3. Sippe: Tiger (Tigris)

[389] Eine andere Gruppe der Katzen, welcher man ebenfalls den Rang einer Sippe oder Untersippe zugesprochen hat, vertritt der Tiger, eins der vollkommensten Glieder der gesammten Familie. Der Tiger ist eine echte Katze ohne Mähne, mit etwas starkem Backenbart und mit Querstreifen auf seinem bunten Felle. Aber er ist die furchtbarste aller Katzen, ein Räuber, welchem selbst der Mensch bisher noch machtlos gegenübersteht. Kein Raubsäugethier kann mit wahrhaft verführerischer Schönheit so viel Furchtbarkeit verbinden, keines die alte Fabel von der jungen naseweisen Maus, welche in der Katze ein schönes und liebenswürdiges Wesen bewundert, besser bestätigen. Wollte man seine Gefährlichkeit als Maßstab seiner Bedeutung anlegen, so müßte man ihn unbedingt als das erste aller Säugethiere erklären; denn er hat, bisher wenigstens, dem Herrscher der Erde noch in einer Weise gegenübergestanden wie kein anderes Geschöpf. Anstatt vertrieben und zurückgeworfen worden zu sein durch den Anbau des Bodens und den weiter und weiter vordringenden Menschen, ist er gerade hierdurch mehr zu diesem hingezogen worden und hat stellenweise ihn verscheucht. Er zieht sich nicht so wie der Löwe aus bevölkerten Gegenden zurück, der Gefahr, welche ihm Vernichtung droht, klüglich ausweichend, sondern geht ihr dreist oder listig [389] entgegen und stellt sich muthig dem Menschen als Feind gegenüber, aber als heimlicher, unvermuthet herbeischleichender und deshalb um so gefährlicherer Feind. Man hat seine Mordlust und seinen Blutdurst vielfach übertrieben oder wenigstens mit sehr grellen Farben geschildert; wir dürfen uns jedoch hierüber nicht wundern: denn für diejenigen, welche ihn schildern konnten, ist er allerdings der Inbegriff aller Grausamkeit. Noch heutigen Tages bewohnen Indien eine furchterregende Anzahl von Tigern, und noch gegenwärtig müssen dort tausende von Menschen aufgeboten werden, um eine Gegend, welche sonst der Verödung anheimfallen würde, zeitweilig von dieser schlimmsten aller Landplagen zu befreien.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. CCCLXXXIX389-CCCXC390.
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