2. Wissenschaftliche Thätigkeit.

[328] Ich setzte in diesem Zeitraume die Berichte über die anatomische Anstalt unausgesetzt fort.

Mir ist es schon vorgekommen, daß Reisende auf die Sottisen stolz waren, die ihnen Göthe in ihr Stammbuch geschrieben hatte. Nach diesem Beispiele habe ich mich auch eines von dem Dichterkönige mir bezeigten ernsten Mißfallens bisweilen gegen einen Verehrer desselben gerühmt und ich will es auch hier nicht verschweigen. Ich hatte ihm nämlich mein Programm über die Aufgabe der Morphologie, wo in der Vorrede seine Beiträge zur Morphologie erwähnt waren, geschickt und folgende Antwort vom 25. Januar 1818 erhalten:

»Ew. Wohlgeboren gehaltvolle Sendung kommt mir gerade in dem Augenblicke zu gute, als ich mich eben bereite, ältere Arbeiten zusammenzustellen und bei mir jede Betrachtung im Einzelnen wieder anzuknüpfen, die ich im Aligemeinen niemals unterbrochen habe. – Ich schätze mich glücklich, zu erleben, daß eine so bedeutende Anstalt wie die Ihrige auf Grundsätzen aufgebaut wird, die ich immer für die rechten gehalten habe, und nun fühle ich mich versichert, daß eine glückliche Methode die Erfahrung erweitern und zugleich erleichtern kann, welches Beides zu verbinden bisher unmöglich schien. – Die großen Vortheile der vergleichenden Anatomie, für deren Grund und Resultat wir die Morphologie wohl ansprechen dürfen, sehe ich täglich vor mir, indem unter Direction des Herrn Professors Renner eine Veterinärschule gedeiht, die in fünf Vierteljahren, vom ersten Augenblicke bis jetzt, mannichfache Erfahrung über die Thierkunde verbreitet, von den nothwendigsten und nützlichsten Geschöpfen ausgeht und, um zum vollständigen Begriffe derselben zu gelangen, über alles Lebendige sich ausbreiten muß. Nach den geförderten Präparaten, die sich schon gesammelt haben, gab es auch Gelegenheit, dergleichen von weiter verwandten Geschöpfen auszuarbeiten und es wird immer augenfälliger, daß eines auf das andere hindeutet, daß, wenn[328] wir den Hauptgedanken festhalten, selbst die größte Mannichfaltigkeit uns nicht mehr irre machen kann. – Ew. Wohlgeboren sehen hieraus, mit welchem Eifer ich Ihr Programm lesen und wieder lesen mußte, da ich es durchaus mit meiner Sinnesweise übereinstimmend fand. Sie haben sich ganz im Allgemeinen gehalten, ich glaube aber, Ihrem Vortrage einen Theil des Besonderen unterlegen zu können, dessen Fülle Sie nach und nach reichlich entwickeln werden. Zwar ist nicht zu läugnen, daß die Ausbildung der Morphologie, wenn man von der menschlichen Anatomie ausgeht, schon schwieriger wird. Man hat immer nur mit Abweichung der Gestalt zu thun, aber nicht mit Gegensätzen (Weib und Mann allenfalls). Der Menschenzergliederer scheint irre zu werden, wenn er auf die Thiere hinblickt, der Zootom hingegen sieht in der menschlichen Gestalt das vereinigte Ziel aller seiner Wünsche. Da er nun sogar aus Beruf mehrere von einander unterschiedene, ja einander entgegengesetzte Geschöpfe, wie Pferd, Stier, Schaf, Hund behandeln und erforschen muß; so ist er immerfort zu bedeutenden Vergleichungen genöthigt, die ihn früher dem allgemeinen Begriffe entgegenführen. Und so glaube ich denn auch aus Ihrem Programme gesehen zu haben, wie Sie mit Klugheit zu Werke gehen, um aus der höchst geheimnißvollen Beschränkung menschlicher gesunden, ja kranken Bildung in die leichter faßlichen thierischen hinüberdeuten, um nach der Stellung, die ihnen akademisch angewiesen ist, auch an das von vielen Seiten zugängliche Ziel gelangen zu können. Wenn ich hier nichts weiter sage, als was Sie schon denken mußten, ehe Sie Ihr Programm schrieben, so sehen Sie doch daraus den Antheil, den ich an allem zu nehmen genöthigt bin, was Ihre neue und große Anstalt der Wissenschaft gewiß bedeutende Vortheile bringen muß. Haben Sie die Güte, mir von Zeit zu Zeit von Ihren Fortschritten Nachricht zu thun, und schreiben Sichs zu, wenn ich in meinen öffentlichen Mittheilungen vielleicht schneller verfahre, ats ich ohne Ihre Anregung würde gethan haben.«

Ich hatte diesen Brief, ohne darauf stolz zu sein, mit derjenigen[329] Achtung aufgenommen, welche einem solchen Genius gebührt und ihm nun auch meine Berichte geschickt. Im vierten dieser Berichte1 suchte ich nun den Faseleien über Wirbeltheorien dadurch zu begegnen, daß ich den Begriff eines Wirbels aufstellte als eines Knochens, der nach der einen Seite hin das Centralorgan des Nervensystems einschließt; ich konnte hiernach nur drei Schädelwirbel anerkennen und stellte übrigens nicht uninteressant scheinende Untersuchungen über die Halsrippen an. Göthe, dessen Annahme von Antlitzwirbeln dadurch angegriffen wurde, schrieb mir darauf unterm 21. Juli 1821 folgenden Brief:

»Ew. Wohlgeboren diesmalige Sendung hat mich, wenn ich es gestehen darf, wirklich betrübt, indem ich aus Ihrem Hefte ersehe, daß Sie das, was ich zur Morphologie zweites Heft S. 251, 1820 über diesen Gegenstand geäußert, entweder nicht gekannt oder nicht geachtet haben, welches ich mir denn freilich muß gefallen lassen. – Sie sagen S. 45: vor dem Keilbeine giebt es keinen Wirbel mehr, und sprechen hierdurch den Irrthum aus, an welchem die Wissenschaft schon seit zwölf Jahren leidet. Vor dem vorderen Keilbeine, behaupte ich, liegen noch drei Wirbel, die sich auch wohl nach und nach dem Auge und Geist der Naturforscher entfalten werden. Unsere tüchtige Urmutter konnte ihr herrlichstes Werk nicht mit dem Gehäuse, Gewölbe, dem Wohnsitze der Intelligenz, stumpf abschließen; sobald dies nach Innen geschehen war, mußte sie Verhältnisse, Bezüge, Verbindung nach außen erschaffen und da brauchte sie keinen geringen Apparat; diesen legte sie, dem Einsehen, dem Wollen als dienende Glieder vor und bedurfte hierzu abermals einige Lebenskeimpuncte. Betrachten Sie, was Sie S. 48 dem dritten Wirbel aufbürden und überzeugen Sie sich, daß die Natur nicht so verfährt. – Ich weiß recht gut, woher das Unheil kommt. 1807 sprang dieses so edle Geheimniß unvollständig[330] ans Licht, man suchte die empfundenen aber nicht eingesehenen Mängel mit falschen Beziehungen zu decken und so pflanzte sich von den Aelteren auf die Jüngeren eine unrichtige Behandlung fort, an welcher auch Sie leiden. Alle die Jahre her hoffte ich, es werde ein lebhafter Geist sich aus diesen Fesseln befreien, allein vergebens. Spix bearbeitete seine Tafeln in eben dem bornirten Sinne; wer fühlt sich nicht verworren, indem er sie studirt; früher oder später wird man ihre Unbrauchbarkeit einsehen; ich verlange es nicht zu erleben, aber den Nachkommen will ich wenigstens auf die Spur helfen. – So viel für diesmal; Verzeihung dem unfreundlichen Lakonismus, denn eben im Begriffe, in die böhmischen Bäder zu gehen, war ich zweifelhaft, ob ich schreiben sollte oder nicht. Zu Letzterem hätte ich mich beinahe entschieden, da ich mir seit mehreren Jahren zum Gesetze gemacht, kein unangenehmes Wort in die Ferne zu senden. Weil ich aber in meinem nächsten morphologischen Hefte mich über diese Angelegenheit auszusprechen gedenke, so hätte es unfreundlicher, ja tückisch ausgesehen, wenn Sie erst öffentlich meine Mißbilligung erfahren hätten. – Möge Ihnen Alles zum Besten gedeihen, und damit das Glück Ihre Bemühungen bis in die späten Jahre begünstigen könne, suchen Sie sich von Zeit zu Zeit von Irrthümern los zu machen, den gefährlichsten Feinden unseres Lebensganges, verschließen das Auge nicht vor Lichtblicken, die gelegentlich auf unsere düsteren Wege fallen. Der beste Kopf ist, auch mit dem besten Willen, in großer Beschränktheit befangen, und wer hat nicht mehr als einmal im Leben sich selbst die angebotene Aufklärung verkümmert? Mit den besten Wünschen und treuesten Gesinnungen


Weimar, den 21. Juli 1821.

Göthe.


Nachschrift.


Soeben als ich schließe, besucht mich Herr Hofrath Carus von Dresden; derselbe, ein trefflicher Beobachter, geübter Zeichner, stimmt wegen der sechs Hauptwirbel vollkommen mit mir[331] überein, beruhigt und erfreut mich. Möge ich bald ein Gleiches von Ihnen erfahren.

G.«


Ich habe ein großes Unrecht dadurch begangen, daß ich ihm darauf nicht antwortete: Recht geben konnte ich ihm freilich nicht, aber ich hätte ihn begütigen sollen, und wenn mich die Erwähnung von »bornirtem Sinne« etwas verschnupfte, so erwies ich mich selbst bornirt. Es geschah mir daher ganz Recht, als fünf Jahre später Göthe in Weimar für mich nicht zu sprechen war.

Um mir einen Begriff vom Elektromagnetismus zu schaffen, unternahm ich eine Reihe von Versuchen über die Erscheinungen desselben unter den möglichen Verschiedenheiten der räumlichen Verhältnisse und theilte die Resultate im fünften Berichte mit2; indeß haben die Physiker meine einfachen Versuche sammt den daraus abgeleiteten Ansichten nicht der Beachtung werth gefunden. In diesem Berichte nahm ich Gelegenheit, meine Empfindlichkeit darüber auszusprechen, daß Professor Kühn in einem seiner Programme die Bildung des Wortes: Morphologie unter den Beispielen einer inepta cognitionis graeci sermonis simulatio angeführt hatte. Ich hatte im Jahre 1800 in meiner Propädeutik dieses Wort zuerst gebraucht, es dann in meinen »Beiträgen zur näheren Kenntniß des Gehirns« (Bd. I. S. XII-XIV) so wie in meinen »anatomischen Untersuchungen« (S. 2 fg.) gerechtfertigt; es gehörte also mir und ich war um so mehr aufgefordert, seine Sprachrichtigkeit zu vertheidigen, da es mich allerdings freute, dasselbe von mehreren Männern, welche die Form des organischen Körpers wissenschaftlich behandeln wollten, angenommen zu sehen.

Im sechsten und siebenten Berichte3 gab ich eine Uebersicht[332] der bisher beobachteten doppelleibigen Misgeburten und bemühte mich, die Grundformen derselben aufzufassen und auf allgemeine Grundsätze der organischen Gestaltungslehre zurückzuführen. Indem ich mich darüber erklärte, warum ich auf die bei Thieren vorgekommenen Misbildungen dieser Art nicht Rücksicht genommen hatte, machte ich meinem Herzen auch Luft über die modische Pedanterie, welche verlangt, daß man niemals vom Menschen spreche, ohne zugleich die ganze Thierreihe vor Augen zu haben, wobei ich eine von Carus gegebene Recension meines Werkes vom Gehirne vor Augen hatte.

Die Ausarbeitung des eben genannten Werkes beendigte ich im J. 18244. Ueber den Bau des Gehirns im Allgemeinen habe ich neue und, wie ich noch jetzt glaube, richtige Ansichten aufgestellt, namentlich durch Unterscheidung des Stammund des Belegungssystems. Was die Einzelheiten anlangt, so habe ich es nicht an Fleiß fehlen lassen; ich bemühte mich, das Stammsystem als eine Entwickelung des Rückenmarkes zu begreifen, also zuvörderst die Stränge des verlängerten Markes aufzufassen und die Faserung derselben in das Gehirn zu verfolgen. Ich arbeitete bei der Zergliederung meist mit bewaffnetem Auge, so daß ich mir dadurch eine frühere Abnahme meiner Sehkraft zuzog; ein fortschreitendes Durchschneiden in dünne Scheiben, um die Verhältnisse von grauer und weißer Substanz zu verfolgen, nahm ich nebenbei zu Hülfe, wovon 147 zwar rohe, aber wahre Zeichnungen, die ich der Bibliothek der anatomischen Anstalt übergeben habe, Zeugniß ablegen. Wenn ich im Einzelnen Manches zuerst erkannt habe, z.B. das Verhältniß der Oliven und ihrer Hülsenstränge, die Linsenkerne und ihre Capseln, die Zwingen-, Haken-, Längen- und Bogenbündel etc., so meine ich doch, durch das Streben nach einer klaren Anschauung von Baue jedes Theiles nach seinem Wesen mir[333] ein größeres Verdienst erworben zu haben. Daß die in den Anmerkungen gegebene Literargeschichte des Gehirns auf eigenem, sehr ernstem Studium beruht, ist wohl nicht zu läugnen und die freimüthige, rücksichtslose Beurtheilung der Leistungen meiner Zeitgenossen mag wohl beweisen, daß es mir auch hier nur darauf ankam, meine Ueberzeugung auszusprechen, nicht aber mir die Gunst berühmter Männer zu erwerben. Was den dritten Band betrifft, der vom Leben des Gehirns handelt, so schloß ich denselben mit dem Bewußtsein, daß ich redlich, mit Umsicht und mit Benutzung aller mir zu Gebote stehender Hülfsmittel tiefer einzudringen gestrebt, einige sicher scheinende Ansichten gewonnen und auf noch vorhandene Lücken aufmerksam gemacht habe.

Meine Arbeit über das Gehirn brachte mich mit zwei hochverdienten Männern, Carus und Gottfried Reinhold Treviranus, in Verbindung. Carus begann seine Antwort auf die Zusendung meines Aufsatzes über das untere Ende des Rückenmarks mit folgenden Worten: »Wenn eine jede freundliche Berührung gleichgesinnter Menschen im Leben schon anregend und erfreuend ist, so muß dies in wissenschaftlicher Hinsicht unfehlbar in noch höherem Sinne gelten, indem es uns in der Ueberzeugung befestigt, daß die Wahrheit nicht individuelle Anschauungsform sei, sondern daß es eine höchste, ja absolute Wahrheit gebe, die in uns allen wiederhallt und nur Reinigung unseres eigenen Selbsts fordert, um rein und göttlich sich zu enthüllen. Wir fühlen, was Göthe sagt: Die Geisterwelt ist nicht verschlossen! Diese Freude empfand ich bei Empfange Ihrer mir sehr werthen Zuschrift, und gewiß, wir würden Aehnliches öfter empfinden, wofern nicht ein großer Theil der Gelehrten, theils von Selbstsucht umsponnen, den Muth, sich im Ganzen zu fühlen, verloren hätte, theils durch andere Verhältnisse zu sehr eingeengt und isolirt wäre. Mögen Sie dieses offene Aussprechen meiner Gedanken als den Beweis meines lebhaften Wunsches betrachten, auch fernerhin eine freundliche Berührung zwischen uns zu unterhalten!« – Ich erwiderte diese freundliche Aeußerung unter Anderem mit einem von[334] ihm verlangten freimüthigen Urtheile über seine Zootomie und er schrieb mir darauf am 9. Februar 1819: »Ich bitte Sie, für Ihre so offenen und schönen Mittheilungen über meine Zootomie meinen vollen Dank anzunehmen, ja, soll ich es sagen, selbst daß Sie gerade auf der Seite, wo ich selbst gern mehr gegeben hätte, Manches vermissen, freut mich, indem es mir zeigt, daß der Sinn, in welchem ich arbeitete, auch Andern als der rechte erscheint und mich dieses trösten kann, wenn ich vielleicht von manchen Seiten künftig Tadel erfahren muß, daß ich nicht das Einzelne mehr ausgeführt und zu sehr nach dem Allgemeinen gestrebt habe.« – Wir blieben immer in einem freundschaftlichen Verhältnisse, wenn auch dasselbe später etwas kälter wurde, da unsere Grundansichten mehr auseinander wichen. – Treviranus stimmte von Anfang an in Principien wie im Empirischen weniger mit mir überein und eröffnete mir Alles, was er an meinen Arbeiten auszusetzen fand; wir überzeugten einander nicht und eine mündliche Besprechung, die er immer wünschte, würde auch kein anderes Resultat gehabt haben; indeß wurde, wie es recht ist, das Verhältniß immer freundlich erhalten.

Im Jahre 1820 wurde eine zweite Auflage meiner Physiologie gefordert. Sollte ich dies Lehrbuch, dessen Mangelhaftigkeit ich wohl einsah, umarbeiten? Ein wirkliches Lehrbuch giebt die Ergebnisse der Forschung als etwas Positives in präciser Sprache und in aphoristischer Kürze; ein solches für die Physiologie zu liefern, erkannte ich aber als weder meinen Kräften, noch auch dem gegenwärtigen Zeitpuncte angemessen, vielmehr erschien mir eine ausführlichere Behandlung nöthig, bei welcher die Thatsachen in möglichster Vollständigkeit zusammengestellt werden, sowohl um sichere Resultate dadurch zu gewinnen, als auch, um den Leser von diesen zu überzeugen. Sollte ich nun auf solche Weise als Seitenstück zu meiner Arbeit über das Gehirn eine Entwickelungsgeschichte liefern, die ich längst als den zweiten zeitgemäßen Hauptgegenstand betrachtet hatte? Sollte es indeß nicht angemessener sein, die gesammte Physiologie als ein Ganzes nach einem solchen größeren Maßstabe zu[335] bearbeiten? Ich war lange Zeit unschlüssig, entschied mich aber endlich für das Letztere und arbeitete seit 1824, nachdem ich die Arbeit über das Gehirn beendigt hatte, mit allem Eifer daran.

Ich stellte mir die Aufgabe, das Menschenleben aus dem durch Betrachtung des gesammten organischen Reiches erkannten Wesen des Lebens überhaupt, dieses aber aus einer durch Zusammenstellung der Erscheinungen und Gesetze des organischen und unorganischen Daseins gewonnenen Anschauung des Naturganzen abzuleiten. Dabei wollte ich aber nie aus den Augen setzen, daß dies nur das höchste endliche Ziel sei, dem man allein durch treue Auffassung der einzelnen Erscheinungen sich nähern könne, und daß hier kein Dogmatismus walten, kein unerwiesener Vordersatz aufgestellt werden dürfe. So dachte ich mir denn die Physiologie als wirkliche Erfahrungswissenschaft darzustellen. Ueberall sollte das Empirische verständig gesammelt und geordnet vorausgehen; über jede einzelne Erscheinung des Menschenlebens sollten alle bekannten Thatsachen erzählt und die ähnlichen oder verwandten Erscheinungen im organischen und unorganischen Reiche nach ihrer Uebereinstimmung oder Abweichung betrachtet werden. Auf diese Weise sollte ein Erfahrungsschatz für die Wissenschaft erwachsen; die durch schlichte Erfahrung gewonnene, naturgemäße, klare Anschauung jeder Art von Erscheinungen nach ihrem allgemeinen Charakter und ihren Modificationen in den verschiedenen Kreisen der Natur sollte als ein Zehrpfennig für die weitere Verfolgung des Weges zum wissenschaftlichen Ziele aufgespart werden, um durch Zusammenstellung mit andern allmälig immer allgemeinere Resultate zu geben und zu umfassenderen Ansichten zu leiten. – Ich wollte das, was als ausgemacht Thatsächliches bekannt ist, vollständig geben und zugleich nach Sichtung der Beobachtungen und Aufstellung von Begriffen darauf hindeuten, wo etwas Ungewisses zu bestätigen oder eine Lücke auszufüllen wäre, so daß das Werk auch ein Zeiger für die Zukunft würde.

Hatte ich schon sonst mit Träumen von einem wissenschaftlichen Gemeinwesen mich beschäftigt, so wünschte ich, Bearbeiter[336] der verschiedenen Zweige der Naturwissenschaft zu Theilnehmern an Bearbeitung der Physiologie zu gewinnen. Gern hätte ich die Beihülfe eines Physikers und eines Chemikers angesprochen, hätte ich dazu geeignete und bereitwillige Männer in meiner Nähe gehabt. Ich begnügte mich daher, die Theilnahme des Botanikers Eysenhardt und des Zoologen von Baer nachzusuchen. Ich theilte ihnen also zu Weihnachten 1821 eine schriftliche Auseinandersetzung meines Projects mit: hiernach wollte ich jeden von mir ausgearbeiteten Abschnitt der Physiologie ihnen zur Beurtheilung vorlegen; sie sollten 1) da, wo meine Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes ihrer Fächer mangelhaft wäre, meine Irrthümer berichtigen und die Lücken meines Wissens ausfüllen; 2) ihre eigenen Erfahrungen und Ansichten unter ihrem Namen in gehörigen Orts einzuschaltenden Zusätzen mittheilen; 3) über die einzelnen Gegenstände wollten wir uns unter einander besprechen, wobei Jedem von uns das Eigenthumsrecht seiner Ansicht bei Veröffentlichung derselben auf das Strengste gesichert bliebe. Sie gingen aber auf meinen Plan nicht ein, weil sie glaubten, dadurch von den speciellen Untersuchungen, mit denen sie sich nach ihrer eigenen Wahl beschäftigten, zu sehr abgelenkt zu werden. Ueberdies starb Eysenhardt 1824 und es gelang mir nun, in Baer einen gediegenen Mitarbeiter zu gewinnen. Außerdem erhielt ich noch einen wackern Gefährten an einem andern Zoologen, dem Dr. Rathke in Danzig. Ich hatte seine Arbeiten, die Entwickelungsgeschichte betreffend, schätzen gelernt, und als ich zu Anfange 1825 seine Entdeckung der Halskiemen bei Embryonen von Vögeln und Säugethieren erfuhr, trug ich, voll des wärmsten Interesses für diesen großen Fund, ihm die Theilnahme an Bearbeitung der Entwicklungsgeschichte für mein Unternehmen an. Ich wünschte mir Glück, durch seine Zusage eine so treffliche Unterstützung zu gewinnen; er stellte voller Vertrauen seine Aufsätze zu meiner Verfügung, wie ich ihm hinwiederum mein Manuscript schickte und wir correspondirten darüber.

Was die Ausführung des Unternehmens anlangt, so legte ich einen streng systematischen Plan zum Grunde, da ich seit[337] jeher eine solche Anordnung für allein wissenschaftlich erkannte; damit jedoch das Buch nicht durch die vielen Abtheilungen und Unterabtheilungen ein pedantisches Aussehen bekäme, beschränkte ich die Darlegung des Plans auf die Uebersicht des Inhalts. Ich begann mit der Geschichte des Lebens, also zunächst mit der Lehre von der Zeugung und der Embryonenbildung, weil ich den Materialismus, der das Leben aus der gegebenen Form und Mischung, das Werden aus dem Gewordenen zu erklären meint, im Voraus zurückweisen wollte. Ich konnte mit jener Lehre anfangen, da ich einen Aufbau der Wissenschaft versuchte und nicht für Anfänger schrieb, denn Compendien und akademische Vorträge über Physiologie mit der Entwickelungsgeschichte zu beginnen, halte ich für einen großen Mißgriff. Ueberdies war es gerade an der Zeit für diese Lehre, in einer neuen Gestalt aufzutreten und ein günstiges Geschick hatte mir gerade die beiden vorzüglichsten Forscher auf diesem Gebiete zu Mitarbeitern gegeben. – Nach dem Leben in seinem Fortschreiten sollte dasselbe als ein in der Betrachtung Fixirtes, als Bestehendes und sich gleich Bleibendes untersucht und endlich das Menschengeschlecht in seinem Verhältnisse zum organischen Reiche und zum Planeten, die Bildung der Erde und die Entwickelung so wie das Fortschreiten des Lebens auf derselben betrachtet werden.

Was die Anordnung im Einzelnen anlangt, so mußte dieselbe rein dichotomisch sein, da ich den Gegensatz als den Anfang aller Mannichfaltigkeit und als den Charakter alles Endlichen erkannte und es mir darauf anzukommen schien, zwei einander wirklich und schlechthin ausschließende Sätze als denkbar aufzustellen und die Unmöglichkeit des einen nachzuweisen, um sich von der Gewißheit des andern zu überzeugen. Ferner sollte die Physiologie nicht mehr, wie es meist bis auf diesen Tag der Fall ist, eine Lehre von den Functionen oder vom Nutzen der Theile, sondern von dem Leben und seinen Erscheinungen sein, und z.B. die verschiedenen an den Lungen vorkommenden Thätigkeiten unter den verschiedenen Rubriken der Einsaugung und Aushauchung, des Gemeingefühls und der Bewegung u.s.w. abgehandelt werden. Uebrigens sollte das[338] Ganze das Mittel halten zwischen compendiarischer Kürze und monographischer Ausführlichkeit, so daß z.B. die Versuche nach ihrem Erfolge, aber nicht mit den Einzelnheiten der Methode und des Apparats angegeben würden und der Vortrag weder eine discursive Breite, noch auch eine aphoristische Kürze hätte.

Endlich versuchte ich solche Abbildungen beizufügen, welche das Schema der organischen Bildung darbieten und die verschiedenen Formenverhältnisse nach ihrem Begriffe anschaulich machen, denn diese Darstellungsweise, welche das Wesentliche der Gestaltung dem Blicke darlegt, schien mir zu Erlangung klarer Begriffe und zur Förderung des wirklichen Wissens ganz geeignet zu sein.

So erschien denn der erste Band zu Anfange des Jahres 18265.

Von Nebenarbeiten aus diesem Zeitraume habe ich nur die Gratulationsschrift zu Blumenbachs Doctorjubiläum zu erwähnen6.

Fußnoten

1 Vierter Bericht. Mit Nachträgen zur Morphologie des Kopfs. Mit einer Steintafel. Leipzig 1821. 63 S. 8.


2 Fünfter Bericht. Mit Ansichten des Elektromagnetismus. Mit einer Kupfertafel. Leipzig 1822. 50 S. 8.


3 Sechster Bericht. Mit einer Uebersicht von parasitischen und gedoppelten Menschenkörpern. Mit einer Kupfertafel. Leipzig 1823. 96 S. 8. – Siebenter Bericht. Mit dem Beschlusse der Uebersicht von parasitischen und gedoppelten Menschenkörpern. Leipzig 1824. 56 S. 8.


4 Zweiter Band. 1822. IV und 418 S. mit 7 Kupfern. – Dritter Band. 1826. IV und 595 S. mit 1 Kupfer.


5 Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Erster Band, bearbeitet von K.F. Burdach. Mit Beiträgen von K.E. von Baer und H. Rathke. Mit 6 Kupfertafeln. Leipzig, bei L. Voß. 1826. XXIV und 606 S. 8.


6 Viro perillustri J.B. Blumenbach solemnium, quibus ante hos quinquaginta annos summos in medicinae honores adeptus est instaurationem gratulatur academia Regiomontana interprete C.F. Burdach, Regiomonti 1825. 11 S. 4.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 339.
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