2. Der Wittwer.

[434] Nur in so fern ich mich eben so geliebt fühlte, als ich mich liebend hingab, hatte seit jeher das Leben für mich Werth gehabt: die Liebe war mir die Lebensluft, ohne die ich im Qualme des Menschengewühls zu ersticken glaubte. Und ein günstiges Geschick hatte dem Bedürfnisse meines Herzens entsprochen: ich hatte als einziger Sohn die ungetheilte Liebe meiner trefflichen Mutter genossen, nach ihrem Tode aber mein Glück in der ehelichen Liebe gefunden, auf diesem Gipfel der Eintracht, wo ein[434] völlig ungetheiltes Interesse waltet und ein Individuum ganz in dem andern lebt. Jetzt erst, in den späteren Jahren des Lebens, wo ohnedies die Freuden spärlicher werden, wurde ich des bisher gewohnten Glücks beraubt. Gewiß, wer erst im Alter zum Waisenknaben wird, den drückt die Lieblosigkeit der Welt viel härter, als den, der von Geburt an Bewohner des Waisenhauses war.

Glücklich durch Liebe, war ich aber auch liebreicher gegen Andere gewesen, und jetzt, wurde diese Theilnahme viel kälter oder wendete sich mehr von den Individuen ab und dem Allgemeinen zu. Ich bin im Grunde aller wahrhaften, innigen Anhänglichkeit baar geworden: ich hänge an Niemandem und Niemand hängt an mir; ich bin mehreren Personen aufrichtig gewogen und sie sind eben so gegen mich gesinnt, aber wir können einander entbehren und werden uns eben nicht viel vermissen. Ich will noch den Menschen wohl, dem Einen mehr, dem Andern weniger, und bin gern Jedem nützlich, dem Einen, wenn es ohne große Unbequemlichkeit geschehen kann, dem Andern, wenn es auch Aufopferung kostet: aber mein Wohlwollen bleibt kühl, wie das, was jetzt allein mir zu Theil wird. So werde ich auch von einem fremden Verluste weniger gerührt, da ich ihn mit dem meinigen vergleichen muß: Wem sein ganzes Vermögen verloren gegangen ist, der hat weniger Mitleid, wenn ein Anderer ein Zehntheil des seinigen einbüßt. – Die Abnahme der Lebendigkeit des Gefühls, welche mit dem Verluste von dessen persönlichem Hauptgegenstande eingetreten ist, prägt sich auch physisch aus: seit dem Tode meiner Frau fühle ich mein leibliches Herz nicht mehr, während ich sonst in Momenten freudiger Anschauung ihrer Liebenswürdigkeit eine krampfähnliche und doch wonnevolle Empfindung im Herzen hatte; jetzt werde ich nur von einer aus dem Selbstbewußtsein und aus dem Gebiete der Ideen stammenden Vorstellung so lebhaft ergriffen, daß besondere Empfindungen davon entstehen, und diese äußern sich nur als Wirkungen auf das Nervensystem, wie ein über den ganzen Körper gleichförmig sich verbreitender elektrischer Strom, der das Herz insbesondere nicht berührt.[435]

Vormals fand ich für meine Anstrengungen alsbald einen ermunternden Lohn; konnte ich gegen meine Frau mich rühmen: »ich glaube, es ist mir gelungen,« oder »ich meine, die Arbeit ist gut,« so nahm sie innigen Antheil daran; und konnte ich ihr auch nichts mehr sagen, als: »ich bin fertig,« so war sie auch dessen froh mit mir. Jetzt kann dies Alles Niemandem interessiren, und manche Arbeit, die an sich nicht anziehend ist, wird mir jetzt schwer, während sonst häusliche Freude mir die nöthige Spannkraft gab, um auch auf dem undankbaren Felde freudig und rüstig arbeiten zu können. In der That hatte ich bisher die Bürde des Lebens kaum gefühlt; die Arbeit war mir Freude gewesen, und davon ermüdet, hatte ich mich an ihrer Seite neu gestärkt; in Zeiten aber, wo ich durch das Gefühl der Unvollkommenheit meiner Leistungen und durch Unzufriedenheit mit mir selbst niedergebeugt war, wurde ich durch sie erheitert, ja – ich schäme mich nicht, es zu gestehen – getröstet.

Wie wir gegenseitig einander zu erfreuen sannen, so wurde sie auch durch jede mir zu Theil gewordene Gunst lebhaft erfreut, und durch diese ihre Freude gewann jene Gunst erst recht hohen Werth für mich. Wenn mir jetzt etwas Angenehmes widerfährt, mischt sich dem Vergnügen eine schmerzliche Empfindung bei, weil ich mich nicht mit ihr freuen kann; so war ich bei den Auszeichnungen, die ich 1840 auf Anlaß der Huldigung erfuhr, in starker Aufregung und stetem Kampfe entgegengesetzter Empfindungen, ja, ich konnte, wenn ich allein war, zuweilen den lauten Jammer nicht unterdrücken. Das Leben ist für mich ernster und strenger, mancher Reiz desselben schaal geworden. Wenn ich nach ihrem Tode mit Schauder an die Einsamkeit meiner Zukunft dachte, so war es nicht, weil ich eintretende Leiden nun allein zu ertragen haben würde, sondern wegen Entbehrung der mir bisher zu Theil gewordenen Freuden.

Selbst das Bild von meinem Sterben, das ich mir so heiter gemalt hatte, ist düsterer geworden: in der Hoffnung, sie stets an meiner Seite zu sehen, hatte ich mir meine letzten Augenblicke von Zeichen unbedingter Liebe verschönert gedacht.

Unsern gemeinschaftlichen Freunden mußte ich eine etwas[436] ausführlichere Nachricht über meinen Verlust ertheilen, und da sie zu zahlreich waren, als daß ich ihnen einzeln hätte schreiben können, so kam ich auf den Gedanken, ihnen einen gedruckten Aufsatz zu senden. Indem ich nun am Tage nach dem Tode meiner Frau mich damit beschäftigte, den Gang ihrer Krankheit und ihr Benehmen dabei erzählte, so wie das, was sie mir gewesen war, schilderte, ertrug ich meinen Schmerz leichter: die Thätigkeit zeigte schon jetzt ihre wohlthätige Wirkung. Als ich gegen Ende des Jahres einige Tage dem Lesen ihrer Papiere widmete, bemächtigte sich meiner ein so ungeheurer Schmerz, daß ich fühlte, er würde, wenn er in diesem Maße fortdauerte, mich ihr in Kurzem folgen lassen. Der Gedanke, daß ich noch etwas im Leben zu leisten versuchen müsse, ermunterte mich, und der Vorsatz, in kräftiger Wirksamkeit meinen Schmerz männlich zu tragen, begeisterte mich: wissenschaftliche Thätigkeit mußte mich aufrecht halten.

Wie alle Entwickelung im Leben auf fortschreitender Zunahme des Geistigen beruht, so gehört dahin auch der fortgesetzte geistige Verkehr mit der dahin geschiedenen Geliebten. Indem das Bild der Verklärten mir vorschwebt, wird Alles Gute in mir lauterer, ernster und fester. Ich lasse nicht von ihr; mit meiner ganzen Seelenkraft halte ich mich an sie. Wie wir früher bei allem Wichtigern in Ansichten und Empfindungen, Entschlüssen und Handlungen übereinstimmten, so suche ich auch immerfort, mit ihr eins zu sein: ich lausche auf ihr Urtheil, und indem ich es befolge, mildere ich manche Härte, verfahre schonender gegen Andere und freue mich, daß sie zufrieden mit mir ist; das Bewußtsein, etwas Gutes gethan zu haben, wird um so süßer durch den Gedanken, daß ich in ihrem Sinne gehandelt, es ihr recht gemacht habe. Und wenn ich in meinen Arbeiten Glück gehabt zu haben glaube, so schreibe ich es ihrem Einflusse zu und betrachte sie noch ferner als meinen Schutzgeist, wo sie mich ermunterte, beruhigte, stärkte und beglückte; ja, ich überlasse mich gern der süßen Vorstellung von Schutzheiligen, einer Schwärmerei, die dem von Liebe beseelten Menschen in seiner Einsamkeit auf Erden eben so natürlich als[437] wohlthuend ist und sich ihm durch einfache Deutung der Ereignisse oftmals als wirkliche Erkenntniß darstellt. Im Glauben an Fortdauer nach dem Tode werbe ich um ihren Besitz für ein höheres Leben durch meinen immerwährenden Schmerz, durch meine unendliche Liebe.

Die ganze Stütze meiner Kraft liegt in der religiösen Gesinnung. Durch Vertrauen auf Gott habe ich in frommer Ergebung den Schmerz über den Verlust meiner Tochter ertragen, und eben so traure ich um mein geliebtes Weib. In diesem Sinne hege ich manch tröstliche Vorstellung von den heilsamen Folgen, also auch von dem Zwecke meines Verlustes. In der Trennung erst stellt sich der volle Werth der Geliebten recht lebendig vor Augen, indem eine gewisse Entfernung dazu gehört, um die wohlbekannten einzelnen Momente in einer Gesammtanschauung zu vereinen. Ich las ihr Reisetagebuch, ihre Briefe und sonstigen Papiere; da lag ihre ganze Seele vor mir: ihre unwandelbare Frömmigkeit, die beim Genusse der schönen Natur wie bei jedem wichtigeren Ereignisse in ihrer ganzen Lebendigkeit sich offenbarte; ihre Heiterkeit und frohe Lebenslust; ihr Streben, sich auszubilden und nützliche Kenntnisse zu sammeln; ihre Menschenfreundlichkeit und ihre unbegrenzte Liebe zu mir. – Aus Liebe hatte sie es auf sich nehmen wollen, mich zu überleben, während ich zu solcher Höhe der Entsagung mich nicht hatte erheben können: als aber diese vom Schicksale mir auferlegt worden war, fand ich es schön, daß sie vorausgegangen und ihr der Schmerz, an meiner Bahre zu stehen, erspart worden war. Handelt es sich ja doch nur um die Reihenfolge unseres Sterbens! Das gemeinschaftliche Loos traf zuerst meine herrliche Mutter, dann meine engelreine Tochter, hierauf mein braves Weib, und ich beschließe: wie unglücklich wäre es gewesen, wenn die umgekehrte Ordnung eingetreten wäre und ich den Reigen eröffnet hätte! Bei der Stärke, die das Weib zeigt, wenn Liebe und Pflicht es fordern, würde meine Frau mit noch mehr Fassung mir die Augen zugedrückt haben, als ich es ihr vermochte, auch würde sie gemächlich haben leben können. Aber das Scheiden von Haus,[438] Hof und Garten, von meinem und ihrem Stübchen, die Entfernung von allen den Räumen unseres glücklichen Zusammenlebens würde sie tief geschmerzt haben; und bei Entbehrung der Thätigkeit in einer größern Wirthschaft würde sie in ihrer stillen Einsamkeit dem Grame mehr preisgegeben sein, während ich demselben durch Fortsetzung meiner gewohnten Thätigkeit begegne. – Und wäre sie erst nach mir gestorben, so wäre sie ja nicht so betrauert worden, denn die Liebe der Kinder kann sich mit der Liebe des Gatten nicht messen. Meine lebenslängliche Trauer ist ihr wohlverdientes Ehrendenkmal. Hatte ich es mir doch immer als das schönste Ziel eines Menschenlebens gedacht, wenn sein Erlöschen eine nie auszufüllende Lücke in einem warm schlagenden Herzen verursacht, wenn nicht blos am offenen Grabe einige Thränen fließen, und dann Alles ungeändert seinen Gang fortgeht, ohne daß man die Persönlichkeit sonderlich vermißt, sondern der Grabhügel noch ferner mit heißen Thränen bethaut, mit immer grünenden Kränzen treuer Liebe geschmückt und zu einem Altare für den im Gebete sich erhebenden Geist wird. Das Glück, das ich mir gewünscht hatte, ist ihr zu Theil geworden, da sie durch die Reinheit ihrer Gesinnung es in vollem Maße verdient, und ich mußte sie überleben, damit ihr Andenken in solcher Weise geehrt werden konnte.

Bei solchen Tröstungen hat denn keine Trübseligkeit, sondern nur eine heitere Trauer über mich kommen können; der Schmerz schwindet nicht, aber er verdüstert auch nicht das Auge, und hemmt nicht die freundliche Ansicht der Dinge. Wenn ich am Schlusse der Woche, wo wieder ein Theil meiner Arbeit beendigt, eine Strecke meiner Bahn zurückgelegt ist, das Grab besuche, kehre ich heiter und gestärkt unter die Lebenden zurück. Ihre Aeußerungen auf dem Sterbebette, daß sie bei uns zu bleiben wünsche, und daß ihr Tod mich unglücklich machen würde, war ein köstliches Vermächtniß für mich; sie bestätigten, daß sie sich durch mich beglückt fühlte, und daß sie den ganzen Umfang meiner Liebe kannte; dies Bewußtsein aber erhält mich heiter.[439]

Bei bürgerlichen Sorgen, denen ich in meiner Jugend beim Vollgenusse des Familienglücks hatte Trotz bieten können, würde es schwerer geworden sein, mich aufrecht zu erhalten. Auch hätte ich bei meinem vorgerückten Alter mancherlei Entbehrungen wohl nicht ertragen, denn der Leib merkt, wenn er alt wird, daß nicht viel mehr an ihm ist und daß es bald gar aus mit ihm sein wird; man kann es ihm daher auch nicht verdenken, daß er sich zuletzt noch mehr breit macht, mehr Ruhe und Behaglichkeit fordert. Solche Gemächlichkeit im Aeußern unterstützt denn auch meine innere Kraft. In den ersten Tagen nach dem Tode meiner geliebten Frau wollte ich mich ganz als Junggeselle einrichten, und den bisher genossenen Bequemlichkeiten entsagen; der einfache Gedanke, daß sie dies im höchsten Grade mißbilligen würde, brachte mich sogleich von diesem Vorsatze ab, und ich ließ nun meinen Hausstand unverändert. Da bethätigt sich nun ihre Wirksamkeit fort und fort; nicht allein die Erinnerung an sie lebt in mir, auch ihr wohlthätiges Wirken kommt mir täglich zu Gute. Durch die strenge Ordnung nämlich, die sie einführte, und durch ihre stete Sorge für mich hat sie, ohne es zu wissen, mir die Fortdauer meiner Gemächlichkeit auch nach ihrem Tode verschafft; die Einrichtungen im Hause, die Wahl der Dienstleute, die Abrichtung und Gewöhnung derselben, Alles ist ihr Werk und von der Art, daß ich jeder Entbehrung, jeder Beschwerde, jeder Verdrüßlichkeit überhoben bin; ohne es zu fordern, sitze ich vom Anfange des Frühlings bis zum Ende des Herbstes immer noch unter Blumen, wie sonst, als sie mich damit umgab. Die offenbare Gewißheit, daß mein Schmerz nicht einer sinnlichen, sondern nur der geistigen Entbehrung gilt, ist mir sehr viel werth!

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 434-440.
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