Zwölfte Ordnung: Die Seeflieger[518] (Longipennes)

Entwickelung der Schwingen auf Kosten der Schwimmfüße ist das bezeichnende Merkmal der Seeflieger. Ihr Leib ist kräftig, der Hals kurz, der Kopf mittelgroß, der Schnabel mittellang, seitlich zusammengedrückt, scharfschneidig, hakig oder spitzig, dementsprechend oben mehr oder weniger gekrümmt, während er unten, vor der Spitze sich verstärkend, ein vorspringendes Eck zu bilden pflegt, der Fuß stets verhältnismäßig schwach, die Behäutung der Zehen auf die drei vorderen beschränkt, oft auch sehr verkümmert, der Fittig immer lang und spitzig, mehr oder weniger schmal, im Verhältnisse zum Körper sehr groß, der Schwanz mittellang, gerade abgestutzt, sanft gerundet, zugespitzt oder gegabelt, in der Regel aus zwölf Federn gebildet, das Gefieder sehr dicht und reich, nicht aber auch besonders reichhaltig an Dunen, seine Färbung eine vielfach übereinstimmende, nach Alter und Jahreszeit wechselnde.

Das Weltmeer bildet das Gebiet, den Wohnsitz, die Heimat der Seeflieger. Einige bewohnen allerdings nur seine Küsten, einzelne, welche süße Gewässer der Salzflut vorziehen, nicht einmal diese: sie aber können die Regel nicht umstoßen. Ueber den Wogen dahin schwebend, die Nähe des Landes meidend, durchwandern, im Gegensatze zu ihnen, andere ziellos die Meere, umfliegen sie, gleichsam ohne zu rasten, den Erdball. Für sie gibt es nur ein Band, welches sie mit dem festen Elemente zusammenhält: die Kindheit. Auf festem Grunde liegen die Eier, denen sie entschlüpften; hier verweilten sie, bis sie ihrer Schwingen mächtig wurden, und hierher kehren sie zurück, wenn sie selbst fortpflanzungsfähig geworden: die übrige Zeit ihres Lebens verbringen sie auf dem Meere, gewöhnlich fliegend, ausnahmsweise auch wohl auf den Wellen oder selbst am Strande ruhend. Sie fliegen verhältnismäßig mehr als alle übrigen Vögel, mehr als die Raubvögel, mehr als Schwalben oder Segler, mehr noch als die Schwirrvögel; denn sie fliegen so lange es Tag ist und oft noch während der Nacht. Dieser unermüdlichen Thätigkeit und Beweglichkeit entspricht der Verbreitungskreis der einzelnen Arten. Mehrere scheinen Weltbürger zu sein, da sie nicht bloß rings um den Erdball fliegen, sondern auch alle Gürtel der Erde besuchen; andere hingegen beschränken ihr Streichen, Reisen, oder wie man es sonst nennen will, doch auf ein gewisses Gebiet, auf einen mehr oder weniger scharf umgrenzten Meerestheil oder Gürtel innerhalb bestimmter Grade der Breite. Immerhin aber handelt es sich bei einem solchen Gebiete um ein ganzes Meer, nicht um einen Theil, eine Küste desselben.

Jeder Seeflieger ist befähigt, dem Meere zu trotzen: kein einziger aber freut sich, wie die Sage meint, des Sturmes oder Unwetters. Selbst ihm, dem Kinde des Meeres, ist die erhabene Mutter lieber, wenn sie heiter lächelt, als wenn Sturm die Wogen zu Bergen thürmt. Bei heiterem Wetter [518] hält sich die Möve fern der Küste, der Albatros fern dem Schiffe: Sturm scheucht jene dem Lande zu und treibt diesen in die Nähe des Schiffes; Sturm ist des »Sturmvogels« gefährlichster Feind. Man hat früher glauben wollen, daß die Weltmeervögel, welche fast sämmtlich der Zunft der Sturmvögel angehören, durch ihr Erscheinen am Schiffe schweres Wetter im voraus verkünden, während sie sich umgekehrt nur dann in Menge einem Fahrzeuge nähern, wenn das schwere Wetter bereits eingetreten ist und sie schon länger mit ihm gekämpft haben. Das durch Stürme aufgeregte Meer erschwert ihnen, die Nahrung, welche sie bei ruhiger See ohne Mühe auffinden, zu erspähen, und nöthigt sie, in der Nähe der Schiffe sich einzufinden, weil sie erfahrungsmäßig wissen, daß ihnen von diesen aus ab und zu etwas genießbares zugeworfen wird. Der Hunger ist es, welcher sie den Schiffen zuführt. Wenn bei heftigem Winde und hochgehender See ein Schiff beilegen muß, wird es bald von hunderten verschiedener Seeflieger umringt, während sich in derselben Breite oder Gegend kaum einer zeigt, wenn Windstille das Fahrzeug festhält. Wird zu dieser Zeit ein Köder ausgeworfen, so kann er lange oder ganz vergeblich hinter dem Steuerruder treiben, während er bei Sturm gewöhnlich schon verschlungen wird, noch ehe er das Wasser berührte. Bei Wogenglätte erbeuten alle Seeflieger mit Leichtigkeit bessere Nahrung, als vom Schiffe aus ihnen zugeworfen wird: Sturm deckt ihnen den Acker zu, welcher für sie Früchte trägt, und dann erscheint ihrem bellenden Magen selbst der ekelhafteste Unrath noch genießbar; ja, sie stürzen sich mit Heißhunger über Dinge her, welche sie sonst gänzlich verschmähen oder doch gleichgültig betrachten.

Alle Seeflieger sind Stoßtaucher, nicht alle aber im Stande, ihren reich befiederten Leib unter die Oberfläche des Wassers zu zwingen, wogegen einzelne den Schwimmtauchern kaum etwas nachgeben. Sie fliegen in einer gewissen Höhe über den Wellen dahin, bei gutem Wetter spielend leicht, bei schlechtem nach Kräften gegen den Wind ankämpfend, spähen achtsam nach unten und stürzen sich auf die erblickte Beute herab, um sie mit dem Schnabel zu ergreifen oder doch aufzunehmen. Einzelne werden gleichsam selbst zu einem Pfeile, welcher nach einem bestimmten Ziele gerichtet ist; andere lesen im Fluge von den Wellen ab, noch andere setzen sich erst schwimmend nieder, bevor sie die Speise aufnehmen. Raubvögel sind sie alle, mögen sie nun selbst für sich sorgen oder andere für sich sorgen lassen, mögen sie nur lebende Beute genießen oder, wie die Geier, mehr an Aas sich halten. Was das Meer ihnen bietet, wird von ihnen angenommen, Walfischaas wie kleine, kaum sichtbare Krebse, Fische wie Quallen, Würmer usw. Diejenigen Arten, welche sich am Süßwasser ansiedeln, lassen sich von diesem ernähren und theilen mit Schwalben und Enten die Beute; diejenigen, welche die Feigheit anderer nutzen können, schmarotzen oder spielen den Strauchritter.

Viele Seeflieger leben überaus gesellig, andere wirken und schaffen mehr für sich, vereinigen sich aber, wenigstens während der Brutzeit, oft zu Scharen, deren Anzahl jeder Schätzung spottet. Für gewöhnlich schweifen sie einzeln oder in Trupps umher, ohne sich an einem Orte länger aufzuhalten, als es ihnen an ihm wohlgeht, fischen, jagen, fressen, ruhen, schlafen und fischen und jagen wieder. Alle Küstenvögel benehmen sich dabei klug und verständig, ohne jedoch auf Nächstenliebe, Entsagung, Ehrlichkeit, Aufopferung und andere Tugenden Anspruch zu machen, betrachten andere Thiere mit schelem, den Menschen mit mißgünstigem Auge und schlagen sich schlecht und recht durchs Leben; die Weltmeervögel dagegen erscheinen uns geistlos, dummdreist und einfältig, weil sie wohl gelernt haben, Stürmen und Unwettern zu trotzen, nicht aber, mit uns umzugehen. Ob sie wirklich so dumm sind, als wir glauben, möchte sehr bezweifelt werden können.

Das Fortpflanzungsgeschäft der Seeflieger hat viel übereinstimmendes. Sie nisten auf dem Boden, bezüglich im Moore, Sumpfe, oder auf Gesimsen, Vorsprüngen, in Höhlen, Löchern usw. steil abfallender Felsen und Berge, ausnahmsweise auch auf Bäumen, regelmäßig in Gesellschaft und legen ein einziges Ei oder deren zwei bis vier, lieben sie und die Brut ungemein und vertheidigen sie muthig gegen Feinde und Gegner, freilich in sehr verschiedener Weise. Die Jungen werden erst, nachdem sie fliegen lernten, dem Meere zugeführt und beginnen nun entweder einzeln selbständig zu fischen und zu jagen oder vereinigen sich mit anderen zu unermeßlichen Scharen.

[519] Gering ist der Nutzen, unbedeutend der Schaden, welchen die Seeflieger uns bringen. Wir nehmen einzelnen von ihnen die Eier und Jungen, und sie rauben uns hier und da ein Fischchen, Küchlein und dergleichen, fangen dafür jedoch auch wieder schädliche Thiere weg. Die Weltmeervögel können uns nur nützen, nicht aber schaden; bei den übrigen überwiegt der Nutzen den Schaden ebenfalls. Für die Gefangenschaft eignen sich die Glieder zweier Familien, alle übrigen Seeflieger jedoch nicht; für unseren Haushalt also sind die Glieder dieser Ordnung ziemlich bedeutungslos.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 518-520.
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