdecken auf der unappetitlichen Oberfläche eine etwas hellere Stelle (a) mit fast kreuzförmigem, feinem Schlitze, aus welchem wir durch Druck noch mehr Wasser entleeren können. Ein Mann aus dem Volke, der ein Dutzend der räthselhaften Knollen für geringe Kupfermünze ersteht, kommt unserer Wißbegierde weiter zu Hülfe; er spaltet mit scharfem Messer ein Stück und zeigt uns einen schön gelblichen Sack, der mit der groben dicken Hülle nur an jener Stelle, aus welcher der Wasserstrahl hervortrat, und an einer zweiten ähnlichen (b) in engerem Zusammenhange ist. Diesen gelben Sack ißt unser neuer Freund mit dem größten Appetite, während er uns uneigennützig die lederzähe Schale zum weiteren wissenschaftlichen Gebrauche überläßt.

Wir haben hiermit die oberflächliche Bekanntschaft mit einem Mantelthiere gemacht, und es bedarf kaum noch der ausdrücklichen Versicherung, daß eben jene undurchsichtige lederartige Hülle der Mantel und zwar der äußere Mantel war, während die übrigen Organe des Thieres von einer zweiten feineren Hülle umschlossen sind, welche letztere mit zwei Zipfeln an der ersten aufgehangen ist. Der Name dieses und der ihm ähnlichen Thiere wird daher keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen. Wir könnten nun an diesem Sackthiere, welches von dem Umstande, daß es in der Regel eine ganze Welt von kleinen pflanzlichen und thierischen Ansiedlern auf sich trägt, den Beinamen »microcosmus« erhielt, sogleich unsere weiteren Detailstudien anstellen, ich rathe jedoch, erst noch einige praktische Erfahrungen über andere Formen der Gruppe zu sammeln, um einiges [410] Material zur Vergleichung zu haben. Der Besuch einer der Badeanstalten im Hafen von Triest oder Neapel gibt uns dasselbe an die Hand; die Unterseite der meisten im Wasser befindlichen Holztheile sind, außer mit vielen Pflanzen und anderen Thieren, auch mit Mantelthieren der Gruppe Ascidiae so dicht besetzt, daß man ganze Haufen abschälen kann. Die sich hier findenden Mantelthiere haben aber keine lederartige, sondern eine durchscheinend häutige Hülle, und vorherrschend ist eine Art, welche ungefähr wie ein Stück Darm aussieht. Auch an ihr, der Ascidia oder Phallusia intestinalis, überzeugen wir uns nun leicht, daß ein innerer feiner Sack in dem festeren Außenmantel aufgehängt und im Umkreise zweier an und neben dem Vorderende befindlichen Oeffnungen mit jenem enger verbunden ist.

Ueber einen ganz anderen Typus von Mantelthieren haben mir oft die dalmatischen Fischer ihr Leid geklagt. Sie bekommen nicht selten ihr Zugnetz statt mit Fischen mit Centnerlasten von kleinen, kaum einen bis zwei Centimeter langen krystallhellen Thierchen erfüllt, welche etwa einer an beiden Enden offenen Tonne gleichen, und in welchen die Forschung trotz ihrer ganz verschiedenen Lebensweise längst die nächsten Verwandten der Ascidien erkannt hat.


Ascidia microcosmus, aufgeschnitten. Natürliche Größe.
Ascidia microcosmus, aufgeschnitten. Natürliche Größe.

Auch ihr Körper ist von einem derben Mantel umgeben, der in seiner mikroskopischen und chemischen Zusammensetzung mit dem jener übereinstimmt. Wir müssen nämlich zur allgemeinen Charakterisirung der Mantelthiere die chemische Beschaffenheit des Theiles betonen, über dessen Beziehungen zu dem gleichnamigen Organe der Muscheln oder vielleicht zu den Schalen der Brachiopoden weiter unten zu reden. Die Sache verhält sich so: Vor einigen Jahrzehnten noch, als die Systematik im Stande zu sein glaubte, scharfe, trennende Unterscheidungsmerkmale zwischen Pflanzen und Thieren aufzustellen, hielt man die Cellulose oder den Pflanzenzellmembran-Stoff für ein ausschließliches Eigenthum der Pflanzen. Es ist aber eine von den hinfällig gewordenen Eigenthümlichkeiten der Vegetabilien, indem sich zeigte, daß die Cellulose einen Hauptbestandtheil des Mantels der Mantelthiere ausmache, wenn auch in anderer Form, als im Pflanzenreiche. Wir können nunmehr die beiden schon angedeuteten Hauptabtheilungen näher ins Auge fassen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 410-412.
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