Schwanengans (Anser canadensis)

[454] Ebenso wie die Sporengans soll sich auch die Schwanengans (Anser canadensis, parvipes, leucopareius und Hutchinsii, Bernicla canadensis, occidentalis, leucopareia und Hutchinsii, Branta canadensis und Hutchinsii, Cygnus, Cygnopsis und Leucoblepharon canadensis) nach Europa verflogen haben. Sie unterscheidet sich von der Stammmutter unserer [454] Hausgans durch schlankeren Leib, längeren Hals und bunteres Gefieder, wird deshalb auch einer besonderen Untersippe (Leucoblepharon) zuertheilt, kommt aber im wesentlichen sehr mit den echten Gänsen überein. Kopf und Hinterhals sind schwarz, Wangengegend, Kehle und Gurgel weiß oder grauweiß, die Obertheile bräunlichgrau, an den Rändern der Federn heller, Brust und Oberhals aschgrau, die Untertheile übrigens reinweiß, die Handschwingen schwarzbraun, die Armschwingen und die Steuerfedern, sechzehn oder achtzehn an der Zahl, schwarz. Das Auge ist graubraun, der Schnabel schwarz, der Fuß schwarzgrau. Die Länge des Männchens beträgt dreiundneunzig, die Breite einhundertachtundsechzig, die Fittiglänge achtundvierzig, die Schwanzlänge zwanzig Centimeter. Das Weibchen ist etwas kleiner.

Die Schwanengans wird in ganz Nordamerika gefunden, brütet aber nicht mehr in den südlichen Theilen der Vereinigten Staaten, sondern hat sich seit Erscheinen des Weißen nach Norden zurückgezogen und wird von Jahr zu Jahr weiter zurückgedrängt. In größeren, schwer zugänglichen Sümpfen der mittleren Staaten brüten übrigens noch alljährlich einzelne Paare, und während des Zuges im Winter besuchen sie alle Staaten. Vom Norden kommend, erscheinen sie in Gesellschaften von zwanzig bis dreißig zu Ende des Oktober, zuweilen früher, zuweilen später, setzen sich in Nahrung versprechenden Gegenden fest, streichen bald wieder nach Norden zurück, bald mehr nach Süden hinab, verbringen so den Winter und treten im April oder im Anfange des Mai ihre Rückreise nach den Brutplätzen an, welche heutzutage größtentheils in der Tundra zwischen dem funfzigsten und siebenundsechzigsten Grade nördlicher Breite zu suchen sind.

Wesen und Eigenschaften, Sitten und Gewohnheiten der Schwanengans ähneln denen unserer Wildgans fast in jeder Hinsicht; nur die Stimme, ein lautes, wie »Garuk, gauk, räh, ruh, rauk, hurruräit« klingendes Geschrei, erinnert mehr an die Laute des Schwanes als an die der Graugans. Ihr Bewegungen auf dem Lande oder im Wasser dagegen, die Art des Fliegens, die Flugordnung usw. sind bei jener dieselben wie bei dieser, und auch die geistigen Fähigkeiten scheinen gleichmäßig entwickelt zu sein. Alle Beobachter rühmen die außerordentliche Sinnesschärfe, die Klugheit, Vorsicht, List, Verschlagenheit, kurz, den Verstand der Schwanengans und sprechen mit derselben Achtung von ihr, mit welcher unsere Jäger von der Wildgans reden. Sie ist stets vorsichtig, aber weniger scheu im Inneren des Landes als an den Seeküsten, oder auf kleineren Teichen minder ängstlich als auf größeren Seen. Beim Weiden stellt sie regelmäßig Wachen aus, und diese benachrichtigen die Gesellschaft von jedem gefährlichen Feinde, welcher sich zeigt. Eine Herde Vieh oder ein Trupp wilder Büffel bringt sie nicht in Unruhe, ein Bär oder Kuguar wird sofort angezeigt, und der ganze Haufe nimmt dann schleunigst seinen Weg dem Wasser zu. Versucht der Feind, sie hier zu verfolgen, so stoßen die Ganserte laute Schreie aus; der Trupp schließt und erhebt sich in nicht geschlossener Masse, nimmt aber, wenn er weit zu fliegen gedenkt, seine regelmäßige Keilordnung an. Ihr Gehör ist so scharf, daß sie im Stande ist, die verschiedenen Geräusche mit bewunderungswürdiger Sicherheit zu unterscheiden. Sie merkt es, ob ein Thier einen dünnen Ast bricht, oder ob derselbe von einem Manne zertreten wird; sie bleibt ruhig, wenn ein Dutzend größerer Schildkröten oder ein Alligator mit Geräusch ins Wasser fällt, wird aber ängstlich, wenn sie den Schlag eines Ruders hört. Eine feine List bethätigen diese Gänse, wenn sie ungehört und ungesehen davon schleichen wollen. Zuweilen nehmen sie zu einem naheliegenden Walde ihre Zuflucht; gewöhnlich schwimmen oder laufen sie auf dichtes Gras zu, ducken sich hier und stehlen sich unhörbar in demselben fort oder drücken sich auch wohl platt auf den Boden nieder. An ihrem gewöhnlichen Ruheplatze hängen sie mit einer gewissen Vorliebe; werden sie gestört, so entfernen sie sich da, wo sie selten behelligt wurden, in der Regel nicht weit, während sie an anderen Orten beträchtliche Strecken durchfliegen, bevor sie sich niederlassen. Daß sie an diesen Plätzen ebenfalls Wachen ausstellen, versteht sich von selbst. Verwundete, welche durch den Schuß zum Fliegen unfähig wurden, thun, als ob sie kerngesund wären, laufen aber so schnell als möglich einem sie verbergenden Platze zu und huschen so geschickt zwischen den Pflanzen dahin, daß sie sich dem Jäger sehr oft entziehen. [455] Einmal sah Audubon in Labrador eine Schwanengans, welche während der Mauser alle Schwingen verloren hatte, auf dem Wasser schwimmen und verfolgte sie mit dem Boote; als dieses sich näherte, tauchte sie, kam weit davon zum Vorscheine, tauchte wieder und wurde hierauf nicht mehr gesehen. Nach längerem Suchen bemerkte man, daß sie sich dicht hinter dem Sterne des Bootes hielt, aber nur den Kopf über das Wasser emporstreckte und in dieser Stellung ebenso schnell weiter schwamm wie das Boot. Einer der Jäger versuchte nun, sie mit der Hand zu ergreifen; sie aber tauchte blitzschnell in die Tiefe und hielt sich jetzt bald auf dieser, bald auf jener Seite des Bootes, immer so, daß sämmtliche Jäger ihr nichts anhaben konnten. Beim Fliegen bewegen sich die Schwanengänse in einer Höhe außer aller Schußweite; des Nachts aber ziehen sie, wie die meisten vorsichtigen Vögel, niedriger über dem Boden dahin. Ungewöhnliche Erscheinungen oder auch dichter Nebel verwirren sie: an den hellen Scheiben der Leuchtthürme zerstoßen sie sich des Nachts, an hohen Gebäuden bei dichtem Nebel nicht selten die Köpfe.

Da, wo die Schwanengans in den südlicheren Theilen der Vereinigten Staaten brütet, beginnt sie mit dem Baue des Nestes bereits im März. Um diese Zeit sind die Männchen sehr aufgeregt und im höchsten Grade kampflustig. Benachbarte Ganserte liegen sich beständig in den Federn, gleichsam als ob sie glaubten, daß ein jeder dem anderen seine rechtmäßig erworbene Gattin, mit welcher er während seiner ganzen Lebenszeit in treuer Ehe lebt, entführen wolle, oder als ob er meine, daß er durch den anderen in seinen Liebesbewerbungen und Liebesbezeigungen gestört werde. Gelegentlich kommt es zu hartnäckigen Kämpfen; doch pflegt deren Ausgang für beide Theile gleich günstig zu sein, und beide kehren nach beendigtem Streite frohlockend zu ihren Weibchen zurück. Zum Nistorte wählt sich das Paar einen vom Wasser etwas abliegenden Ort zwischen dichtem Grase, unter Gebüsch; nicht allzuselten kommt es auch vor, daß ein Paar auf Bäumen brütet: der Prinz von Wied fand das Nest einer Schwanengans im Gezweige einer hohen Pappel angelegt, auf welcher höher oben der Horst eines weißköpfigen Seeadlers stand; Coues und Stevenson haben ebenfalls Nester auf Bäumen gefunden. Ein zweites Nest, welches dieser Forscher untersuchte, war hinter einem hohen Treibholzstamme angelegt und bestand bloß aus einer seichten Grube im Sande, welche mit Dunen ausgekleidet worden war. In der Regel verwendet der Vogel größere Sorgfalt bei der Anlage des Nestes, und zuweilen schichtet er einen ziemlich hohen Haufen von strohar tigem Grase und anderen Pflanzenstoffen zusammen. Das Gelege besteht aus drei bis neun Eiern von etwa fünfundachtzig Millimeter Längs- und siebenundfunfzig Millimeter Querdurchmesser; gefangene legen deren zehn bis elf. Nach achtundzwanzigtägiger Bebrütung entschlüpfen die dunigen Jungen dem Eie, werden noch ein oder zwei Tage im Neste zurückgehalten und folgen dann ihren Eltern ins Wasser, kehren aber gewöhnlich gegen Abend zum Lande zurück, um hier sich auszuruhen und zu sonnen, und verbringen die Nacht unter dem Gefieder der Mutter. Bei Gefahr vertheidigen beide Eltern ihre Brut mit bewunderungswürdigem Muthe: Audubon kannte ein Paar, welches mehrere Jahre nach einander auf demselben Teiche brütete und infolge der vielen Besuche unseres Forschers zuletzt so dreist wurde, daß dieser sich bis auf wenige Schritte nähern konnte. Der Gansert erhob sich zu seiner vollen Größe, fuhr auch wohl auf den Eindringling los, um ihn zurückzuschrecken, und versetzte ihm einmal im Fliegen einen heftigen Schlag auf den Arm. Nach solchen Angriffen kehrte er jedesmal selbstbewußt zum Neste zurück und versicherte die Gattin durch Beugen des Kopfes von seiner Willfährigkeit, sie ferner zu vertheidigen. Um das muthvolle Thier genauer kennen zu lernen, beschloß Audubon, es zu fangen. Zu diesem Zwecke brachte er Körner mit und streute diese in der Nähe des Nestes aus. Nach einigen Tagen fraßen beide Gänse von den Körnern, selbst angesichts des Forschers, und schließlich gewöhnten sie sich so an den Besucher, daß sie letzterem erlaubten, sich bis auf wenige Meter dem Neste zu nähern; doch duldeten sie nie, daß er die Eier anrührte, und wenn er dies versuchte, eilte das Männchen wüthend auf ihn zu und biß ihn heftig in die Finger. Als die Jungen dem Ausschlüpfen nahe waren, köderte er ein großes Netz mit Korn: der Gansert fraß von [456] demselben und wurde gefangen; als am nächsten Morgen die Gans ihre ausgeschlüpften Jungen dem Flusse zuführen wollte, fing Audubon die letzteren sowie die Mutter ein, so daß er also die Gesellschaft in seine Gewalt gebracht hatte. Die Familie wurde nun mit gelähmten Flügeln in einen großen Garten gesetzt; die Eltern waren aber so eingeschüchtert, daß ihr Pfleger um die Jungen fürchten mußte. Doch gelang es ihm, sie nach und nach an die Larven von Heuschrecken, ihr Lieblingsfutter, eingeweichtes Gerstenschrot und dergleichen zu gewöhnen und die Jungen großzuziehen. Bei Eintritt strenger Kälte im December beobachtete Audubon, daß der Gansert oft seine Flügel breitete und dabei ein lautes Geschrei ausstieß. Auf dieses hin antworteten alle Glieder der Familie, zuerst das Weibchen, dann die Jungen, die ganze Gesellschaft rannte hierauf, so weit sie konnte, in südlicher Richtung durch den Garten und versuchte aufzufliegen. Drei Jahre lang blieben die Vögel im Besitze unseres Gewährsmannes, und mehrere von den Jungen, nicht aber die Alten, pflanzten sich in der Gefangenschaft fort.

Gegenwärtig sieht man gefangene Schwanengänse auf allen größeren Bauerhöfen Nordamerikas. Man hat erkannt, daß diese Art noch einen höheren Nutzen gewährt als die Hausgans, und sie zum wirklichen Hausthiere gemacht. Sie wird jetzt ganz in derselben Weise gehalten wie ihre Verwandte. Viele paaren sich mit anderen Gänsen, insbesondere mit der Hausgans, und die Nachkommen aus solchen Kreuzungen sollen sich besonders dadurch auszeichnen, daß sie leichter fett werden als ihre beiden Stammarten. In unseren Thiergärten züchtet man sie seit Jahren mit bestem Erfolge.

Indianer und Weiße jagen sie mit gleichem Eifer, fangen sie mit Hülfe von Lockgänsen zu hunderten, salzen oder räuchern ihr Fleisch und nutzen Federn und Dunen, welche an Güte die unserer Hausgans bei weitem übertreffen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 454-457.
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