4. Höheres Schulleben.

(1789 bis 1793.)

[34] In den beiden höhern Classen, welche sowie Tertie und Quarte gemeinschaftliche Lehrstunden hatten, begann ich fleißiger für die Schule zu werden, da theils die Gegenstände des Unterrichts interessanter waren, theils der treffliche Forbiger hier lehrte. Forbiger war ein Mann, der einen hellen Verstand und geläuterten Geschmack mit großer Gelehrsamkeit verband, ein tüchtiger Grieche, ein eleganter Lateiner, ein gründlicher Historiker und ein freisinniger Theolog. Außer den öffentlichen Lehrstunden hatte ich mit mehrern meiner Mitschüler auch Privatunterricht bei ihm, wo wir Classiker lasen, Ausarbeitungen lieferten und Disputirübungen hatten. Am wenigsten sprachen uns seine Vorträge über alte Geographie an, da er diese zu seinem besondern Studium gemacht hatte und sie deshalb mit erschöpfender, für uns nicht ganz passender Umständlichkeit vortrug – ein Fehler, den auch Universitätslehrer nicht selten begehen, indem sie nicht gehörig unterscheiden, was für diejenigen Zuhörer, die einen einzelnen Zweig der Wissenschaft ex professo studiren, sich eignet, und was zur Uebersicht des ganzen Gebietes für das gesammte Auditorium Interesse hat.

Der Rector Martini war ein gelehrter Pedant, und von seinem Unterrichte interessirte uns am meisten der über römische und griechische Alterthümer. Er war schwerhörig, und da er mancherlei pedantische Schwächen zeigte, auch im Deutschen geschmacklos, oft geradezu lächerlich sich ausdrückte, reizte er unsern Muthwillen, und hierbei glaubten wir ganz in unserm Rechte zu sein, da er durch Parteilichkeit und Ungerechtigkeit gegen einzelne Schüler, sowie durch eine gewisse Gehässigkeit[34] gegen den von uns verehrten Conrector Forbiger sich von einer schlechten Seite zeigte. Beide Classen führten mit halb lauter Stimme, welche er nicht vernahm, während seines Unterrichts gemeinschaftliche Gespräche, deren Gegenstand oftmals er selbst war, und trieben allerlei Unfug, wodurch wir seine Unbill gegen unsern Forbiger rächen zu müssen meinten. Ich will nur einen Streich, den ich ihm spielte, erwähnen, weil er mir leicht hätte schlecht bekommen können. Einer von uns, der Sohn eines Rathsherrn, hatte aus Langeweile auf einen Bogen Papier mit großen Buchstaben vive la liberté! geschrieben, und ich hatte nach dem Schlusse der Nachmittagsstunden dieses Blatt an die schwarze Tafel geheftet, um den Rector, der des Morgens vor Anfang der Lection die Classen zu besuchen pflegte, zu erschrecken. Die Fopperei gelang: Mar tini kam am folgenden Tage bleich und aufgeregt zum Morgengebete, setzte seine Frühstunden aus, und eilte zum Burgemeister, um ihm das Blatt als Ankündigung der ausbrechenden Revolution zu überbringen. Wiewohl er nun hier beruhigt wurde, so stellte er doch eine geheime Criminal-Untersuchung an, und diese hatte keine weitern Folgen, da es sich ergab, daß der Sohn eines Rathsherrn Schreiber des Aufrufs zur Freiheit war.

Der Unterricht auf der Leipziger Nicolaischule war allerdings nicht so umfassend, wie er es gegenwärtig auf unsern Gymnasien ist. Außer Geschichte, Geographie und Logik (nach Ernesti's initia doctrinae solidioris) waren die alten Sprachen Hauptgegenstand, und da man uns im Griechischen nur bis zum Lesen der Classiker führte, ohne uns zum Schreiben in dieser Sprache anzuleiten, so blieb allerdings das Latein die Hauptsache. Diese Beschränkung, die gegenwärtig als eine crasse Barbarei betrachtet wird, läßt sich einigermaaßen wohl vertheidigen. Es ist für die Bildung gewiß von Wichtigkeit, wenigstens eine Sprache gründlich zu erlernen, und zwar vorzüglich eine solche, die den Gipfel ihrer Ausbildung schon erreicht und eine feste, unwandelbare Gestalt gewonnen hat: im Organismus der Sprache spiegeln sich die Gesetze des Denkens und mit der Grammatik lernt man die Logik. Den Geist des[35] Alterthums faßt man nur, wenn man die Werke desselben in der Ursprache lieset. Das Lateinische aber steht uns näher als das Griechische: es war die gemeinsame Sprache der Gelehrten aller Nationen bis in das achtzehnte Jahrhundert herein, und welche Wissenschaft ist es wohl, deren Studium nicht auf diese frühern Jahrhunderte zurückführte? So wird auch die Erlernung der neuern romanischen Sprachen durch Kenntniß der lateinischen erleichtert u.s.w.

Daß man auf meiner Schule nur in den untern Classen Rechnen lehrte und gar kein öffentlicher Unterricht in der Mathematik ertheilt wurde, war freilich zu tadeln, und doch kein großer Schaden. Die, welche Neigung zu diesem Studium hatten, nahmen Privatstunden bei dem Cantor Behringer, und wie das Talent auch bei einer mittelmäßigen Anleitung sich seine Bahn bricht, so machte bei diesem Unterrichte einer meiner Mitschüler, Namens Burkhard, solche Fortschritte in der Mathematik, daß er eine ehrenvolle Anstellung an der Pariser Sternwarte unter Lalande erhielt. Ich fühlte mich nicht zur Mathematik berufen, und bei einen Versuche, mich durch einen Freund darin unterrichten zu lassen, überzeugte ich mich, daß es mir an allem Talente dazu fehle. Man weiß sich in solchen Fällen zu trösten, und auch mir fehlte der Trost nicht: ich habe nämlich ganz fähige, ja ausgezeichnete Köpfe kennen gelernt, die gleich mir in dieser Hinsicht von der Natur verwahrloset waren, und dagegen gute Mathematiker gefunden, die eine sehr beschränkte Urtheilskraft besaßen. Die Natur pflegt die Anlagen, die sie vertheilt, bis auf die speciellsten Richtungen zu vereinzeln, und es giebt eben so wenig eine allein den Geist bildende Wissenschaft als eine allein seligmachende Kirche.

Wir erhielten auch keinen Unterricht in der deutschen Sprache, sondern mußten die Gesetze derselben beim Lesen vaterländischer Schriftsteller entdecken, und wer Neigung dazu hatte, studirte nebenbei die deutsche Grammatik; solch freiwilliges Studium ist aber nicht selten erfolgreicher als ein genöthigtes.

Naturwissenschaften wurden ebenfalls nicht gelehrt, und in der That läßt sich auch Einiges dafür sagen, daß derjenige,[36] welcher späterhin die Universität bezieht, sie erst hier zum Gegenstande eines ernstern Studiums macht, nachdem er sie im Umrisse schon beim Elementarunterrichte kennen gelernt hat. Werden sie nämlich recht bearbeitet, so geben sie mit einer Uebersicht der Einzelheiten auch Einsicht in den Zusammenhang des Ganzen: einerseits führen sie dann alle Mannichfaltigkeit auf ein höchstes Princip zurück, bringen also dieselbe Gesetzmäßigkeit, die in den äußern Erscheinungen sich kund giebt, auch in der Innenwelt des Menschen zur Anschauung; andrerseits fassen sie die Verschiedenheit alles Gegebenen nach ihren wesentlichen Momenten scharf auf, und leiten sie aus der Einheit des obersten Princips ab. Eine solche ganz eigentlich wissenschaftliche oder philosophische Bearbeitung der gesammten Naturkunde unterscheidet sich sehr von den Constructionen, welche man uns unter dem Namen von Systemen der Naturphilosophie gegeben hat, und ist allerdings noch nicht gewonnen; aber hin und wieder zeigt sich ein Ringen darnach, und indem wir immer vorwärts blicken müssen, dürfen wir auch erwarten, daß künftig der Vortrag eines solchen Stammes allen Wissens möglich sein wird. Hier wird eine umfassende Ansicht der Natur als Physikotheologie, nicht in der bisherigen kleinlichen, auf Beweisführung für kirchliche Dogmen ausgehenden, sondern in freier, vernunftgemäßer Gestalt auftreten, und durch Darlegung der Allgewalt des Geistigen einen unwandelbar festen Standpunkt in der Welt nachweisen, so daß die auf oberflächlicher Kenntniß beruhende Negation in ihrer Blöße erscheint und das Gemüth vor dem nagenden Gifte der Irreligiosität geschirmt wird. Und so wird insbesondere der Theolog durch die Uebereinstimmung der Naturwahrheiten mit der reinen Lehre Christi eine festere Basis für sein Lehramt gewinnen. Die Psychologie ist selbst nur ein integrirender Theil der Naturwissenschaft, und Moral, Aesthetik, Pädagogik und Politik finden in derselben ihre Grundlage; daß die Geographie vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus zu bearbeiten ist, wird anerkannt; eben so aber muß auch Geschichte, Gesetzgebung, Sprachforschung etc. von da ausgehen. Daß der Gymnasiast zu Auffassung dieser[37] Beziehungen noch nicht reif ist, daß ihn sein Alter nicht befähigt, die Erscheinungen der Natur in ihrem Zusammenhange mit dem großen Ganzen ernst anzuschauen, leidet keinen Zweifel. Wohl mag er hierzu vorbereitet werden durch die speciellen, hauptsächlich das Gedächtniß beschäftigenden Vorträge der Botanik, Zoologie, Physik etc. Dies hat aber leicht den Nachtheil, daß er darüber das Interesse verliert, diese Disciplinen auf der Universität noch zum Gegenstande eines umfassendern Studiums zu machen, und daß er, schon im Besitze alles Wissens sich wähnend, gegen eine wissenschaftliche Erkenntniß der Natur gleichgültig ist. Hierzu kommt, daß die meisten Gymnasiallehrer die Naturwissenschaft nur zu einen Nebenstudium gemacht haben: solche Männer sind aber auch geneigt, nichts von ihrem Wissen zurück zu behalten, und indem sie somit Alles, was sie gelernt haben, zu Markte bringen, ermüden sie die Schüler mit einem unfruchtbaren Detail. Nur wer einer Wissenschaft sich ganz gewidmet und durch philosophische Auffassung sich seines Gegenstandes ganz bemächtigt hat, vermag eine gedrängte, allgemein verständliche und anziehende Darstellung der Resultate des Forschens zu geben, und wenn die Universität einen solchen Lehrer für die Naturwissenschaft besitzt, so werden dessen Vorlesungen auch eben so allgemein zu besuchen sein, wie jetzt die über Logik und Metaphysik, wobei der letztern nur noch eine historisch-kritische Stellung bleiben würde. – Dagegen ist es ganz zweckmäßig, daß die Bürgerschulen, die nicht zu höhern Bildungsanstalten vorbereiten, ihren Zöglingen die nöthigen Kenntnisse der Natur beibringen.

Auch neuere Sprachen wurden auf meiner Schule nicht gelehrt, und ich bekam im Französischen, Italienischen und Englischen Privatunterricht, da meine gute Mutter allen zu meiner Erziehung nöthigen Aufwand zu bestreiten wußte.

An dem dürftigen Unterrichte im Singen nahmen die obern Classen keinen Theil, und ich hatte, als ich in diese aufgerückt war, auch en Privatunterricht im Claviere schon abgethan, da ich wenig Talent dafür bewiesen und die Lust dazu bald verloren hatte, woran der Lehrer wohl auch einige Schuld haben mochte.[38]

Der öffentliche Unterricht hatte also damals bedeutende Lücken. Vergleiche ich aber die Studirenden meiner Zeit mit denen der Gegenwart, so kann ich Letztern in Hinsicht auf allgemeine Bildung und wissenschaftlichen Sinn keineswegs einen Vorrang zugestehen; die Früchte des vervollkommneten Gymnasial-Unterrichts und der strengen Abiturienten-Prüfungen habe ich daher nicht zu erkennen vermocht. Auch spricht für die Leistungen meiner Schule die Zahl wissenschaftlicher Männer, die aus ihr hervorgingen. So waren unter meinen 30 Mitschülern in den zwei obern Classen mehrere, die als Schriftsteller und akademische Lehrer einen Namen erlangt haben: Heinroth als Professor der psychischen Medicin in Leipzig; Schwägrichen als Professor der Naturgeschichte, und Kuhl als Professor der Chirurgie daselbst; Weber als Professor der Cameralwissenschaften zu Breslau, und Hayner als Arzt an den Irrenanstalten in Waldheim und Kolditz. Ob vielleicht eben der Umstand, daß die Schule nicht den ganzen Menschen ihrem Zwange unterwarf, sondern dem eigenen Willen mehr Raum gab, zu Beförderung des Privatstudiums beigetragen hat?

Mein Onkel, der 1791 seiner Candidatenprüfung wegen nach Dresden ging, daselbst Vorlesungen über Literargeschichte, akademische Propädeutik u.s.w. hielt, 1792 den damaligen Präsidenten des Ober-Consistoriums, nachmaligen Minister von Burgsdorf (dessen Sohn er für die Universität vorbereitete) auf seinen Reisen zur Revision der beiden sächsischen Universitäten begleitete, 1793 mit der Familie von Lieven, welcher er ebenfalls Lehrer und Hausfreund war, die böhmischen Bäder besuchte, und dann Archidiakonus in Mittweide wurde, nahm an meiner Erziehung fortwährend warmen Antheil. Er unterhielt einen lebhaften Briefwechsel mit mir, ertheilte mir Rath für den Gang meiner Studien, leitete meine wissenschaftliche Lectüre und ließ sich meine Privatarbeiten schicken; auch gab er mir ein Taschengeld. Außer der persönlichen Zuneigung zu mir bestimmte ihn die Dankbarkeit gegen meine Mutter, deren Geist und Charakter er hoch achtete, und deren schwesterlicher Liebe er während seiner Schul- und Universitätsjahre viel schuldig[39] zu sein bekannte. Jetzt nach seinem Tode erkenne ich gegen seine Hinterlassenen freudig an, wie sehr ich ihm verpflichtet bin: so pflanzt sich Liebe und Dankbarkeit in lebendiger Wechselwirkung fort, und macht uns glücklich im Empfangen und Geben.

Manchen Dogmen der Kirche hatte mein Verstand von Anfang an widerstanden, und der Confirmanden-Unterricht, den ich im Jahre 1791 erhielt, war auch nicht geeignet, den Ketzergeist in mir zu überwinden. Ich hatte ein Vorbild echter Religiosität in meiner trefflichen Mutter vor mir, und war religiös gesinnt, wenn auch der öffentliche Gottesdienst mich wenig ansprach, indem er mich zu kalt ließ. Dagegen befriedigten mich Forbigers Vorträge über die vornehmsten Beweise der Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion, die er aus dem Inhalte derselben schöpfte. Er erklärte, wie das mir vorliegende Heft vergegenwärtigt, daß viele Dogmen der Kirche spätere Zusätze sind, die dem Geiste der christlichen Religion zuwiderlaufen, so wie daß selbst in den Lehren Jesu und der Apostel Stellen vorkommen, welche mit den Principien der Vernunft und sogar mit dem Neuen Testamente im Widerspruche stehen, und nur auf Accommodation nach den damals unter den Juden herrschenden Vorstellungen beruhen. Die Dreieinigkeit, der Teufel, die Erbsünde und der Versöhnungstod gehörte nach Forbigers Lehre zu den vom wirklichen Christenthume zu unterscheidenden Dogmen.

Die französische Revolution ließ mich nicht unberührt; seit ihrem Beginnen hatte ich mich lebhaft für sie interessirt, indem auch Deutschlands Freiheitsdichter einen tiefen Eindruck auf mich machten: ich konnte Schuberts Fürstengruft und die prägnantesten Fabeln Pfeffels auswendig; vor Allem aber war Schiller mit seinem hohen Sinne für die Menschheit, für Gerechtigkeit und Freiheit, der Gegenstand meiner enthusiastischen Verehrung, wie ich denn auch immer in seinen Werken Erhebung gefunden habe, während Goethe's Poesie mich ergötzt und meinen Verstand beschäftigt hat. Eine nähere Bekanntschaft mit der französischen Revolution erhielt ich durch[40] einen gewissen Polyzc aus Thessalien, der eine Zeit lang bei meiner Mutter speiste. Er hatte sich von Jena, wo er wegen eines an dem Amicisten-Orden begangenen Verraths gemishandelt worden und selbst in Lebensgefahr gewesen war, nach Leipzig geflüchtet, wo er vorzüglich mit revolutionären Plänen umging und Medicin nur darum studirte, um einst als Arzt von Constantinopel aus für die Befreiung seines Vaterlandes wirken zu können. Feurig, für politische Freiheit glühend, in hohem Grade beredt, wirkte er sehr stark auf mich, ohne mich zum Jakobinismus hinreißen zu können; vielmehr behauptete ich eine gewisse Selbstständigkeit und Mäßigung des Urtheils. So erinnere ich mich, im Herbste 1792 in einer Ferienarbeit bei Vergleichung der französischen Revolution mit der Einführung der Republik in Rom die Franzosen einer feigen Rachgier beschuldigt zu haben, da sie meiner Meinung nach gleich den Römern die königliche Familie nur hätten vertreiben und die modernen Porsennas muthig erwarten sollen. Als ich in der Niederlausitz preußische Truppen gegen Frankreich ziehen sah, hatte ich in Widerspruche zu meiner Umgebung die feste Zuversicht, daß sie gegen die Freiheitshelden nichts ausrichten würden. Wahrend aber die Anerkennung der Menschenrechte, die Bekämpfung der Tyrannei und die Abschaffung schreiender Ungerechtigkeiten mich begeisterte, war der Republikanismus bei mir nur sehr oberflächlich. Dies erfuhr ich z.B., als ich den Kurfürsten von Sachsen bei seiner Anwesenheit in Leipzig bei mir vorüber nach der Kapelle im Schlosse gehen sah und ihm mit dem Volke wie begeistert zujauchzte, ohne zu wissen, warum; wie dunkel immer die Vorstellungen sein mögen, die Heiligkeit der gesetzlichen Ordnung tritt lebendig vor unsere Seele, wenn wir das Oberhaupt des Staats erblicken; in ihm erscheint uns das Vaterland in persönlicher Gestalt, und indem die Gefühle, die wir diesem widmen, hier einen sinnlichen Haltpunct finden, durch den sie sich concentriren, flammen sie zu einer Art Begeisterung auf, von welcher die Fürsten doch ja nicht glauben sollten, daß sie ihrer Persönlichkeit gelte.

Zu Michaelis 1792 reiste ich zur Schwester meines Vaters,[41] welche an den Amtsverwalter Hänsel zu Golzen in der Niederlausitz verheirathet war. Daß ich hier zu Personen kommen sollte, die mir persönlich noch ganz unbekannt waren, daß ich mit der Post bis Luckau reiste, daselbst den gehofften Wagen nicht antraf, durch einen expressen Boten meine Ankunft melden, unterdeß in einem Gasthofe mich einlogiren mußte und dabei kleine Abenteuer hatte, war mir sehr interessant, indem es mir die erlangte Selbstständigkeit anschaulich machte. Meine alte Tante, von beinahe zwerghafter Kleinheit, war sehr freundlich gegen mich, ich aber konnte kein Herz zu ihr fassen, und wenn sie in den Erzählungen von den Verhältnissen unserer ausgebreiteten Familie unerschöpflich war, so bestand Alles, was ich dabei thun konnte, in geduldigem Ausharren mit der Zuversicht, daß ich kein genealogisches Examen zu bestehen haben würde; wiewohl sehr karg, beschenkte sie mich doch, als ich nach einigen Wochen wieder abreiste, was sie meiner Meinung nach um so eher thun konnte, da ich wußte, daß sie meinen Vater bei der elterlichen Erbschaft übervortheilt hatte. Der Amtsverwalter, ein tüchtiger und wohlhabender Landwirth, war ein lebenslustiger Mann, an den ich mich mehr anschloß, indem ich mit ihm die Felder beging und Besuche im Städtchen machte. Uebrigens behagte mir seine Wohnung in dem gräflichen Schlosse, worin mir ein ansehnliches Zimmer eingeräumt war, von wo aus ich in einer Reihe ähnlicher Zimmer mich ergehen konnte; während der ersten Tage nach meiner Rückkehr fühlte ich mich sogar in meinem und meiner Mutter bescheidenen Stübchen sehr beklommen, weßhalb ich mir Vorwürfe machen mußte, indem ich wohl einsah, wie schwach es von mir war, durch eine stattliche Umgebung schon binnen wenigen Wochen verwöhnt worden zu sein.

Noch erwähne ich, daß ich in dieser Periode von Zerbst aus den Auftrag erhielt, einer Schwester der nachmals berühmten Gebrüder Schlegel bei ihren kurzen Aufenthalte in Leipzig als Attaché zu dienen. Ich kam dadurch auch in Berührung mit Friedrich Schlegel, der mir doch damals schon bedeutsam genug erschienen sein muß, da sein Bild als das[42] eines zarten, schwärmerischen, in sich versunkenen Jünglings mir noch lebhaft vorschwebt. Ich erneuerte 1810 seine Bekanntschaft in Wien, wo sein fettes, glänzendes Gesicht mit der pfäffischen Salbung, von welcher er zu triefen schien, mir so unheimlich vorkam, daß ich es beim ersten Besuche bewenden ließ.

Zu Michaelis 1793 verließ ich die Schule mit einer Abschiedsrede über das Thema: ἰατρὸς γὰρ ἀνὴρ πολλῶν ἀντάξιος ἄλλων, denn Medicin studiren zu wollen, stand schon seit längerer Zeit bei mir fest, ungeachtet mein Gönner, Dr. Börner, mich davon abmahnte. Ob ihn hierzu die Meinung bestimmte, daß ich wegen Mangels eines imponirenden Aeußern und eines Zuversichtlichkeit verkündigenden Benehmens als Arzt kein Glück machen könnte, und ob andrerseits der Wunsch meiner Mutter, mich in die Fußstapfen des Vaters treten zu sehen, auf meinen Entschluß den meisten Einfluß hatte, kann ich nicht bestimmen. Das aber weiß ich gewiß, daß der Gedanke der wohlthätigen Wirksamkeit des Arztes den vorzüglichsten Antheil an der Wahl meines Berufs hatte, sowie meine Mutter gewiß auch nur darum wünschte, daß ich dem Beispiele meines Vaters folgte, weil ihr an ihm die sittliche Bedeutung des ärztlichen Standes recht klar geworden war. Für das Wohl Anderer wirken zu wollen, mußte ja nothwendig in meiner Sinnesweise liegen, da der Keim menschenfreundlicher Gesinnung von den Eltern her mir angeerbt, durch die liebevolle Behandlung, die ich fortwährend genossen, entwickelt und durch das von Dichtern angeregte ideale Streben genährt worden war; die Unmittelbarkeit der Hülfe, welche der Arzt gewährt, mußte mich aber bei meinem Verhältnisse und beschränkten Gesichtskreise am meisten ansprechen. Ich habe hiermit die Grundzüge meines Charakters angedeutet: eine überwiegende Regsamkeit des Gefühls in idealer Richtung, ein lebendiger Sinn für Sittlichkeit in ihren großartigen Erscheinungen, eine zuweilen an das Phantastische gränzende Neigung zu Aufopferungen für das Gemeinwohl, aber mit beschränkter Kraft und großer Empfänglichkeit für angenehme Aeußerlichkeiten.

Daß ich schon in früher Zeit die Absicht hatte, mich zum[43] akademischen Gelehrten auszubilden, entnehme ich aus einem Briefe meines Onkels von 1793, worin er mir schrieb: »möchte es Dir, mein Fritz! vorbehalten sein, in der Wissenschaft, der Du Dich widmen wirst, eine der Fackeln vorzutragen, die die Mitwelt und Nachwelt erleuchten sollen!« So dachte er denn an die Möglichkeit, daß ich einst Großes leisten könnte: hatte er ja doch für eine solche Möglichkeit gethan, was er konnte, und bei seiner Liebe zu mir war er um so geneigter, sie sich zu denken.

Mit tiefer Bewegung habe ich die Liebe, die meine Jugend beglückte und meine Erziehung leitete, jetzt in frisches Andenken zurückgerufen und einige Züge davon in Vorstehendem erzählt. Diese Erinnerung ist nicht ohne Schmerz, denn ich sehe ein, daß ich unter dieser Leitung gründlichere und ausgebreitetere Kenntnisse hätte erlangen müssen, wenn ich mich mehr angestrengt hätte. Ich gehörte nicht zu den Trägen und in der Bildung Zurückbleibenden, wurde aber von einigen meiner Mitschüler an Fleiß und Fortschritten übertroffen, indem ich mannichfaltigen Zerstreuungen zu viel einräumte. So schrieb ich z.B. eine Zeit lang eine humoristisch sein sollende Schulzeitung unter dem Titel: der von St. Nicolao ausgesandte Mercurius die satyrische Aufsätze, Berichte über Ereignisse in den verschiedenen Classen, Ankündigungen der Kuchenfrau und ähnliche Schnurren enthielt; sie circulirte während der Lehrstunden des Rectors, fand natürlich Beifall, raubte mir jedoch mehr Zeit, als der Scherz werth war, da ich jeden Montag einen halben Bogen lieferte. Unter strengerer Aufsicht würde ich allerdings mehr Fortschritte im Wissen gemacht, an längere Ausdauer im Studiren mich gewöhnt und größere Gründlichkeit mir angeeignet haben. Ob ich indeß an geistiger Kraft wirklich gewonnen und nicht an Lebensfrische und Lebensmuth eingebüßt hätte, bleibt immer die Frage, und so beschwichtige ich denn die Vorwürfe, die ich mir wegen meiner Versäumung mache, mit dem Gedanken, daß auch diese bei meiner Individualität nicht hat ausbleiben können und dürfen.

Eine Bestätigung der Meinung, daß ich das geworden bin, was ich meinen natürlichen Anlagen nach gerade werden[44] konnte, finde ich in dem Zustande meiner gesellschaftlichen Bildung. Ich hatte in meiner Jugend so viel Freiheit genossen, war mit so vielen Menschen beiderlei Geschlechts aus verschiedenen Ständen und Lebensverhältnissen in Berührung gekommen und überall aufmunternd behandelt worden; gleichwohl hatte ich mir nicht die nöthige Zuversichtlichkeit und Dreistigkeit erworben, um mich in der Gesellschaft geltend machen zu können. In jedem Kreise, wo ich Ueberlegenheit an Geist oder Gelehrsamkeit, an gesellschaftlichem Talente oder äußerlicher Begabung wahrnahm, hatte ich zu wenig Selbstvertrauen, um mich frei darin bewegen zu können: der Eindruck eines solchen Uebergewichtes war zu lebhaft und lähmte meine Einbildungskraft so, daß mir nichts einfiel, was ich werth gefunden hätte, auszusprechen und mir auch zu den Plaudereien, welche in gemischten Gesellschaften gemeiniglich die Unterhaltung ausmachen, die Zunge versagte. Ich erinnere mich, daß ich noch als Student in den Tanzgesellschaften, an welchen ich einen Winter über im Hause eines angesehenen Kaufmanns Theil nahm, eine schlechte Rolle zu spielen pflegte. Einigen Antheil daran hatte allerdings die geringe Spannung meiner Geisteskräfte, wegen deren mir nicht Alles augenblicklich zu Gebote stand, wo ich es brauchte; wie ich denn bemerkte, daß ich zuweilen bei einem angehenden Katarrh durch den stärkeren Andrang des Blutes nach dem Kopfe ein ungleich lebhafterer Gesellschafter wurde, als ich gewöhnlich war. Neben dem deutlicheren Bewußtsein meiner Schwächen wirkte auch meine Abneigung gegen allen Zwang, welche auch da hervortrat, wo ich glaubte, um des Scheines willen zu Führung eines mich nicht interessirenden Gespräches genöthigt zu sein. Ich hielt es für unwürdig, nach dem Scheine zu streben und glänzen zu wollen, während zu gleicher Zeit mir das Geschick dazu fehlte und so mußte ich denn wohl hin und wieder einfältiger erscheinen, als ich wirklich war.

Uebrigens hatte ich eine solche Sensitivennatur, daß die bloße Vorstellung, man könne mir eine Schlechtigkeit zutrauen, mich mit Schamröthe übergoß; ich erinnere mich z.B., daß, als ein Mann mir einst zu verstehen gab, er nehme meine[45] blasse Gesichtsfarbe für ein Zeichen heimlicher Sünde, ich über und über roth wurde und keinen Versuch machte, den schimpflichen Verdacht von mir abzuwälzen.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 34-46.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon