II.

[156] In dieser Weise schloß sich denn unter so scharfem Wechsel zwischen angestrengtestem Arbeiten und glücklich erleuchteten oder auch wohl von Trauer angewehten Stunden dieses Jahr, dem wir übrigens in seinem letzten Monat (am 9. Dezember) noch eine Totenfeier Mendelssohns in meinem der Musik so schön geeigneten Saale einfügten, eine Feier, welche es dadurch wurde, daß Clara Schumann Mendelssohnsche Sachen spielte, Tichatschek aus seinen Liedern sang und Eduard Devrient Geibels Gedicht auf den früh Vollendeten in edler Weise uns vortrug.[156] Und so stieg uns allen nun herauf jenes merkwürdige Jahr 1848, das Jahr der Erdbeben unter den Thronen und einer allgemeinen seltsamen Erschütterung der Menschheit!

Recht so aber wie etwa ein geschickter Romanschreiber, wenn eine große Katastrophe seiner Geschichte sich nähern soll, nun wohl damit anfängt, daß er vorher nur recht gleichgültige oder doch durchaus milde Erscheinungen am Leser vorbeiführt, damit dann um so gewaltiger die Wirkung sei, wenn endlich jener Wendepunkt eintritt, so fing auch bei uns das Jahr ganz heiter und einfach an. Am 3. Januar hatten die Meinigen mit Freund Hiller die Aufführung von Mendelssohns »Walpurgisnacht« veranstaltet, welche trefflich gelang. – Wunderbares Werk doch, und so merkwürdig fortgedichtet erscheinen Goethes Worte in dieser Musik! So zwar, daß sie recht eigentlich (wie es denn immer sein sollte) ein schöner amplifizierender Kommentar des Urgedichts werden! Ich lernte damals zuerst dies Werk vollständig kennen und bewunderte vorzüglich die Schlußgesänge der germanischen Priester. Nirgends zuvor hatte ich etwas derart gefunden, was den Begriff der eigenen Erhabenheit einer bloßen Naturreligion in Tönen aussprach, und hier war dies nun, wie ich schon früher einmal andeutete, wirklich erreicht. Könnte man doch in dieser Beziehung vielleicht eine musikalische Stufenfolge in der Weise aufstellen: Kirchenandacht und dogmatisches Christentum = Sebastian Bachs »Passion« und lutherischer Choral; Philosophie und philosophisches Mysterium = Priesterchöre der »Zauberflöte«; Naturverehrung und Kultus in Wäldern und auf Bergen = Priesterchöre der »Walpurgisnacht«. –

So also brachten auch noch die nächstfolgenden Wintertage trotz Schneestürmen und Kälte manche gute Stunde[157] im Innern und manche heitere Festlichkeit im Äußern!

Unter anderm ist hier gleich der Ort, eines schönen Baues von Semper zu gedenken, der ganz in unserer Nähe indes entstanden war und dessen festliche Einweihung nun ebenfalls in diese Tage fiel, nämlich des Oppenheimschen Hauses. Der Eigentümer, ein alter reicher Herr, der seit einigen Jahren von Königsberg und Berlin nach Dresden sich gewendet hatte, war es, der jenem trefflichen Architekten schon früher Gelegenheit gab, in der Nähe des Linckeschen Bades ihm eine Villa im edelsten, durchgebildetsten italienischen Stil aufzuführen, »Villa Rosa« zu Ehren seiner feinen, gern geselligen Frau genannt, der aber nun in der Stadt sich ebenfalls angekauft hatte und ein Haus auch da aufführen ließ, dessen großer und schöner altflorentinischer Stil es gegen andere jetzt in Menge kasernenähnlich aufsteigende Häuser gewaltig auszeichnete. In diesem neuen, innerlich mit allem feinern Komfort ausgerüsteten Hause wohnte daher jetzt das würdige Ehepaar und mit ihr die Familie eines Schwiegersohns Grahl, eines Künstlers, welcher insbesondere durch Erfindung einer neuen, der frühern Temperamalerei verwandten Malerkunst sich ausgezeichnet hatte; und hier fanden also einige Feste der Einweihung statt, die denn auch noch nichts ahnen ließen von den Gewitterwolken, die sich im stillen überall am politischen Horizonte zusammenzogen. – Wie aber übrigens in solchen Dingen das Schicksal mit dem Menschen selbst ein wunderliches, nicht selten grausames Spiel zu treiben scheint, will ich dabei gleich noch gedenken und sagen, in welcher Weise nur ein paar Jahre später aus eben der Pracht dieses Hauses der Tod der Besitzerin zum Teil hervorgehen sollte. Boudoir und Schlafzimmer derselben hatte der Dekorateur nämlich mit den schönsten, ein dunkelgrünes, schweres Damastzeug auf das täuschendste[158] nachahmenden Tapeten geschmückt, welche, von allen für unschädliches Seidenzeug gehalten, leider im Gegenteil aus dick mit arsenikalischem Grün überstrichenem Papier bestanden. Aus dieser Quelle war es denn, daß, als späterhin bei einer gewöhnlichen Grippe der Organismus durch anderweitig veranlaßte niederdrückende Gemütsleiden äußern Schädlichkeiten sich um so mehr aufgeschlossen fand, die zerstörende Wirkung jenes Giftes allmählich sich geltend machte und endlich, im Anfange des Jahres 1849, den Tod durch Lungenschwindsucht herbeiführte. Allerdings wurde zwar sogleich, als die Symptome einen drohendern Charakter zeigten und ich auf genaueste Untersuchung aller Umgebungen gedrungen hatte, jene schmähliche Vernachlässigung aller Vorsichtsmaßregeln entdeckt und die Kranke sofort in andere Umgebungen, namentlich im Sommer auf die schöne Villa an der Elbe gebracht; indes jedes Mittel der Kunst – man hatte auch Opolzer aus Wien noch zur Konsultation herbeigerufen – sowie die liebevollste Pflege der Familie blieben vergebens, und so hauchte denn zuletzt diese Frau im nächsten Winter doch noch in eben den nun durchaus gereinigten Räumen den Geist aus, deren Pracht sie mit so feinem Geschmack nicht gar lange zuvor selbst erst begründet hatte.

Doch ich komme nun wieder auf den Februarmonat 1848 zurück und will da zunächst noch von einer interessanten Erscheinung im Gebiete der Kunst berichten, welche damals unsere Aufmerksamkeit für mehrere Tage in Anspruch nahm. Es war das ziemlich große Bild eines Porträtmalers namens Pecht, welcher einen längeren Aufenthalt in Weimar verwendet hatte, um mit Benutzung aller dort nur zu beschaffenden Mittel die Abendszene im Park zu Tiefurt nach der ersten Aufführung der Goetheschen »Iphigenie« so treu als möglich darzustellen. Alle[159] damaligen Umgebungen, und die Corona Schröter als Iphigenie den Dichter mit dem Lorbeer krönend, waren nach Bildern aus jener Zeit in interessanter Weise zur Anschauung gebracht, und wenn auch die künstlerische Vollendung nicht eine gerade außerordentliche genannt werden durfte, so gewährte doch das Ganze durch das Heranbringen vieler interessanter Persönlichkeiten ein dankenswertes Zurückversetzen in eine Zeit, welche nun einmal für den poetischen Höhenmesser nicht nur Deutschlands, sondern der gesamten modernen Welt noch für Jahrhunderte, ja vielleicht für immer, als die merkwürdigste bezeichnet werden muß.

Und so war man denn in vielfacher Beziehung eben mitten in allerhand poetischen Träumen, als wir gegen Ende des Monats, recht wie der ruhig Schlummernde durch den Feuerruf des Wächters, uns plötzlich aufgeschreckt fanden durch die Nachricht von der Pariser Revolution des 24. Februar. Es war wohl nichts Kleines, sich sagen zu müssen, daß die Bande zwischen der Regierung und einem Volke von 30 Millionen Menschen, auch nachdem sie einen fünfzehnjährigen Frieden über Europa gebreitet hatten, in ein paar Tagen vollkommen zerrissen sein konnten, so daß König und Königtum wie Spreu vor dem Winde verstreut dahinschwanden und man auf einmal wieder, gleich einem dem Grabe entstiegenen Geiste, die Republik von 1789 heranschreiten sah. Man kennt nur zur Genüge die ungeheuere Rückwirkung dieser Ereignisse auf Deutschland, man erinnert sich, wie die revolutionären Bewegungen in München, Berlin und Wien sich jetzt Schlag auf Schlag einander folgten, wie dann neues großes Heil erwartet wurde von einem allgemeinen deutschen Parlament in Frankfurt, von Wahl des Reichsverwesers usw., und wie zuletzt doch auch all dieses so gar nicht vorhielt. Ich bin weit entfernt, hier irgendwie den Geschichtsschreiber so[160] gewaltsamer und merkwürdiger Ereignisse machen zu wollen, und ich nenne sie daher nur im allgemeinen, um in den folgenden Blättern teils bloß einiges schärfer zu bezeichnen, wodurch wir in unsern nächsten Kreisen besonders berührt wurden, teils einige der Betrachtungen festzuhalten, welche so seltsame Vorgänge eben damals wohl in uns notwendig erregen mußten.

Versuche ich erst den unmittelbaren Eindruck mir wieder hervorzurufen, welchen die Proklamation der Republik damals auf mich gemacht hatte, so fand ich ihn gemischt, teils aus verminderter Achtung eines Königtums, welches so schnell, so fast ohne Kampf und mit so viel Gleichgültigkeit der Nation sich wegstäuben ließ, und teils aus einer alten, noch von der Bewunderung der freien Staaten von Rom und Griechenland herübergenommenen Anhänglichkeit an den Gedanken, es könne in der Menschheit doch irgendeinmal jenes Ideal verwirklicht werden, wo ein Rat weiser, geprüfter, großdenkender Männer nach klarem Ermessen der eigentlichen Bedürfnisse des Volks den Organismus des Staats anhaltend fortzubilden und zu lenken geeignet bliebe. Kam dann hinzu, daß ich bedachte, wie jetzt den Franzosen notwendig vorschweben müsse aller Unverstand und aller Greuel, den ihre Revolution von 1789 herbeigeführt hatte, ja an welchem zuletzt diese selbst fast resultatlos zugrunde gegangen war, so blieb mir allerdings noch immer eine gewisse Hoffnung lebendig, es könne doch vielleicht das zweite Ergebnis besserer Natur sein als das erste, zumal da Namen wie Odilon-Barrot, Lamartine, Crémieux und andere einen guten Klang hatten und das Vertrauen vermehrten. Bald jedoch traten Symptome hervor, die auch hier wieder auf innere Unklarheit, Unsicherheit und Irrtum sehr entschieden hindeuteten, und aller Vorteil, der eigentlich der Nation daraus hervorgehen sollte, daß sie nun wirklich, wie[161] Goethe es wünschte, »die Sachen zweimal verrichten konnte«, schien sich endlich nur darauf zu konzentrieren, daß diese Bewegungen großenteils ohne jene Abscheulichkeiten verliefen, welche die ersten ausgezeichnet hatten; im übrigen ahnte man aber gar bald, daß jetzt wie damals wieder nur in einem von kluger und starker Hand geübten Militärdespotismus alles Freiheitsstreben Frankreichs sein sicheres Grab finden würde, und so überließ ich daher dies Volk seinem Schicksal und wendete mich mit meinen Betrachtungen und Wünschen abermals hauptsächlich den Deutschen zu.

Was die Frage betrifft über unsere Zukunft, so finde ich, daß man hier eigentlich auf das große Unbewußte, was im Organismus jedes Volks, und so auch des deutschen, lebt und wirkt, vertrauen muß. Eben das, was, ohne davon zu wissen, den Organismus des Menschen baut und was ihn oft aus großen Krankheiten herauszuführen vermag, das erhält und bewahrt oftmals auch ein Volk, und so werden ja auch die Deutschen wohl nicht ganz verlassen sein! Treibe daher doch nur jede Partei ihre Kreisel für sich und verfahre dabei möglichst offen und ehrlich! – So wird all das Hin- und Widerstreiten doch gewiß zu einem Resultat – zu einer Lösung führen! Ich habe immer die Idee Deutschlands hochgehalten und tue es eben auch noch und darin liegt viel!

Man muß zuletzt immer suchen, den historischen Standpunkt für diese Bewegungen zu finden, um dahin zu kommen, teilnehmend darüber zu verweilen; denn wenn auch mit vielem Irrsal und vieler Roheit verknüpft, ist doch nicht zu leugnen: ein jugendliches Ringen der Idee ist im Herzen Europas aufgegangen, und viele welke Blätter schüttelt dieses Ringen ab, um frischen Trieben Raum zu bereiten. Muß doch immer von Zeit zu Zeit ein erfrischender Wind durch das Leben der Völker wehen! Freilich[162] der Wind ist oft schwer auszuhalten, erregt Flußfieber und Krämpfe hier und da – aber wir müssen durch und dabei um uns schauen; denn eine große Metamorphose der Menschheit betrachtend zu erleben ist immer etwas sehr Merkwürdiges! Gestehe ich doch, daß es mir jetzt zuweilen einen eigenen unheimlichen Eindruck macht, selbst auf England – das freie England – zu blikken und zu erkennen, welche Massen alter Institutionen mit rohestem Druck einer Aristokratie des Geldes und der Geburt dort über dem Lande liegen – fast wie der Jahrhunderte alte Staub auf den Kaminen ihrer prächtigen Schlösser!

Und unter so verschiedenen Gedanken rückten denn die Ereignisse weiter und weiter vor! Schon am 22. März feierte man hier die Vereinigung Deutschlands zu einem Reiche mit Festzügen, Illuminationen und Aufstecken der deutschen Farben neben denen des Landes. Gab es mir doch viel zu denken, als ich sah, wie an jenem Nachmittage auch in meinem Hause große Fahnen zusammengenäht wurden, die eine weiß und grün, die andere aus den seit den Wiener und Karlsbader Beschlüssen so viel verfolgten Farben Schwarz, Rot und Gelb oder Gold! Beide flatterten abends, von vielen Lämpchen erhellt, über dem Hoftor meiner Villa unter den alten, eben wieder Knospen treibenden Linden, und wenn vielfach der Wind immer wieder die kleinen Flammen verlöschte, so dachte damals doch noch niemand, daß auch diese ganze deutsche Herrlichkeit fast ebenso schnell vom politischen Sturme wieder ausgelöscht sein werde, nicht jedoch ohne immer wieder bereit zu sein, sich bald aufs neue zu entzünden.

Konnten nun so quälenden und beunruhigenden Eindrükken gegenüber irgend andere doch wieder einigermaßen beschwichtigend und erhaltend wirken, so war es nächst vielfacher von außen geforderter Geschäftstätigkeit das[163] Einziehen eines warmen, blütenreichen Frühlings und das Erfreutwerden durch manche bedeutende Erscheinung im Reiche der Kunst. Zu dem letztern rechne ich namentlich die Aufführung des »Elias« von Mendelssohn am Palmsonntage im Opernhause; der letzten, die in diesen zwar etwas verfallenen, aber doch durchaus großartigen Räumen stattfand (da es im nächsten Jahre in Flammen aufging) und worüber ich damals lange Reflexionen niederschrieb, von denen ich hier um so lieber einiges mitteile, damit die Schilderung einer so hart bedrückenden Zeit durch Hinwendung nach freiern schönern Reichen mindestens um etwas gelindert und abgelenkt werde.

»Wie ein organisch lebendiger Leib eben ein gewisses Quantum Äther bedarf, um sich darzuleben – ein Infusorium das kleinste, ein Sonnensystem das größte, ein Mensch ein durchaus mittleres –, so auch das Kunstwerk. Und wenn der Mensch möglicherweise mit aller Vollendung seiner Organe in Daumengröße sich darleben könnte, er würde dann schon deshalb ein ganz anderes Geschöpf sein, und ebenso, wenn es in Riesengröße möglich wäre. – So ist es aber auch mit dem Kunstwerk! – Die Venus von Milo als noch so vollendete Statuette auf einem Nippestisch ist ebensowenig mehr dieser Kunstgedanke, als sie es wäre als Koloß gleich dem von Rhodus! Je präziser und individueller die Idee ausgeprägt ist, um so mehr muß sie in einem bestimmten Maße sich darstellen.

Ich hatte nun den ›Elias‹ früher in der Singakademie am Flügel aufführen hören, und noch war er mir da gar nicht in seiner Eigentümlichkeit offenbar geworden – heute in diesen Tonmassen und getragen von einer kräftig schönen Stimme des Propheten, trat mir gleich das volle Verständnis entgegen. Der Straßburger Münster klein aus Holz geschnitzt – wem gibt er einen Begriff von jenem Baue? – Es gehört das Hinaufsehen dazu, um ihn [164] einzusehen! Es gibt gewisse Dinge, die sich in jeder Größe noch kenntlich machen – andere durchaus nicht –, dieser ›Elias‹ gehört zu den letztern!«

Endlich konnte ich nicht unterlassen, auf mich selbst zu merken bei dieser Aufführung, warum mich dieses Klingen fortschreitender Harmonie und Melodie an den Worten des alttestamentlichen Textes so festhielt, wenn mich andere ganz rechtschaffene Oratorien, zum Beispiel von Schneider, mit all ihrer regelrechten Harmonie und wohllautenden Melodie so gar nicht festzuhalten pflegten? – »Auch da läßt sich eigentlich nichts weiter sagen als: es ist das Befruchtende des Genius. Der Genius haucht die Worte an, und sie tönen nun in Melodien ihren Sinn aus, er schlägt gleichsam die festen Lettern an, und sie klingen und geben ihren Geist kund! – Man könnte auch sagen: Er nimmt die Worte, und je lieber, wenn sie selbst schon recht poetisch sind, und wirft sie nochmals in das fruchtbare Land, in den Mutterboden der Poesie, und nun keimen sie hervor – nicht mehr als bloße Worte, sondern als Musik! Aber das muß ich auch in solchem Werke fühlen, sonst ist's überhaupt aus mit dem Gefühl! Wehe den Worten, denen nur so ein musikalisches Kleidchen vom Musikschneider anprobiert wird, bis es der Mode nach paßt; und dann kommt wieder ein anderer Schneider und macht ihm wieder ein anderes Kleidchen, und immer ist es nur ein Kleid und nie aus den Worten herausgewachsen! Mendelssohn aber hat hier wirklich einen alten unscheinbaren Silberbarren aus der Bundeslade Israels hervorgeholt, und dann nahm er den Stimmhammer und schlug ihn so richtig und volltönend an, daß er nun klingt und erfreut und bewegt, und daß der Tempelvorhang der Zeit sich öffnet und die große Gestalt des starken Eiferers sichtbar wird, und daß wir das Volk gewahren und die regenbringende Wolke!«[165]

Und so viel denn von dem, was ich damals über das Werk schrieb! Ein anderes – ein plastisches – war ferner zu jener Zeit nach und nach fast unter meinen Augen entstanden: »Die Madonna mit dem toten Christus« von Rietschel, ein Werk, was seitdem viel gerühmt und bekannt worden ist und was zuletzt in Marmor ausgeführt in der Friedenskirche bei Potsdam eine bedeutende Aufstellung erlangt hat. Auch an ihm erfreute und erhob das Schaffen von innen heraus, das Selbstschöpferische durch innere Nötigung! An vielem Weh und manchen Schmerzen hatte das Leben dieses trefflichen Mannes lange gekrankt, und ein Bestreben, durch den Ausdruck höchsten Schmerzes in der Kunst von der Qual des eigenen Schmerzes in der Brust sich frei zu machen, lag offenbar, wenn auch halb unbewußterweise, der Entstehung solchen Werkes zugrunde. Auch fanden wir alle den Ausdruck dieser Schmerzen in der göttlichen Mutter sehr schön und bedeutend, dagegen war viel zu sagen über die Schwierigkeit moderner Plastik im Leichnam Christi. Es trat mir hier immer neu entgegen, was ich schon oft im Geiste erwogen hatte: daß nämlich die Skulptur an sich dem transzendentalen Geiste christlicher Weltanschauung nie recht angeeignet werden könne. Die Skulptur drängt mit Gewalt nach der Schönheit der Form, und die Kirche dagegen meidet diese eigentlich geradezu als der Seele verderblich und führt uns im Gegenteil zu Bildern der Entsagung und des Schmerzes; dabei ist überdies der Marmor für diejenige Art von Schönheit unempfänglich, welche in dem Glanze des zu Gott aufblickenden Auges oder dem bleichen zarten Schimmer einer der Welt abgestorbenen körperlichen Bildung erscheint; wie sollen nun also die beiden Forderungen zusammen erfüllt werden! Aus all diesem erkennt man daher wohl, daß auch an diesem Werke eine Lücke mir übrigbleiben mußte, welche selbst[166] die sonst überall so vollendete künstlerische Ausführung nicht auszufüllen imstande war.

Noch ein anderes Phänomen jener Tage endlich war ein großer Karton aus den »Nibelungen« von Schnorr, hier noch als Vervollständigung seines Zyklus in München und für München ausgeführt. Merkwürdig tüchtig in der Zeichnung, fehlte ihm doch, wie so manchen seiner Sachen, der höhere belebende Hauch geistiger innerer Notwendigkeit; ich bewunderte das Meisterhafte der Durchführung – einen tiefern nachhaltigen Eindruck wollte es mir nicht zurücklassen.

Bedenke ich nun jetzt, wie ich damals bei so viel angestrengten Arbeiten und bei den gewaltigen Erschütterungen und Schwankungen des äußern Lebens doch es erreichte, ein gewisses inneres Gleichgewicht und die Freiheit der Umsicht mir zu bewahren, welche mich fähig machten, selbst Zeiten hindurch, wo alle Existenz mehr und mehr in Frage gestellt wurde, in Kunstbetrachtungen wie die obige über Mendelssohn mich zu ergehen, so wird es mir zuweilen selbst schwer zu fassen, daß eine dieser Bestrebungen nicht der andern Eintrag tat; allein es ist gewiß, was Goethe sagt: »Ein Tag ist ein weites Gefäß, in welchem der Gesunde, Tätige gar vieles zusammenfassen kann!« Mir ging der Grund meiner Tätigkeit aus von dem, was den Mann immer am sichersten erhält; von dem Grunde eines wohlgeordneten, auf Liebe basierten Familienlebens und einem Kreise einsichtsvoller wohlwollender Freunde und Bekannten, welche öfters in meinem Hause sich begegneten. Aus dem Tieckschen Kreise namentlich wirkte noch so manches nach, und niemand mehr (wenn nicht freilich oft wieder durch Krankheit gefesselt) als Frau von Lüttichau, von deren eigentümlich feiner Auffassung auch allgemeiner politischer Verhältnisse noch ein aus jenen Tagen erhaltenes Blatt zu deutliche[167] Beweise gibt, als daß ich es nicht noch hier einschalten sollte:


»Vom 2. März 1848


Man könnte wohl wünschen, daß dieser so oft schon ausgesprochene Drang der Franzosen zur Republik endlich ihren Zweck erreichte. Ich meine, heißt das, man kann wünschen, daß der verständigere Begriff der Freiheit sich einmal wahrhaft der Wirklichkeit einverleibe, um auch diese Konvulsion der Menschheit auf die höchste Spitze zu treiben, wo dann ja allemal die Notwendigkeit wieder in einer anderen Form sich geltend macht.

Ebenso wie im Individuum der ewige Widerstreit von Freiheit und Notwendigkeit ist, wie die Energie der erstern die Individualität steigert und dennoch sie sich immer wieder an der Notwendigkeit der menschlichen Bedingung bricht, ebenso, erscheint es mir, geht dieser Kampf durch die ganze Geschichte. Immer wieder regt sich in der Menschheit die Freiheit und rennt an gegen diese eherne Naturnotwendigkeit, die das Gesetz verlangt und selbst das Gesetz ist, ohne welches keine Form auf Erden bestehen kann; und ebenso wie der Mensch unter den verschiedensten Gestaltungen seines innern Lebens in stetem Kampf und Schmerz diesen Zwiespalt in sich erfährt des Wollens und Müssens, so auch die Menschheit im ganzen. Darum haben sowohl diejenigen recht, die immer wieder die Welt aus den Fugen und Angeln rükken wollen und wieder gegen die Fessel der bedrückenden Notwendigkeit ankämpfen, als die, welche immer wieder die Bedingung als solche geltend machen und das Gesetz und die Regel als eiserne Gewalt und Notwendigkeit hinstellen. Aus den oft konvulsivischen Regungen beider Lebensmomente besteht ja am Ende der Verlauf des Lebens überhaupt.«

Doch ich kehre nun wieder zu unserm besondern Lebensgange[168] zurück und darf hier nur sagen, daß er im ganzen bei all diesem rastlosen Wogen der Zeit im Innern immer noch friedlich und still genug blieb.

Von meiner eigenen damaligen Stimmung zeugen noch folgende Worte:

»Es ist solch eigene Empfindung, in dem ewig wechselnden und bewegten Leben doch irgend etwas zu finden, das immer – das heißt für uns immer – mit ganz gleichem Dasein uns entgegentritt! So aber ich hier! Schon zum zwanzigsten Mal beziehe ich nun [in Pillnitz] diesen Raum – sehe zum zwanzigsten Mal aufs neue wieder über diesen schönen Wasserspiegel und über diese weiten sanft ansteigenden Flächen und setze mich zum zwanzigsten Mal immer wieder an dasselbe alte knarrende Pult! Und was hat sich auch mir in dieser Zeit nach und nach alles erschlossen! – Gedenkt man des Schlimmen, das man erfahren, so freue man sich, wenn es immer mehr und mehr in der Erinnerung abblaßt, und was das Gute betrifft, so möge man immer nur darauf halten, das zu tun, was im zweiten Teil des ›Faust‹ steht:


Empfangt mit Andacht sterngegönnte Stunden!«


Im August zogen wir endlich wieder zur Stadt, während die politische Atmosphäre sich dunkler und dunkler mit Gewitterwolken umlagerte, und schon im folgenden Monat schlugen dann die Blitze ein, indem in Frankfurt der Straßenkampf und Mord des Fürsten Lichnowsky erfolgte, dem wenig später im Anfang Oktober die Berichte von den Greuelszenen in Wien und dem Morde des Ministers Latour sich anschlossen. Man lebte sonach in Wahrheit fast wie im Feldlager. Im Norden entbrannte der Krieg zwischen Deutschen und Dänen immer blutiger, der fränkische Vulkan siedete auch über von schäumender Lava, kurz, jeder Tag brachte Neues und selten Gutes; und doch –[169] so ist der Mensch! Dabei ging das gewöhnliche Leben ziemlich seinen alten ununterbrochenen Gang fort, man arbeitete, sah zuweilen ein Stück im Theater, hörte etwas Musik, sah Kunstausstellungen und war dankbar für jeden dieser diesmal besonders schönen Herbsttage und für jede glückliche, edelem geistigem Verkehr gewidmete Stunde! So brachte zum Beispiel das Schauspiel, damals unter Leitung von Eduard Devrient (dem Verfasser der »Geschichte des deutschen Theaters«), eine interessante Vorstellung von Shakespeares »König Johann«, in welcher die Bayer als Konstanze und Emil Devrient als Faulconbridge große Lorbeeren ernteten; und was Kunstausstellungen betraf, so kam uns namentlich ein merkwürdiges, in Italien entstandenes, für England bestelltes Bild zu Gesicht: »Der Tod der Rahel« von Metz, einem jungen uns befreundeten Künstler, welcher seine ersten Studien als Bildhauer unter Rietschels Leitung gemacht hatte und jetzt eben als Maler von Rom zurückgekehrt war.

Ebenso war die Devrient zu dieser Zeit wieder hier, nachdem sie lange in Berlin verweilt hatte, wo Begas jenes außerordentliche Porträt von ihr vollendete, welches im nächsten Jahre auch in Dresden zur Ausstellung kam und im wahren Sinne des Wortes ein Lebensbild genannt werden durfte; und wieder hörten wir öfters gewisse Schubertsche Lieder, die nur aus ihrem Munde mit diesem vollen geistigen Verständnis in die Seelen der Hörenden eindrangen. Rechne ich nun noch hinzu, daß kurz vorher auch jener höchst merkwürdige dritte Band Eckermannscher »Gespräche mit Goethe« erschienen und hierdurch wie durch die endlich zutage kommenden »Briefe Goethes an Frau von Stein« die große Individualität dieses Außerordentlichen uns auf einmal wieder näher herangerückt war, so begreift man zur Genüge, daß es an Elementen nicht fehlte, um für vieles Schwierige und Harte, wie es[170] die Lage öffentlicher Verhältnisse herbeiführte, von seiten der Poesie und Kunst ein durchaus erfrischendes Gegengewicht zu gewähren.

Kam es doch auch zu der äußerlich jetzt noch erhaltenen Ruhe, daß mein Verhältnis zu den früher erwähnten neu hier einziehenden Literatenelementen damals noch ein ganz erfreuliches blieb und mir vorderhand keine weitern Störungen herbeiführte, obwohl ich beiläufig doch erkannte, daß auch hier ein völliges Einverständnis nicht leicht zu erzielen sein werde, da diese und meine Richtungen im Grunde doch gar zu verschiedene blieben. Am nächsten stand uns noch der früher schon genannte Dr. Gutzkow, als der wohl bei weitem Begabteste unserer neuern Poeten, und wir sahen ihn mehreremal bei uns. Von meinen Büchern schien ihm hauptsächlich die »Mnemosyne« einen tiefen Eindruck gemacht zu haben, über welche er mir einst ein Gedicht zusendete, welches er, wie er mir sagte, bald nach deren Erscheinen eines Abends eigen bewegt niedergeschrieben hatte. Ich erlaube mir dasselbe hier mitzuteilen, keineswegs als ob ich das darin gespendete Lob für überall verdient ansähe, sondern mehr als Beitrag zur Geschichte der verschiedenen Phasen jenes Dichters selbst, der nach manchen Richtungen bedeutend genug auf seine Zeit gewirkt hat.


An Carus beim Lesen seiner »Mnemosyne«

Bei allen Blumen, allen schönen Farben,

Im Meer der Töne, auf dem festen Lande

Des Wissens – wo wohl oft die Sinne darben –,

Allüberall schufst du dir holde Bande.


Wer gab dir nur, daß deinem Ohr die Sphären

Des ganzen Alls so voll entgegenrauschen?

So viele Dinge ihre Kelche kehren

Nach deines Denkerauges lichtem Lauschen?
[171]

Der Musen Zahl, der ungeteilten, ganzen,

Hast du dich angelobt! Nicht einer, allen!

Wie dicht der Reigen, den sie vor dir tanzen

Auf einer Flur, in eines Tempels Hallen!


Ist es vielleicht, weil du bei jedem Wirken,

Kommt es vom Wort, vom Pinsel, von der Kehle,

Aus irdischen, aus himmlischen Bezirken,

Nur auf das Eine horchst: die innere Seele?


Und einer einz'gen Seele einzig Flammen

Ist freilich dann der ganze Brand des Lebens,

Und Töne, Farben, Worte allzusammen.

Ein Pulsschlag sind sie nur des Weltall-Webens.


Die Dinge? Ding ist, was wir davon denken.

Die Welt? Ich nenne Welt des Geistes Walten.

Die Sonne? Was wir für die Sonne halten,

Sind Lichter, die auf unsern Sinn sich senken.


Sinn, Sonne, Welt und waltender Gedanke

Muß all in Eins und eins in Alles schweifen:

Im Schaffen kennt die Gottheit keine Schranke,

Des Menschen Geist kennt keine im Begreifen.


Da mein' ich, kommen dir aus Weit und Breite

Zahllos nun Strahlen, die zum Zünden taugen,

Sprich nur den Staunenden: Ihr guten Leute,

Was kann ich denn für meine beiden Augen!


Geschrieben Dresden, 21. Februar 1848, abends

Karl Gutzkow

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 156-172.
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