Bernhardinerhund (Canis familiaris extrarius St. Bernardi)

[635] Mit dem Neufundländer hat der Bernhardinerhund (Canis familiaris extrarius St. Bernardi) Aehnlichkeit. »Die Bernhardiner Doggen«, sagt Tschudi, »sind große, langhaarige, äußerst starke Thiere, mit kurzer, breiter Schnauze und langem Behang, von vorzüglichem Scharfsinn und außerordentlicher Treue. Sie haben sich durch vier Geschlechter rein fortgepflanzt, sind aber jetzt nicht mehr rein vorhanden, nachdem sie bei ihrem treuen Dienste durch Lawinen umgekommen sind. Eine nahverwandte Rasse wird nachgezogen und ein junges Thier zu sechs bis zehn Louisd'or verkauft. Die Heimat dieser edlen Thiere ist das Hospiz des St. Bernhard, 7880 Fuß über dem Meere, jener traurige Gebirgssattel, wo in der nächsten Nähe ein acht- bis neunmonatlicher Winter herrscht, indem das Thermometer sogar bis -27° R. steht, während in den heißesten Sommermonaten und im ganzen Jahre kaum zehn ganz helle Tage ohne Sturm und Schneegestöber oder Nebel kommen, wo, um es kurz zu sagen, die jährliche Mittelwärme niedriger steht als am europäischen Nordkap. Dort fallen bloß im Sommer große Schneeflocken, im Winter dagegen trockene, kleine, zerreibliche Eiskrystalle, die so fein sind, daß der Wind sie durch [635] jede Thür-und Fensterfuge zu treiben vermag. Diese häuft der Wind oft, besonders in der Nähe des Hospizes zu 30 bis 40 Fuß hohen, lockeren Schneewänden an, welche alle Pfade und Schlünde bedecken und beim geringsten Anstoße in die Tiefe stürzen.

Die Reise über diesen alten Gebirgspaß ist nur im Sommer bei ganz klarem Wetter gefahrlos, bei stürmischem Wetter dagegen und im Winter, wo die vielen Spalten und Klüfte vom Schnee verdeckt sind, dem fremden Wanderer ebenso müh- als gefahrvoll. Alljährlich fordert der Berg eine kleine Anzahl von Opfern. Bald fällt der Pilger in eine Spalte, bald begräbt ihn ein Lawinenbruch, bald umhüllt ihn der Nebel, daß er den Pfad verliert und in der Wildnis vor Hunger und Ermüdung umkommt, bald überrascht ihn der Schlaf, aus dem er nicht wieder erwacht. Ohne die echt christliche und aufopfernde Thätigkeit der edlen Mönche wäre der Bernhardspaß nur wenige Wochen oder Monate des Jahres gangbar. Seit dem achten Jahrhundert widmen sie sich der frommen Pflege und Errettung der Reisenden. Die Bewirtung der letzteren geschieht unentgeltlich. Feste, steinerne Gebäude, in denen das Feuer des Herdes nie erlöscht, können im Nothfalle ein paar hundert Menschen beherbergen. Das Eigenthümlichste ist aber der stets gehandhabte Sicherheitsdienst, den die weltberühmten Hunde wesentlich unterstützen. Jeden Tag gehen zwei Knechte des Klosters über die gefährlichsten Stellen des Passes: einer von der tiefsten Sennerei des Klosters hinauf in das Hospiz, der andere hinunter. Bei Unwetter oder Lawinenbrüchen wird die Zahl verdreifacht und eine Anzahl von Geistlichen schließen sich den ›Suchern‹ an, welche von den Hunden begleitet werden und mit Schaufeln, Stangen, Bahren und Erquickungen versehen sind. Jede verdächtige Spur wird unaufhörlich verfolgt, stets ertönen die Signale; die Hunde werden genau beobachtet. Diese sind sehr fein auf die menschliche Fährte dressirt und durchstreifen freiwillig oft tagelang alle Schluchten und Wege des Gebirges. Finden sie einen Erstarrten, so laufen sie auf dem kürzesten Wege nach dem Kloster zurück, bellen heftig und führen die stets bereiten Mönche dem Unglücklichen zu. Treffen sie auf eine Lawine, so untersuchen sie, ob sie nicht die Spur eines Menschen entdecken, und wenn ihre feine Witterung ihnen davon Gewißheit gibt, machen sie sich sofort daran, den Verschütteten freizuscharren, wobei ihnen die starken Klauen und die große Körperkraft wohl zu statten kommen. Gewöhnlich führen sie am Halse ein Körbchen mit Stärkungsmitteln oder ein Fläschchen mit Wein, oft auf dem Rücken wollene Decken mit sich. Die Anzahl der durch diese klugen Hunde Geretteten ist sehr groß und in den Geschichtsbüchern des Hospizes gewissenhaft verzeichnet. Der berühmteste Hund der Rasse war Barry, das unermüdlich thätige Thier, welches in seinem Leben mehr als vierzig Menschen das Leben rettete.«

Diesen Hund hat ein Dichter verherrlicht, und Tschudi führt das Gedicht in seinem Werke auch an; ich aber weiß ein noch besseres Gedicht, wenn es gleich nicht in gebundener Rede geschrieben wurde: die Beschreibung, welche Scheitlin von Barry gibt. »Der allervortrefflichste Hund, den wir kennen«, sagt er, »war nicht derjenige, welcher die Wachmannschaft der Akropolis in Korinth aufgeweckt, nicht derjenige, der als Bezerillo Hunderte der nackten Amerikaner zerrissen, nicht der Hund des Henkers, der auf den Befehl seines Herrn einen ängstlichen Reisenden zum Schutze durch den langen, finsteren Wald begleitet, nicht Drydens ›Drache‹, der, sobald sein Herr ihm winkte, auf vier Banditen stürzte, etliche erwürgte, und so seinem Herrn das Leben rettete, nicht derjenige, der zu Hause anzeigte, des Müllers Kind sei in den Bach gefallen, noch der Hund in Warschau, der von der Brücke in den Strom hinabsprang und ein kleines Mädchen dem Tode in den Wellen entriß, nicht Aubry's, der wüthend den Mörder seines Herrn anpackte und im Kampfe vor dem König zerrissen hätte, nicht Benvenuto Cellini's, der die Goldschmiede, als man Juwelen stehlen wollte, sogleich aufweckte: sondern Barry, der Heilige auf dem St. Bernhard! Ja Barry, du höchster der Hunde, du höchstes der Thiere! Du warst ein großer, sinnvoller Menschenhund mit einer warmen Seele für Unglückliche. Du hast mehr als vierzig Menschen das Leben gerettet. Du zogst mit deinem Körblein und Brod und einem Fläschlein süßer, stärkender Erquickung am Halse aus dem Kloster, in Schneegestöber und Thauwetter Tag für Tag, zu [636] suchen Verschneite, Lawinenbedeckte, sie hervorzuscharren oder, im Falle der Unmöglichkeit schnell nach Hause zu rennen, damit die Klosterbrüder mit dir kommen mit Schaufeln und dir graben helfen. Du warst das Gegentheil von einem Todtengräber, du machtest auferstehen. Du mußtest, wie ein feinfühlender Mensch, durch Mitgefühl belehren können, denn sonst hätte jenes hervorgegrabene Knäblein gewiß nicht gewagt, sich auf deinen Rücken zu setzen, damit du es in das freundliche Kloster trügest.


Bernhardinerhund (Canis familiaris extrarius St. Bernardi). 1/10 natürl. Größe.
Bernhardinerhund (Canis familiaris extrarius St. Bernardi). 1/10 natürl. Größe.

Angelangt, zogst du an der Klingel der heiligen Pforte, auf daß du den barmherzigen Brüdern den köstlichen Findling zur Pflege übergeben könntest. Und als die süße Last dir abgenommen war, eiltest du sogleich aufs neue zum Suchen aus, auf und davon. Jedes Gelingen belehrte dich und machte dich froher und theilnehmender. Das ist der Segen der guten That, daß sie fortwährend Gutes muß gebären! Aber wie sprachst du mit den Gefundenen? Wie flößtest du ihnen Muth und Trost ein? Ich würde dir die Sprache verliehen haben, damit mancher Mensch von dir hätte lernen können. Ja, du wartetest nicht, bis man dich suchen hieß, du erinnertest dich selbst an deine heilige Pflicht, wie ein frommer, Gott wohlgefälliger Mensch. Sowie du nur von fern die Ankunft von Nebel und Schneewetter sahst, eiltest du fort.

So thatest du unermüdlich, ohne Dank zu wollen, zwölf Jahre. Ich hatte die Ehre, auf dem Bernhard dich kennen zu lernen. Ich zog den Hut, wie sichs gebührte, ehrerbietig vor dir ab. Du spieltest soeben mit deinen Kameraden, wie Tiger mit einander spielen. Ich wollte mich mit dir befreunden: aber du murrtest, denn du kanntest mich nicht. Ich aber kannte schon deinen Ruhm und deinen Namen und seinen guten Klang. Wäre ich unglücklich gewesen, du würdest mich nicht angemurrt haben. Nun ist dein Körper ausgestopft im Museum zu Bern. Die Stadt that wohl[637] daran, daß sie dich, da du alt und schwach geworden und der Welt nicht mehr dienen konntest, ernährte, bis du starbst. Wer deinen Körper wohl ausgestopft nun in Bern sieht, ziehe den Hut ab und kaufe dein Bild daselbst und hänge es in Rahmen und Glas an die Wände seines Zimmers, und kaufe dazu auch das Bild des zarten Knaben auf deinem Rücken, wie du mit ihm vor der Klosterpforte stehst und klingelst, und zeige es den Kindern und Schülern und sage: gehe hin und thue desgleichen, wie dieser barmherzige Samariter that, und werfe dafür von den Wänden die Bilder von Robespierre, Marat, Hannickel, Abellino und andere Mörder- und Raubbildnisse zum Fenster hinaus, auf daß das junge Gemüth von Hunden lerne, was es beim Menschen verlernte.«

Auch auf dem Gotthard, dem Simplon, der Grimsel, Furka und allen anderen Hospizen werden, nach Tschudi, vorzügliche Hunde gehalten, welche eine äußerst seine Witterung des Menschen besitzen, öfters Neufundländer oder Bastarde von solchen. Die Hospizbewohner versichern überall, daß diese Thiere besonders im Winter das Nahen eines Wetters schon auf eine Stunde vernehmen und durch unruhiges Umhergehen untrüglich anzeigten. So hoch berühmt aber wie Barry ist kein anderer Hund von ihnen allen geworden. Gegenwärtig sollen die Bernhardinerhunde vollständig ausgestorben und durch andere ersetzt worden sein, welche mehr den Doggen als den Neufundländerhunden ähneln. Soweit die mir zugänglichen Mittheilungen erkennen lassen, stehen sie hinsichtlich ihrer Leistungen nicht hinter ihren Vorgängern zurück.

Unsere Abbildung stellt nicht den eigentlichen St. Bernhardshund, sondern denjenigen vor, welcher in Deutschland Bernhardiner genannt zu werden pflegt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. DCXXXV635-DCXXXVIII638.
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