Mehlschwalbe (Chelidon urbica)

[508] Der verhältnismäßig kurze und deshalb sehr breit erscheinende, auf der Firste scharf gebogene Schnabel, die ungewöhnlich kräftigen Füße, deren äußere und mittlere Zehen bis zum ersten Gelenke miteinander verbunden und wie die Läufe gefiedert sind, die starkschwingigen Flügel, der kurze, seicht gegabelte Schwanz und das glatt anliegende Gefieder gelten als die wesentlichen Kennzeichen einer anderen Schwalbensippe, welcher die bei uns überall häufig vorkommende Mehlschwalbe, Fenster-, Giebel-, Dach-, Kirch-, Stadt-, Leim-, Lehm-, Laubenschwalbe (Chelidon urbica, fenestrarum, rupestris und minor, Hirundo urbica, Bild S. 504) angehört. Ihre Länge beträgt vierzehn, die Breite siebenundzwanzig, die Fittiglänge zehn, die Schwanzlänge sieben Centimeter. Das Gefieder ist auf der Oberseite blauschwarz, auf der Unterseite und auf dem Bürzel weiß. Das Auge ist dunkelbraun, der Schnabel schwarz, der Fuß, soweit er nicht befiedert, fleischfarben. Bei den Jungen ist das Schwarz der Oberseite matter und das Weiß an der Kehle unreiner als bei den Alten.


Höhlenschwalbe (Hirundo rufula) und Felsenschwalbe (Cotyle rupestris). 1/2 natürl. Größe.
Höhlenschwalbe (Hirundo rufula) und Felsenschwalbe (Cotyle rupestris). 1/2 natürl. Größe.

Die Mehlschwalbe theilt mit der Rauchschwalbe so [508] ziemlich dasselbe Vaterland, geht aber weiter nach Norden hinauf als letztere. In Deutschland scheint sie Städte zu bevorzugen: sie ist es, deren Nistansiedelungen man hier an großen und alten Gebäuden sieht. Außer Europa bewohnt sie in gleicher Häufigkeit den größten Theil Sibiriens. Von ihrer Heimat auswandert sie einerseits bis in das Innere Afrikas, andererseits bis nach Südasien, um hier den Winter zu verbringen. Sie trifft meist einige Tage später ein als die Rauchschwalbe, verweilt dafür aber länger in Europa und namentlich in Südeuropa: wir sahen sie noch am zweiten November die Alhambra umfliegen. Doch bemerkt man sie auf ihrer afrikanischen Reise regelmäßig in Gesellschaft ihrer Verwandten. Im Frühjahre kommt sie einzeln an; vor dem Herbstzuge versammelt sie sich zu großen Gesellschaften, welche zuweilen zu unschätzbaren Schwärmen anwachsen, auf den Dächern hoher Gebäude sich scharen und dann, gewöhnlich gleich nach Sonnenuntergange, zur Reise aufbrechen. Gelegentlich dieser Wanderung ruhen sie sich wohl auch im Walde auf Bäumen aus.

In ihrem Wesen zeigt die Mehlschwalbe viel Aehnlichkeit mit der Rauchschwalbe; bei genauerer Beobachtung aber unterscheidet man sie doch sehr leicht von dieser. »Sie scheint«, wie Naumann [509] sagt, »ernster, bedächtiger und einfältiger zu sein als jene, ist minder zutraulich, doch auch nicht scheu, fliegt weniger geschwind, jedoch schnell genug, aber mehr und öfter schwebend, meistens höher als jene. Ihr Flug ist sanft, nicht so außerordentlich schnell und abwechselnd, doch aber auch mit sehr verschiedenartigen Wendungen und Schwenkungen, bald hoch, bald tief.« Bei Regenwetter schwingt sie sich oft zu außerordentlichen Höhen empor und jagt wie die Seglerarten in jenen Luftschichten nach Nahrung. Sie ist geselliger als ihre Verwandten, vereinigt sich jedoch nur mit anderen ihrer Art. Mit der Rauchschwalbe hält sie Frieden, und bei allgemeiner Noth oder auf der Wanderung schart sie sich mit dieser zu einem Fluge; unter gewöhnlichen Umständen aber lebt jede Art abgesondert für sich, ohne gegen die andere besondere Zuneigung zu zeigen. Innerhalb des Verbandes wird der Frieden übrigens oft gestört, und zumal bei den Nestern gibt es viel Zank und Streit, nicht bloß mit anderen nestbedürftigen Mehlschwalben, sondern auch mit dem Sperlinge, welcher gerade das Nest dieser Schwalbe sehr häufig in Besitz nimmt. Die Stimme unterscheidet sie leicht von der Rauchschwalbe. Der Lockton klingt wie »Schär« oder »Skrü«, der Ausdruck der Furcht ist ein zweisilbiges »Skier«, der Gesang, wie Naumann sagt, »ein langes, einfältiges Geleier sich immer wiederholender, durchaus nicht angenehmer Töne«. Er gehört unter die schlechtesten aller Vogelgesänge.

Hinsichtlich der Nahrung der Mehlschwalbe gilt ungefähr dasselbe, was von der Rauchschwalbe gesagt wurde; jedoch kennen wir nur zum geringsten Theile die Kerbthiere, welchen sie nachstrebt, und namentlich die Arten, welche sie in den hohen Luftschichten und, wie es scheint, in reichlicher Menge erbeutet, sind uns vollkommen unbekannt. Stechende Kerbthiere fängt sie ebensowenig wie jene; der Giftstachel würde ihr tödtlich sein. »Einer sehr rüstigen, hungernden, flugbaren, jungen Schwalbe dieser Art«, erzählt Naumann, »hielt ich eine lebende Honigbiene vor; aber kaum hatte sie selbige in dem Schnabel, als sie auch schon in die Kehle gestochen war, die Biene von sich schleuderte, traurig ward und in weniger denn zwei Minuten schon ihren Geist aufgab.«

Bei uns zu Lande nistet die Mehlschwalbe fast ausschließlich an den Gebäuden der Städte und Dörfer; in weniger bewohnten Ländern siedelt sie sich massenhaft an Felswänden an, so, nach eigenen Beobachtungen, in Spanien wie an den Kreidefelsen der Insel Rügen, ebenso, laut Schinz, an geeigneten Felswänden der Schweizer Alpen. Unter allen Umständen wählt sie sich eine Stelle, an welcher das Nest von oben her geschützt ist, so daß es vom Regen nicht getroffen werden kann, am liebsten also die Friese unter Gesimsen und Säulen, Fenster- und Thürnischen, Dachkränze, Wetterbreter und ähnliche Stellen. Zuweilen bezieht sie auch eine Höhlung in der Wand und mauert den Eingang bis auf ein Flugloch zu. Das Nest unterscheidet sich von dem der Rauchschwalbe dadurch, daß es stets bis auf ein Eingangsloch zugebaut wird, von oben also nicht offen ist. Die Gestalt einer Halbkugel ist vorherrschend; doch ändert das Nest nach Ort und Gelegenheit vielfach ab. Der Bau desselben geschieht mit Eifer, ist aber eine lange Arbeit, welche selten unter zwölf bis vierzehn Tagen vollendet wird. Bloß ausnahmsweise sieht man ein einziges dieser Nester; gewöhnlich werden möglichst viele dicht neben und aneinander gebaut. Das Pärchen benutzt das einmal fertige Nest nicht nur zu den zweiten Bruten, welche es in einem Sommer macht, sondern auch in nachfolgenden Jahren, fegt aber immer erst den Unrath aus und trägt neue Niststoffe ein. Schadhafte Stellen werden geschickt ausgebessert, sogar Löcher im Boden wieder ausgeflickt. Das Gelege besteht aus vier bis sechs, achtzehn Millimeter langen, dreizehn Millimeter dicken, zartschaligen, schneeweißen Eiern, welche nach zwölf bis dreizehn Tagen von dem allein brütenden Weibchen gezeitigt werden. Das Männchen versorgt sein Weibchen bei gutem Wetter mit genügender Nahrung; bei schlechtem Wetter hingegen ist dieses genöthigt, zeitweise die Eier zu verlassen, und dadurch verlängert sich dann die Brütezeit. Auch das Wachsthum der Jungen hängt wesentlich von der Witterung ab. In trockenen Sommern fällt es den Eltern nicht schwer, die nöthige Kerbthiermenge herbeizuschaffen, wogegen in ungünstigen Jahren Mangel und Noth oft recht drückend werden. Bei frühzeitig eintretendem kalten Herbstwetter geschieht es, daß die Eltern ihre Jungen [510] verhungern lassen und ohne sie die Winterreise antreten müssen: Malm fand in Schweden Nester, in denen die halb erwachsenen Jungen todt in derselben Ordnung lagen, welche sie, als sie noch lebten, eingehalten hatten. Unter günstigen Umständen verlassen die Jungen nach ungefähr sechzehn Tagen das Nest und üben nun unter Aufsicht der Alten ihre Glieder, bis sie kräftig und geschickt genug sind, um selbst für ihre Unterhaltung zu sorgen. Anfangs kehren sie allabendlich noch nach dem Neste zurück, welches auch den Eltern bisher zur Nachtruhe diente. »Vater, Mutter und Kinder«, berichtet Naumann, »drängen sich darin zusammen, oft sieben bis acht Köpfe stark, und der Raum wird dann alle Abende so beengt, daß es lange währt, ehe sie in Ordnung kommen, und man sich oft wundern muß, wie das Nest, ohne herab zu fallen oder zu bersten, die vielen Balgereien von ihnen aushält. Der Streit wird oft sehr ernstlich, wenn die Jungen, wie es in großen Siedelungen oft vorkommt, sich in ein fremdes Nest verirren, aus welchem sie von den brütenden Alten und Jungen, die im rechtmäßigen Besitze ihres Eigenthums sich tapfer vertheidigen, immer hinausgebissen und hinabgeworfen werden.«

Baumfalk und Merlin sind die schlimmsten Feinde der Mehlschwalbe. Die Nester werden von der Schleiereule und dem Schleierkauze, zuweilen auch wohl von Wieseln, Ratten und Mäusen geplündert. Mancherlei Schmarotzer plagen Alte und Junge; vor anderen Gegnern schützt sie ihre Gewandtheit. Nur mit einem Vogel noch haben sie hartnäckige Kämpfe zu bestehen: mit dem Sperlinge nämlich, und diese Kämpfe arten oft in Mord und Todtschlag aus. »Gewöhnlich«, sagt Naumann, »nimmt das Sperlingsmännchen, sobald die Schwalben das Nest fertig haben, Besitz davon, indem es ohne Umstände hineinkriecht und keck zum Eingangsloche herausguckt, während die Schwalben weiter nichts gegen diesen Gewaltstreich thun können, als, im Vereine mit mehreren ihrer Nachbarn, unter ängstlichem Geschreie um dasselbe umherzuflattern und nach dem Eindringlinge zu schnappen, jedoch ohne es zu wagen, ihn jemals wirklich zu packen. Unter solchen Umständen währt es doch öfters einige Tage, ehe sie es ganz aufgeben und den Sperling im ruhigen Besitze lassen, welcher es denn nun bald nach seiner Weise einrichtet, nämlich mit vielen weichen Stoffen warm ausfüttert, so daß allemal lange Fäden und Halme aus dem Eingangsloche hervorhängen und den vollständig vollzogenen Wechsel der Besitzer kund thun. Weil nun die Sperlinge so sehr gern in solchen Nestern wohnen, hindert die Wegnahme derselben die Schwalben ungemein oft in ihren Brutgeschäften, und das Pärchen, welches das Unglück gar zweimal in einem Sommer trifft, wird dann ganz vom Brüten abgehalten. Ich habe sogar einmal gesehen, wie sich ein altes Sperlingsmännchen in ein Nest drängte, worin schon junge Schwalben saßen, über diese herfiel, einer nach der anderen den Kopf einbiß, sie zum Neste hinauswarf und nun Besitz von diesem nahm, wobei sich denn der Uebelthäter recht aufblähte und hiernach gewöhnlich sich bestrebte, seine That durch ein lang anhaltendes lautes Schilken kund zu thun. Auch Feldsperlinge nisten sich, wenn sie es haben können, gern in Schwalbennester ein. Ein einfältiges Märchen ist es übrigens, daß die Schwalben den Sperling aus Rache einmauern sollen. Er möchte dies wohl nicht abwarten. Ihr einziges Schutzmittel ist, den Eingang so enge zu machen, daß sie nur so eben sich noch durchpressen können, während dies für den dickeren Sperling unmöglich ist und ihn in der That von solchen Nestern abhält, an welchen dieser Kunstgriff angewendet wurde.«

Bei uns zu Lande ist auch die Mehlschwalbe geheiligt; in Italien und Spanien dagegen lassen es sich die Knaben zum Vergnügen gereichen, sie an einer feinen Angel zu fangen, welche mit einer Feder geködert wurde. Die Schwalbe sucht diese Federn für ihr Nest aufzunehmen, bleibt an der Angel hängen und wird dann von den schändlichen Buben in der abscheulichsten Weise gequält.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 508-511.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldsteig

Der Waldsteig

Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon