Möven (Larinae)

[536] »Raben des Meeres« nenne ich die Möven (Larinae); denn jenen Vögeln entsprechen sie in ihrem Sein und Wesen. Sie bilden eine nach außen hin wohl abgegrenzte Unterfamilie und sind gut gebaute, kräftige Vögel von sehr verschiedener Größe, da die kleinsten Arten eine Dohle an Leibesumfang kaum übertreffen, während die größeren hierin einem Adler ungefähr gleichkommen. Der Leib ist kräftig, der Hals kurz, der Kopf ziemlich groß, der Schnabel mittellang, seitlich stark zusammengedrückt, bis zur Mitte der Firste gerade, von hier aus sanfthakig abwärts gebogen, sein Unterkiefer von der Spitze eckig vorgezogen, oben und unten scharfschneidig, der Rachen bis ans Auge gespalten, der Fuß mittelhoch, schlankläu fig, mit wenigen Ausnahmen vierzehig und vorn schwimmhäutig, der Flügel groß, lang, breit, jedoch schmal zugespitzt, unter den Schwingen die erste über die übrigen verlängert, der aus zwölf Federn bestehende Schwanz mittellang, breit und gerade, seltener seicht abgeschnitten oder in der Mitte auch etwas verlängert, das Kleingefieder sehr dicht, auf der Unterseite pelzartig, aber weich und sanft, die Färbung eine zarte und ansprechende, im ganzen sehr übereinstimmende, nach Jahreszeit und Alter meist verschiedene. Der innere Bau ähnelt in allen wesentlichen Stücken dem der Seeschwalben.

Die Möven, von denen man über sechzig Arten unterschieden hat, verbreiten sich über alle Theile unserer Erde und beleben alle Meere. Wenige Arten entfernen sich weit vom Lande und kehren, wenn sie es thun, immer wieder bald zu ihm zurück, so daß man sie eigentlich als Küstenvögel bezeichnen muß. Für den Schiffer sind sie die sichersten Boten des Landes: wenn sie erst wieder ein Fahrzeug umkreisen, ist die Küste nicht mehr fern. Eher noch als auf die hohe See hinaus fliegen sie in das Innere des Binnenlandes, dem Laufe größerer Ströme folgend oder von einem Gewässer zu dem anderen sich wendend. Einzelne Arten bevorzugen übrigens Binnengewässer, wählen sie wenigstens während der Fortpflanzungszeit zu ihrem Aufenthaltsorte. Viele Arten gehören zu den Zugvögeln, erscheinen in der nordischen Heimat im Frühlinge, brüten und begeben sich im Spätherbste wieder auf die Reise, andere wandern oder streichen. Diese Ortsveränderungen hängen aufs engste mit der Ernährung zusammen. Für alle Möven ohne Ausnahme bilden Fische eine beliebte Nahrung; viele von ihnen aber gehören zu den eifrigsten Kerbthierjägern, und gerade sie sind es, welche zu regelmäßigem Ziehen gezwungen werden, während die übrigen da, wo das Meer nicht vereist, auch im Winter noch offenen Tisch haben. Neben diesen beiden Hauptnahrungsstoffen erbeuten sie alle kleineren Thiere, welche das Meer beherbergt, oder alle thierischen Stoffe überhaupt. Sie fressen Aas wie die Geier, jagen nach lebender Beute wie Raubvögel und lesen am Strande zusammen wie Tauben oder Hühner, bethätigen überhaupt dieselbe Vielseitigkeit wie die Raben, sind jedoch gieriger und gefräßiger als letztere; denn auch sie scheinen von einem beständigen Heißhunger geplagt zu werden und geradezu unersättlich zu sein.

Ansprechend sind Gestalt und Färbung, anmuthig die Bewegungen der Möven, anziehend ist ihr Treiben. Ihre Stellung auf festem Boden nennen wir eine edle, weil sie einen gewissen Stolz bekundet; ihr Gang ist gut und verhältnismäßig rasch. Ihre Schwimmfertigkeit übertrifft die der meisten Verwandten im engeren Sinne: sie liegen leicht wie Schaumbälle auf den Wogen und stechen durch ihre blendenden Farben von diesen so lebhaft ab, daß sie dem Meere zum wahren Schmucke werden. Ihr Flug geschieht mit langsamen Flügelschlägen; diese wechseln aber oft mit anhaltendem, leichtem und schönem Schweben ab, welches an das der breitflügeligen Raubvögel erinnert und mit spielender Leichtigkeit ausgeführt wird. Im Stoßtauchen stehen sie hinter den Verwandten zurück, stürzen sich jedoch immer noch so heftig auf die Wellen herab, daß sie den leichten Leib etwa einen halben Meter tief unter die Oberfläche des Wassers zwängen. Widerlich ist die Stimme, welche bald aus stärker, bald aus schwächer schallenden, kreischenden und krächzenden Lauten besteht und zum Ueberdrusse ausgestoßen wird, falls sich irgend eine Erregung des Gemüthes bemächtigt. Unter den Sinnen stehen Gesicht und Gehör entschieden obenan; das Empfindungsvermögen scheint ebenfalls wohl entwickelt zu sein; einen gewissen Geschmack bekunden sie durch die Auswahl der besseren Nahrungsmittel bei voller Tafel; über den Geruch läßt sich wohl kaum ein [537] Urtheil fällen. Alle Möven sind kluge, verständige Vögel, welche die Verhältnisse wohl zu würdigen und ihr Benehmen danach einzurichten wissen; alle sind muthig anderen Geschöpfen gegenüber, selbstbewußt und etwas herrschsüchtig, ihren Gatten und ihrer Brut in treuer Liebe zugethan, lieben auch die Gesellschaft mit anderen ihrer Art: aber alle zeigen sich ebenso neidisch, mißgünstig und unfreundlich gegen andere Vögel und opfern ihrer Freßgier die scheinbar bestehende Freundschaft ohne Bedenken. Um andere Meervögel bekümmern sie sich nur soweit als eben nöthig, entweder weil sie dieselben fürchten, oder weil sie aus ihnen irgend welchen Nutzen zu ziehen hoffen. Sie leben und brüten unter anderen Schwimmvögeln; aber nur der Ort, nicht die Gesellschaft scheint sie zu fesseln, und wenn sie es vermögen, stehen sie nicht an, die Mitbewohner eines Brutberges zu bestehlen und zu berauben. Dem Menschen mißtrauen sie aller Orten und unter allen Umständen; gleichwohl erscheinen sie immer und immer wieder in seiner Nähe, besuchen jeden Hafen, jede Ortschaft an der Küste, umkreisen jedes Schiff, welches in See geht oder dem Lande sich nähert, soweit es eben zulässig erscheint, weil sie durch Erfahrung gelernt haben, daß aus dem menschlichen Haushalte immer etwas brauchbares für sie abfällt. Nach längerer Beobachtung lernen sie nicht bloß die Oertlichkeit, sondern auch einzelne Personen unterscheiden, zeigen sich demgemäß da, wo sie oft und ungestört Beute machen durften, äußerst zutraulich oder richtiger dreist, während sie eine ihnen zugefügte Unbill nicht sogleich vergessen. Eine irgendwie geschädigte Möve pflegt allen anderen Mittheilung zu geben, wie denn überhaupt unter ihnen das beste Einvernehmen herrscht, sobald es gilt, einer gemeinschaftlichen Gefahr zu begegnen, einem gemeinschaftlichen Feinde zu widerstehen: Raubvögel, Raubmöven und Kolkraben oder Krähen werden von allen Möven, welche in der Nähe sind, gleichzeitig angegriffen und gewöhnlich auch in die Flucht geschlagen. Außer der Brutzeit kann es geschehen, daß man auch einzelne alte Möven sieht; während der Brutzeit aber vereinigen sich alle Arten zu Gesellschaften, welche nicht selten zu unzählbaren Scharen anwachsen. Schon im nördlichen Deutschland gibt es Mövenberge, welche von mehreren hundert Paaren bewohnt werden; weiter oben im Norden kann man Ansiedelungen sehen, deren Anzahl keine Schätzung zuläßt. Auch hier halten sich die größeren Arten der Familie minder eng zusammen als die kleineren; diese aber bedecken im buchstäblichen Sinne des Wortes ganze Felswände oder Berge, benutzen jeden Raum, welcher sich darbietet, und legen ein Nest so dicht neben dem anderen an, daß die brütenden Alten sich drängen. Die Nester sind je nach dem Standorte verschieden, da, wo es an Baustoffen nicht mangelt, einigermaßen ausgebaut, d.h. aus trockenen Wasser- und Strandflechten locker und kunstlos errichtet, da, wo solche Stoffe fehlen, so einfach wie möglich hergerichtet. Zwei bis vier große, eigestaltige, starkschalige, grobkörnige, auf schmutzig- oder braungrünlichem oder grünbräunlichem Grunde aschgrau und schwarzbraun gefleckte Eier bilden das Gelege und werden vom Männchen und Weibchen wechselweise drei bis vier Wochen lang, bei schlechtem Wetter anhaltender als bei gutem, bebrütet. Beide Eltern zeigen außerordentliche Anhänglichkeit an die Brut und vergessen, wenn sie dieselbe gefährdet sehen, jede Rücksicht. Die Jungen kommen in einem dichten, gefleckten Dunenkleide zur Welt und verlassen das Nest da, wo sie dies können, schon in den ersten Tagen, fortan am Strande sich umhertreibend und nöthigenfalls zwischen Bodenerhebungen sich verbergend oder im Wasser Zuflucht suchend; diejenigen aber, welche auf den Gesimsen steiler Felswände erbrütet wurden, müssen hier ausdauern, bis ihnen die Schwingen gewachsen sind. Anfänglich erhalten die Jungen halbverdaute Nahrung von den Alten vorgewürgt, später werden sie mit frischgefangenen oder aufgelesenen thierischen Stoffen geatzt. Nach dem Ausfliegen verweilen sie noch einige Zeit in Gesellschaft ihrer Eltern, verlassen nunmehr aber die Brutplätze und zerstreuen sich mit jenen nach allen Seiten hin.

Im hohen Norden der Erde zählt man die Möven nicht bloß zu den schönsten, sondern auch zu den nützlichsten Vögeln und hegt und pflegt sie ebenso wie die übrigen Kinder des Meeres, welche alljährlich auf den Vogelbergen erscheinen. Möveneier bilden für einzelne Grundbesitzer Norwegens einen wesentlichen Theil des Ertrages ihres Gutes, werden von den Landeigenthümern [538] gern gegessen, weit versandt und verhältnismäßig theuer verwerthet, und Mövenfedern müssen den ärmeren Nordländern die Eiderdunen und Gänsefedern, welche die reicheren zur Füllung ihrer Betten benutzen, ersetzen. An dem Fleische alter Möven finden nur die Mongolen des Nordens Geschmack; junge hingegen werden auch von den Helgoländern, Isländern und Grönländern gern gegessen und geben, geschickt zubereitet, wirklich ein erträgliches Gericht; doch schätzt man Eier und Federn überall höher als das Wildpret. In einigen Gegenden werden alljährlich große Jagden auf Möven abgehalten, mehr aus Mordlust, als um die Vögel wirklich zu nutzen; im höheren Norden hingegen verfolgt man sie nicht. Ein weißes Taschentuch, in die Luft geworfen, genügt, um eine Möve herbeizuziehen; und hat man sie erst erlegt, so lockt man auch bald noch viele andere zu sich heran; denn jede, welche einen weißen Gegenstand aus hoher Luft herab auf das Wasser stürzen sieht, meint, daß dort guter Fang zu machen sei und kommt neidisch zur Stelle, um sich hiervon zu überzeugen. Der Fang wird auf verschiedene Weise bewerkstelligt: man legt Schlingen auf Sandbänke, ködert Netze mit Fischen, wirft bespickte Angelhaken aus und erreicht durch dieses oder jenes Mittel in der Regel seinen Zweck. Gefangene lassen sich leicht erhalten, sind aber etwas kostspielige Pfleglinge des Thierliebhabers, weil man ihnen Fische oder Fleischnahrung reichen muß, wenn man ihren Bedürfnissen genügen will. Geschieht letzteres, so finden sie sich bald in ihr Schicksal, gewöhnen sich an den Ort und den Pfleger, unterscheiden ihn sehr genau von anderen Menschen, begrüßen ihn mit fröhlichem Geschreie, wenn er sich sehen läßt, antworten auf den Anruf und können fast in demselben Grade gezähmt werden wie ein Kolkrabe oder eine Krähe, pflanzen sich auch, falls man ihnen einen größeren Raum anweist, in der Gefangenschaft fort.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 536-539.
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