Gemeiner Heuschreckenkrebs (Squilla mantis)

[30] Nachdem wir, ohne uns auf specielle Beschreibung der Körperformen und systematisch wichtigen Theile einlassen zu können, eine Reihe, wie ich hoffe, lebendiger und anziehender Schilderungen der Lebensweise so mancher höheren Krebse haben an uns vorüber gehen lassen, darf ich den Naturfreund, dem es um eine Einsicht in das Wesen der Formenbildung und des unendlich mannigfaltigen Formenwechsels bei höchst einfacher Grundlage zu thun ist, wohl zumuthen, eine Art dieser Maulfüßer, den gemeinen Heuschreckenkrebs (Squilla mantis) des Mittelmeeres sich etwas näher anzusehen und mit dem Flußkrebse zu vergleichen. Auch wird nur auf diesem Wege eine allmähliche Orientirung und Vorbereitung für das Verständnis der schwierigen Formen der niederen Krebse angebahnt werden können. Ohne die Einsicht in die Hülfsmittel und Werkzeuge zum Leben ist das Leben selbst unverständlich. Unter allen den höheren Krebsen mit gestielten Augen ist der Heuschreckenkrebs derjenige, dessen Körperringe am meisten von einander unabhängig bleiben, und durch deren verschiedene, namentlich in den Gliedmaßen sich ausprägende Entwickelung eine höchst eigenthümliche und interessante Raubthier-Organisation hervorgebracht wird.


Gemeiner Heuschreckenkrebs (Squilla mantis). Etwas verkleinert.
Gemeiner Heuschreckenkrebs (Squilla mantis). Etwas verkleinert.

Der Vordertheil enthält die Werkzeuge zum Erspähen, Fassen und Zerreißen der Beute, der Mittelkörper trägt die Gangbeine, und der gestreckte, mit breiter Flosse anliegende Hinterkörper vermittelt die rapiden Schwimmbewegungen.

Das bei den Decapoden so sehr ausgeprägte Rückenschild finden wir hier auf eine horizontale, fast vierseitige Platte reducirt. Es läßt sowohl die vorderen Theile als die vier hinteren Ringe des Kopfbruststückes frei und mithin selbständig beweglich. Die großen kurzen Augen sind auf einem vordersten, beweglichen Ringe eingepflanzt, auf welchen ein die inneren Fühlhörner tragender Ring folgt. Ihr dünner, dreigliederiger Stiel trägt drei Geiseln. An den unter dem Rückenschilde wurzelnden äußeren Fühlern fällt uns eine lange, dem Stiele angehörige Schuppe [30] auf. Die sie umgebenden Lippen und die den Ober- und Unterkiefern des Flußkrebses entsprechenden Mundtheile können nur an frischen oder in Spiritus aufbewahrten, nicht an getrockneten Exemplaren in ihren Einzelheiten erkannt werden, sind auch wenig abweichend. Dagegen ist die Zahl der Hülfskiefer oder Kieferfüße durch Heranziehen der beiden, dem ersten und zweiten Fußpaare der Zehnfüßer entsprechenden Gliedmaßen auf fünf Paare vermehrt; diese alle, mit Ausnahme des ersten Paares, sind mit einem, wie eine Messerklinge einzuschlagenden Klauengliede versehen, und namentlich ist das eine derselben durch Länge und Stärke und durch die langen und spitzen Zähne der scharfen Klinge ein ausgezeichnetes Angriffs- und Greifwerkzeug geworden.


Leuchtkrebs (Leucifer). Natürliche Größe 5 Millimeter. d Eine Drüse; h Herz; a c große Schlagader; n Nervenstrang.
Leuchtkrebs (Leucifer). Natürliche Größe 5 Millimeter. d Eine Drüse; h Herz; a c große Schlagader; n Nervenstrang.

Auch bei den Raubinsekten (Mantis und anderen) kommen diese Greifbeine vor, kein anderes Gliederthier aber hat eine solche ganze Reihe neben dem Munde stehen. Auf den schon freien, das heißt nicht mehr vom Rückenschilde bedeckten Ring, welcher das letzte Hülfskieferpaar trägt, folgen drei starke Ringe, deren Anhänge wiederum anders geformt sind und als Flossen und Beine verwandt werden. Der große Hinterleib ist aber das eigentliche kräftige Bewegungs- und Ruderwerkzeug, mit einer breiten Flosse endigend. Die beinartigen Anhänge der fünf vorderen Abschnitte dieses Hinterleibes tragen büschelförmige Kiemen. Ihre Ausdehnung entspricht dem regen Blutumlaufe und dem gesteigerten Athembedürfnis, welches sich bei so muskelkräftigen, lebhaften Thieren geltend macht, wie der Heuschreckenkrebs ist.

Er gehört nicht zu den lebhafteren Mitgliedern seiner Klasse, wenigstens nicht in der Gefangenschaft, wo er fast gar nicht schwimmt, sondern auf den drei Paar, in unserer Abbildung seitlich abstehenden Beinen geht. Die sehr gelenkigen Hülfskiefer benutzt er oft zum Putzen und Reinigen der verschiedenen Körpertheile, und indem er sich kämmt, kann er damit selbst die Oberfläche des Schwanzes erreichen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 30-31.
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