Sechste Familie: Igel (Erinacei)

[243] Die Igel (Erinacei), welche die sechste Familie bilden, sind so ausgezeichnete Thiere, daß auch die kürzeste Beschreibung genügt, sie zu kennzeichnen. Ein aus 36 Zähnen bestehendes Gebiß und ein Stachelkleid sind die wichtigsten Merkmale der wenigen Arten, welche wir als wirkliche Angehörige der Familie betrachten. Alle Igel haben gedrungen gebauten Leib, nicht besonders langen, obgleich am Schnauzentheile zu einem Rüssel ausgezogenen Kopf, mit mäßig großen Augen und ziemlich großen Ohren, kurze und dicke Beine mit plumpen Füßen, deren vordere stets fünf und deren hintere meist ebensoviele, ausnahmsweise vier Zehen tragen, einen kurzen Schwanz und ein starres, oberseits aus kurzen Stacheln, unterseits aus Haaren bestehendes Kleid. Von ihren Ordnungsverwandten unterscheidet sie bestimmt das Gebiß. »In dem breiten Zwischenkieferknochen«, beschreibt Blasius, »stehen oben jederseits drei, in der Mitte durch eine Lücke getrennte, einwurzelige Vorderzähne; dann folgen zwei einspitzige zweiwurzelige Lückzähne und auf diese ein zweispitziger, dreiwurzeliger kleinerer Zahn, auf ihn drei vielhöckerige und vielwurzelige Backenzähne und zuletzt ein querstehender, zweihöckeriger und zweiwurzeliger Backenzahn. Im Unterkiefer reihen sich an den großen Vorderzahn jederseits drei einspitzige, einwurzelige, darauf drei vielhöckerige zweiwurzelige Backenzähne und zuletzt ein kleiner einwurzeliger Backenzahn. Eckzähne sind nicht vorhanden.« An dem kurzen und gedrungenen, allseitig verknöcherten Schädel ist der Jochbogen vollständig. Die Wirbelsäule besteht außer den Halswirbeln aus 15 rippentragenden, 9 rippenlosen, 3 Kreuz- und 14 Schwanzwirbeln. Die Unterschenkelknochen sind verwachsen. Unter den Muskeln verdient der Hautmuskel, welcher das Zusammenrollen des Igels bewerkstelligt und mit seinen verschiedenen Theilen fast den ganzen Leib umgibt, besonderer Erwähnung.

Die Familie verbreitet sich über Europa, Afrika und Asien. Wälder und Auen, Felder und Gärten, ausgedehnte Steppen sind die hauptsächlichsten Aufenthaltsorte ihrer Glieder. Hier schlagen die Igel in den dichtesten Gebüschen, unter Hecken, hohlen Bäumen, Wurzeln, im Felsengeklüft, in verlassenen Thierbauen und an anderen Orten ihren Wohnsitz auf oder graben sich selbst kurze Höhlen. Sie leben den größten Theil des Jahres hindurch einzeln oder paarweise und führen ein vollkommen nächtliches Leben. Erst nach Sonnenuntergang ermuntern sie sich von ihrem Tagesschlummer und gehen ihrer Nahrung nach, welche bei den meisten in Pflanzen und Thieren, [243] bei einigen aber ausschließlich in letzteren besteht. Früchte, Obst und saftige Wurzeln, Samen, kleine Säugethiere, Vögel, Lurche, Kerfe und deren Larven, Nacktschnecken, Regenwürmer usw. sind die Stoffe, mit welchen die freigebige Natur ihren Tisch deckt. Ausnahmsweise wagen sich einzelne auch an größere Thiere, stellen z.B. den Hühnerarten oder jungen Hasen nach.


Geripp des Igels. (Aus dem Berliner anatomischen Museum).
Geripp des Igels. (Aus dem Berliner anatomischen Museum).

Sie sind langsame, schwerfällige und ziemlich träge, auf den Boden gebannte Kerfjäger, welche beim Gehen mit der ganzen Sohle auftreten. Unter ihren Sinnen steht der Geruch oben an; aber auch das Gehört ist scharf, während Gesicht und Geschmack sehr wenig ausgebildet sind und das Gefühl eine Stumpfheit erreicht, welche gerade ohne Beispiel dasteht. Die geistigen Fähigkeiten stellen die Igel ziemlich tief. Sie sind furchtsam, scheu und dumm, aber ziemlich gutmüthig oder besser gleichgültig gegen die Verhältnisse, in denen sie leben, und deshalb leicht zu zähmen. Die Mütter werfen drei bis acht blinde Junge, pflegen sie sorglich und zeigen bei der Vertheidigung derselben sogar einen gewissen Grad von Muth, welcher ihnen sonst gänzlich abgeht. Die meisten haben die Eigenthümlichkeit, sich bei der geringsten Gefahr in eine Kugel zusammenzurollen, um auf diese Weise ihre weichen Theile gegen etwaige Angriffe zu schützen. In dieser Stellung schlafen sie auch. Die, welche in den nördlichen Gegenden wohnen, bringen die kalte Zeit in einem ununterbrochenen Winterschlafe zu, und diejenigen, welche unter den Wendekreisen wohnen, schlafen während der Zeit der Dürre.

Der unmittelbare Nutzen, welchen sie den Menschen bringen, ist gering. Gegenwärtig wenigstens weiß man aus einem erlegten Igel kaum noch etwas zu machen. Größer aber wird der mittelbare Nutzen, welchen sie durch Vertilgung einer Masse schädlicher Thiere leisten. Aus diesem Grunde verdienen sie, anstatt der sie gewöhnlich treffenden Verachtung, unsere vollste Theilnahme und den ausgedehntesten Schutz.

Wenn an den ersten warmen Abenden, welche der junge, lachende Frühling bringt, Alt und Jung hinausströmt, um sich in den während des Winters verwaisten und nun neu erwachenden Gärten, Hainen und Wäldchen neue Lebensfrische zu holen, vernimmt der Aufmerksamere vielleicht ein eigenthümliches Geräusch im trockenen, abgefallenen Laube, gewöhnlich unter den dichtesten Hecken und Gebüschen, wird auch, falls er hübsch ruhig bleiben will, bald den Urheber dieses Lärmens entdecken. Ein kleiner, kugelrunder Bursche, mit merkwürdig rauhem Pelze, arbeitet sich aus dem Laube hervor, schnuppert und lauscht und beginnt sodann seine Wanderung mit gleichmäßig trippelnden Schritten. Kommt er näher, so bemerkt man ein sehr niedliches, spitzes [244] Schnäuzchen, gleichsam eine nette Wiederholung des gröberen und derberen Schweinsrüssels vorstellend, ein Paar klare, freundlich blickende Aeuglein und einen Stachelpanzer, welcher die ganzen oberen Theile des Leibes bedeckt, ja auch an den Seiten noch weit herabreicht. Das ist unser, oder ich will eher sagen mein lieber Gartenfreund, der Igel, ein zwar beschränkter, aber gemüthlicher, ehrlicher, treuherziger Gesell, welcher harmlos in das Leben schaut und nicht begreifen zu können scheint, daß der Mensch so niederträchtig sein kann, ihn, welcher sich so hohe Verdienste um das Gesammtwohl erwirbt, nicht nur mit allerlei Schimpfnamen zu belegen, sondern auch nachdrücklich zu verfolgen, ja aus reiner Bubenmordlust sogar todtzuschlagen. Man muß das Entsetzen gesehen haben, mit welchem eine Gesellschaft von Frauen aufspringt, wenn sich plötzlich der Stachelheld zwischen sie drängt oder auch nur von ferne zeigt. Sie thun gerade, als wäre dies ein Feind, welcher das Leben bedrohen oder ihnen wenigstens Verletzungen beibringen könnte, an denen sie jahrelang zu leiden hätten! Keine einzige der aufschreienden aber hat sich jemals die Mühe genommen, das Thier selbst zu beobachten.


Igel (Erinaceus europaeus). 1/3 natürl. Größe.
Igel (Erinaceus europaeus). 1/3 natürl. Größe.

Hätte sie dies gethan, so würde sie bemerkt haben, daß der scheinbar so muthig auf den Menschen zutrabende Held, sobald er sich von der Nähe des gefährlichen Feindes überzeugt hat, im höchsten Entsetzen einen Augenblick lang stutzt, die Stirne runzelt und plötzlich, Gesicht und Beine an den Leib ziehend, zu einer Kugel sich zusammenrollt und in dieser Stellung verharrt, bis die vermeintliche Gefahr vorüber ist. Der Harmlose ist froh, wenn er selbst nicht behelligt wird und geht gern jedem größeren Thiere, und zumal dem Menschen, aus dem Wege.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 243-245.
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