III.

[172] Und so rückten wir denn unter all dergleichen immer tiefer in den Herbst dieses inhaltschweren Jahres herein! Noch der letzte November, der Geburtstagsabend meiner geliebten Mariane, vereinigte uns am Teetisch mit mehrern Freundinnen, und ich las ihnen wieder einmal jenes kleine Wunderwerk – die Goethesche »Novelle« – vor, dies Werk, bei welchem man nie darüber ganz ins reine kommt, ob die Sinnigkeit und Feinheit des Inhalts oder die Vollendung der Form eine größere Bewunderung verdient, worauf wir dann noch zu langen Gesprächen kamen über jenen mächtigen Geist überhaupt, der – ein anderer Montblanc – in der Mitte des deutschen Volks immer höher gesehen werden wird, je weiter entfernt im Fortrücken der Zeit der Standpunkt ist, von welchem wir ihn erblicken.

Nachdem es mir nun endlich im Schlußmonat des Jahres noch gelungen war, auch ein mit eigentümlich merkwürdig nervösen Symptomen begleitetes typhöses Fieber, von welchem um diese Zeit der junge Sohn von Frau von Lüttichau befallen wurde, zu glücklichem Ende zu führen, traten wir jetzt wirklich ein in das Jahr 1849, in welchem die Schwärze des politischen Horizonts nicht nur immer noch ungelichtet blieb, sondern die elektrischen Entladungen, welche durch Feuer und Schwert so viel in diesem Jahre bei uns vernichten sollten, sich von feinen Nerven schon im voraus empfinden ließen.

Und so boten sich denn damals nach allen Seiten poetische und wissenschaftliche Interessen dar, fast als wollten sie uns dadurch von so vielem andern politischen Wirrsal gänzlich ablenken! Ja, als ob es auch hieran noch nicht genug sei, schien zur Erhöhung des Kontrastes das Vorwalten eines warmen sonnigen Frühlingswetters gerade diesmal[173] einen recht blütenreichen und schönen Mai versprechen zu wollen; was denn allerdings im Naturleben großenteils in Erfüllung ging, während freilich übrigens die Stürme des Staatslebens, die nun gerade in diesem Monat über uns einbrechen sollten, um desto gewaltsamer heranzogen.

Bevor ich jedoch es zu schildern unternehme, inwieweit diese blutigen Ereignisse uns selbst berührten, will ich noch einige ruhige Reflexionen mitteilen, wie deren manche damals, und zwar meist als Folge tiefgehender Gespräche in Brieffragmenten, teils von mir, teils von Frau von Lüttichau sich aufbewahrt finden, so aber vielleicht am besten dazu dienen, zu zeigen, wie eigen damals fast die ganze gebildete Welt sich in ruhigen Stunden mit jenen äußerlichen Wirren beschäftigte.

So schrieb ich in einem Briefe vom Monat Januar: »Gewiß, wir leben in einer merkwürdigen Epoche! Im einzelnen scheint oft nur das Seltsamste und Verkehrteste sich zu begeben, und im ganzen ahne ich doch einen eigenen neuen und großen Umschwung der Menschheit! So etwa erscheint eine auf dem Papier gezogene gerade Linie unter einem starken Mikroskop gesehen allerdings nur als höckerige unordentliche Anhäufung von Tintenflecken, während in Wahrheit sie doch an sich wirklich vollkommen geeignet bleibt, zwei entfernte Punkte auf die einfachste Weise zu verbinden.«

Und so schrieb jene geistvolle Frau im Monat Februar: »Das ist in dieser trostlosen Zeit nicht zu leugnen, daß doch manches Unwesentliche von dem Menschen abfällt, was an sich nur leerer Schein war: und das gilt nicht nur von konventionellen Vorrechten des äußern Lebens, sondern auch ganz besonders des innern. Alle Autoritäten sinken so, daß das, was überhaupt nur eine halbe Geltung hatte, ganz zu Boden fällt. Unsere halbe Bildung ließ[174] sonst immer noch so viel Gemachtes zu, so viel falsche Koryphäen, so viel Schein, nach welchem gestrebt wurde: literarische Trugbilder, die verehrt wurden – dies alles sinkt vor der großen nackten Wahrheit unserer Gegenwart zu Boden, und gerade daß sie noch so nackt ist, daß die Seele all ihren falschen Putz abwirft und sich nicht entblödet, in ihrer ganzen Häßlichkeit zu erscheinen – gerade das ruft vielleicht den Ernst wieder hervor, der allem Schönen und Echten beiwohnen soll, und schlägt jenen Schein tot, der nur zu leicht da hereinschleicht, wo nur der Buchstabe des konventionellen Rechts gilt.«

Ferner etwas später: »Wir sprachen heute davon, ob vielleicht Gagern der erste deutsche Politiker sein würde. Und ein Freund meinte: Der Politiker wächst nur aus dem Staat heraus, es gibt keinen Fox, keinen Pitt ohne einen fertigen Staatskörper, den er lenken kann, wie keinen Admiral ohne Flotte. Wir dagegen sind freilich erst im Bauen des Schiffs begriffen! Aber alle organische Entwicklung geht langsam, und daher ist wohl auch für die nächste Zukunft an keine Verwirklichung solcher Idee der Einheit Deutschlands zu denken. Der Gedanke dieser stieg ja zuerst auf nach dem Druck der Franzosen: vorher ist alles Partikularismus in der Geschichte! Nun hat sie unbewußt sich fort- und herausgebildet, tritt schon mit mehr Macht auf und sucht sich zu gestalten, aber noch hat sie lange nicht die Zeit durchlaufen, die zu ihrer vollen Erscheinung erforderlich ist: vielleicht gehört auch hierzu erst wieder ein neuer ungeheuerer Druck! Ebenso lag ja in dem Begriff jener Heiligen Allianz, wie er im Jahre 1813 aufging, allerdings schon der erste Keim zur Verwirklichung eines Völkerbündnisses, wie es vielleicht nur dem spätesten Zeitalter erst vorbehalten bleibt.« –

Doch ich gehe jetzt im Lebensgeschichtlichen weiter!

Gegen Ende April hatte die Regierung durch das Ministerium[175] Held die immer mehr fordernde Ständeversammlung aufgelöst, und als nun von allen Seiten Sturmpetitionen kamen, daß die in Frankfurt fertig gewordene deutsche Reichsverfassung angenommen werden müsse, ergaben sich auch im Ministerium selbst verschiedene Ansichten; der Vorsitzende desselben schied aus, und der König stand jetzt mit den drei Ministern Zschinsky, von Beust und Rabenhorst all diesem Andrängen allein gegenüber. Die Stadt gewann dabei mehr und mehr ein revolutionäres Ansehen, die niedrigsten Klassen drängten sich ungestüm hervor, Equipagen durften kaum mehr in den Straßen sich zeigen. Donnerstag, den 3. Mai, fuhr ich vormittags noch zum letztenmal zu einigen Kranken, und nachmittags schon floß das erste Blut beim Angriff des Volks auf das Zeughaus, wo ein Kartätschenschuß gegen zwanzig Aufständische verwundet oder tot niederschmetterte. Bei alledem waren nun meine beiden Söhne als Kommunalgardisten mit ihrem gesamten Korps in der verfänglichsten Lage. Man hatte die Truppe auf den Markt beordert, um dort selbst gegen den Willen des Königs die Reichsverfassung zu beschwören, und obwohl bei weitem die meisten, und sie mit diesen, sich nach und nach von dem Wachtdienste zurückzogen, um nicht zu extremen Schritten gedrängt zu werden, so kann man doch denken, in welcher Lage und Stimmung die Meinigen sein mußten, wenn sie überlegten, wohin zuletzt dies alles gar wohl führen könne. Es war aber an diesem Tage zwischen 5 und 6 Uhr, als ich, gedrängt von Sorge, wagen wollte, noch einmal aufs Schloß zu gelangen, um mich persönlich von dem Befinden der höchsten Personen zu überzeugen. Auf dem gewöhnlichen Wege durch die Stadt dahin zu kommen, war längst unmöglich geworden, denn durch die Straßen wogten überall aufgeregte Volkshaufen; die Leichen der auf dem Zeughofe Gefallenen hatte man auf[176] Schubkarren vor das Rathaus gefahren, wo noch der größte Teil der Kommunalgarde mit den Turnerkompanien aufgestellt stand und die heftigsten Reden gehalten wurden; die Schloßgasse aber namentlich erfüllte schreiendes, oft schon nach den Fenstern des Schlosses werfendes Volk, und nochmals befanden sich Deputationen beim Könige, ihn auf alle Weise bestimmen wollend, diesen sogenannten Volkswillen durch Anerkennung jener Reichsverfassung zu befriedigen, durch welche dann eben vollends alles recht eigentlich erst außer Verfassung und Fassung gebracht worden wäre.

Nur durch weite Umwege, über Promenaden und vom Zwinger her, konnte ich sonach die an das Schloß stoßende und mit diesem damals durch Tür und Treppe verbundene Hofapotheke erreichen, und nur auf diesem Gange gelangte ich endlich in das Vorzimmer der Königin, welche bereits (da das Schloß schon förmlich in Belagerungszustand gesetzt war) mit ihrem Gemahl in die innersten nach dem Schloßhofe gekehrten Zimmer sich zurückgezogen hatte.

Man konnte wohl ahnen, daß der nächste Augenblick die ernstesten Entscheidungen bringen mußte, und so hatte ich nur eben Zeit, meinen schleunigen Rückzug zu nehmen, denn schon wurden alle Zugänge fest verschlossen, und als ich endlich auf dem gleichen Wege mich nach Hause wendete, sah ich schon an der Wilsdruffer [Straße], an der Breiten Gasse und auf mehrern andern das Pflaster aufreißen und mit Fässern und Kisten, welche zum Teil mit Pflastersteinen gefüllt wurden, den Barrikadenbau eifrig fortsetzen. Ebenso wurden jetzt die hölzernen Decken der Schleusen inmitten der Straßen aufgeworfen, um die Wege dadurch für Geschütz und Kavallerie unzugänglich zu machen, kurz, das Antlitz des Kriegs trat mit eins aus der frühern Ruhe der friedlichen Stadt scharf hervor.[177]

Am andern Morgen durchflog die Kunde die Stadt, der König sei fort, und mit ihr zugleich erschienen die Maueranschläge, auf denen Todt, Tzschirner und Heubner als Glieder einer provisorischen Regierung sich verkündigten.

Die Lage der Dinge war nun hier so, daß Neustadt, Schloß und Zeughaus nebst Brühlscher Terrasse, Zwinger und Packhof, im Besitz der königlichen Truppen waren, während ganz Altstadt Dresden von den Aufständischen besetzt gehalten wurde, die ihre Zentralbehörde, die sogenannte provisorische Regierung, auf dem Altstädter Rathause aufgeschlagen hatten. Die meisten unserer Truppen befanden sich übrigens im Felde, und ob die von Preußen begehrte Hilfe rechtzeitig eintreffen werde, war damals noch nicht bestimmt vorherzusehen. Bei alledem verging der Tag noch ziemlich ruhig, nur Proklamationen wurden angeschlagen, die Barrikaden vollendet und besetzt und alles somit mehr und mehr zum energischen Kampf bereitet.

Der entferntern und abgelegenern Lage meines Hauses hatten wir es zu danken, daß wir selbst an diesen wie an den folgenden Gefechtstagen völlig ungestört blieben. Das wunderschöne Maienwetter gewährte eine stille Existenz in unserm Garten, selbst dann, als späterhin Tag und Nacht die Glocken stürmten und Gewehrfeuer und Kanonendonner aus der Stadt fast unausgesetzt herübertönte, und so war jedenfalls für uns und unsere Nachbarn noch immer genug von Glück zu sagen! Freilich im Innern war wenig Ruhe. Meine Söhne hatten alle Ursache, sich verborgen zu halten, da bald schon die säumigen Kommunalgardisten aufgefordert wurden, sich zum Banner der Freischaren zu stellen, und was wäre später aus ihnen und aus uns allen geworden, wenn der Aufstand gesiegt hätte?[178]

Am Sonnabend (5. Mai) ergriffen die königlichen Truppen unter dem Oberbefehl des Generalleutnants von Schirnding die Offensive, indem sie begannen, vom Zeughause zur Terrasse und Brücke und vom Schloß gegen den Zwinger hin sich Terrain zu schaffen und die Aufständischen zurückzuschlagen, welche ihrerseits durch Feueranlegung und Versuche zum Unterminieren des Schlosses (was indes alles fehlschlug) ihre Zwecke zu fördern strebten. Das Sturmläuten, welches Zuzüge für den Aufstand aus der Umgebung herbeirufen sollte, dauerte nun schon fast den ganzen Tag und machte den widerwärtigsten Eindruck, aber auch die königlichen Truppen erhielten gegen Abend Verstärkung, indem ein Teil des königlich-preußischen Alexander-Grenadierregiments mit der Eisenbahn ankam, wovon uns die Familie des Grafen Voß aus Preußen (sie wohnte im Hause neben dem Hause von Herrn von Lüttichau auf der uns nächsten Straße und hatte gerade durch schwere Krankheiten der Kinder mir viel Beschäftigung gegeben) sofort in Kenntnis setzte und dadurch die Hoffnung auf Überwältigung des Aufruhrs nicht wenig steigerte.

Eigene Gefühle gab nun die hereinbrechende Nacht. Im Garten alles so still und blütenduftend – der bald volle Mond, durch leichte Gewölke gemäßigt, verbreitete unsichere Dämmerung ringsumher; ich sah wohl noch spätes Licht in gegenüberliegenden Fenstern wie in ruhigen Zeiten, am frühen Morgen jedoch erfuhren wir, daß die Familie von Lüttichau bereits die Stadt verlassen habe, um im Notfall nach dem Gute Ulbersdorf in den Bergen der Sächsischen Schweiz sich zu wenden. Plötzlich dann fielen wieder Schüsse in der Stadt und begann wieder das Stürmen der großen Glocken vom Kreuzturme. Alles gab den unheimlichsten Eindruck.

Der Sonntagsmorgen (6. Mai) ging auf mit einem trüben[179] bedeckten Himmel, leichter Regen fiel, und fallende Schüsse wie fortgesetztes Stürmen zeigten uns bald, daß an keine Sonntagsstille und Sonntagsfeier gedacht werden dürfe. Auf einmal gewahrte man von den Dachfenstern meines Hauses hochaufsteigende Rauchwolken, ein großer Brand schien angelegt, und bald hörten wir, das alte Opernhaus stehe in Flammen, jenes Haus, welches einst zu den großen Aufführungen am Hofe Augusts des Starken gedient hatte und worin wir selbst noch eine lange Reihe von Jahren hindurch die größten Werke der größten Komponisten gehört hatten; und dieses Haus, welches man jedesmal mit dem Gedanken an Feuersgefahr betrat (seiner vielen alten Holzgerüste und bemalten Leinwanddekorationen wegen), es ging also nun wirklich, und zwar in Zeit weniger Minuten, ganz in Feuer auf!

Noch einmal wagte ich es, in der Mittagsstunde auszugehen und ein paar in unserer Vorstadt wohnende Kranke zu besuchen, was ich denn auch unbelästigt erreichte, obwohl beim Zuhausegehen einem ganzen Zuge Aufständischer begegnend, welche wahrscheinlich aus der Umgegend von Pirna angekommen waren und mit ihrem berittenen Anführer und einem Tambour an der Spitze eben den Weg an der Bürgerwiese hereinzogen.

Ich hatte wohl meine Betrachtung über diese Männer! – Einfache harmlose Leute, wahrscheinlich Handwerker und kleine Kaufleute oder Fabrikanten aus kleinen Orten, die nun ihr böses Geschick mit da in diese aufgeregte Stadt hineintrieb, wo sie vielleicht zum Teil kläglich mit umgekommen sind! – Es ist sonderbar, wenn solch ein Trieb in einen Teil der Menschheit gelangt, was da für eine Menge Opfer fallen müssen, die an und für sich gewöhnlich gar kein besonderes Interesse an der tiefern Idee haben konnten, von welcher zuletzt auch jener Trieb nur eine beiläufige Folge ist! – Jedes Jahrhundert hat Beispiele[180] in Menge zu diesem Satze geliefert, so aber nahe vor Augen getreten wie beim Anblick jener Zuzügler waren sie mir indes noch niemals.

Um Mittag sahen wir dann von meinem immer wie im tiefsten Frieden blühenden Garten aus mit dem Fernrohre auch die Laterne über der Kuppel der Frauenkirche von unsern Schützen besetzt, welche ein anhaltendes Feuer unterhielten, um den Neumarkt von Aufständischen zu säubern, und wenig später hörten wir schon die Kleingewehr- und Kanonensalven, welche den Sturm auf die großen Gasthöfe Stadt Rom und Hôtel de Saxe begleiteten, die denn auch sofort von unsern und den preußischen Truppen genommen wurden; kurz, der Sieg der letztern würde immer mehr und mehr gewiß.

Auch die folgende trübe Nacht ging indes, oft gestört von Schießen und Sturmläuten, vorüber, am Montag vormittag (7. Mai) bei wieder schönem Sonnenschein versuchte ich zum letztenmal durch eine kleine Gasse der Nachbarschaft eine Familie, in welcher ich einen Kranken hatte, zu erreichen, die Flinten- und Büchsenschüsse knallten jedoch von den Häusern am Seetore her so scharf, daß ich mich genötigt fand umzukehren und nun, da eben sonst durchaus nichts vorzunehmen war, den Tag damit verbrachte, große Portefeuilles mit Kupferstichen durchzusehen und zu ordnen, die schon seit Jahren auf ausführliche Sichtung gewartet hatten. Ist man doch in seltsamer und eigentümlicher Stimmung in solcher Zeit! Die Hände sind uns zum Handeln gebunden; wir fühlen uns von allen Seiten eingeengt und gegen das Äußere ohnmächtig, für stilles tieferes Wirken im Innern fehlt aber ebenfalls jegliche Sammlung und Ruhe; so bleiben denn gewöhnlich zuletzt ganz einfache gleichgültige Beschäftigungen für uns die zweckmäßigsten, ja die allein möglichen, obwohl das gerade immerfort aufgereizte Gemüt[181] übrigens allerdings eigentlich eine ganz andere und dezidiertere Tätigkeit gebieterisch zu fordern scheint. Während ich also hier in dieser Weise still in meiner Klause Kupferstiche ordnete, hörte man nun immerfort den Lärm des vorrückenden Kampfes; man schlug sich im Innern der Stadt zwischen Neumarkt und Altmarkt. Von Haus zu Haus durchbrachen die Truppen die Mauern, um den Barrikaden in den Rücken zu kommen, und doch gelangte man mit alledem auch an diesem Tage noch zu keiner Entscheidung. Das nicht weit von uns gelegene Waisenhaus hatten übrigens die Aufständischen zu einem Magazin, zur Feldküche und zum Verbandplatz für Verwundete in der Eile eingerichtet, und wir sendeten einigemal Wein und Lebensmittel hin, um wenigstens hier in der Nähe alles in gutem Gleise zu erhalten, und wenn wir dabei selbst doch auch nicht Mangel litten und Tag für Tag ein einfaches gutes Familienmahl zusammen in Ruhe halten konnten, so kam mir meine gute treffliche Frau oft vor wie die Elisabeth im »Götz«, die auch noch in der belagerten Burg die nötige Stärkung der geliebten Ihrigen in reichlichem Maße unausgesetzt zu beschaffen weiß.

Am nächsten Tage (Dienstag, 8. Mai) hellte nach einer regnigten Nacht das Wetter sich auf, und mit dem klarsten Himmel stieg auch die Hoffnung, den Kampf bald beendet und die Ruhe wiederhergestellt zu sehen. Noch einmal hatte die provisorische Regierung eine Proklamation erlassen, worin sie alles zu den Waffen rief und die Kommunalgarden heftig bedrohte, welche dem Streit sich entzögen, in der Stille aber trafen ihre Mitglieder doch schon Maßregeln, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Der Anführer der ins Gefecht gefolgten Bürgerwehr, Heinze, ließ sich, wie es schien, absichtlich gefangennehmen, und Todt entfloh unter dem Vorwande,[182] bei dem Frankfurter Parlament Hilfstruppen zu erbitten. Dagegen erhielten die königlichen Truppen jetzt selbst noch mehr Verstärkung durch neue Zuzüge aus Preußen und rückten auch im Häuserkampfe von links und rechts dergestalt in der Stadt vor, daß die vollendete Umzingelung des Aufstandes demnächst erwartet werden mußte.

Endlich war denn auch die letzte dieser durch innere Aufregung, Sturmläuten, und Schießen uns so unheimlich gewordenen Nächte überstanden, und der frühe Morgen (Mittwoch, 9. Mai) brachte die letzten entscheidenden Angriffe der Truppen und die volle Flucht der Rebellen. Man erfuhr später, daß die Hauptanführer der letztern schon früh um drei Uhr geflüchtet waren, gefolgt von den am meisten geordneten Scharen; der Rest fuhr jedoch immer noch fort, sich zu verteidigen, steckte an der Zwingerstraße noch ein paar Häuser in Brand, und so konnten wir denn erst von der vollkommenen Überwältigung des Aufstandes gegen zehn Uhr vormittags dadurch Kenntnis erhalten, daß das Stürmen und Schießen aufhörte und wir vom Dachgeschoß aus gewahr wurden, wie man auf der Galerie des Kreuzturms große weiße Fahnen aussteckte, ein Signal, das sich nun bald aus den Fenstern aller Häuser wiederholte und allgemeine Beschwichtigung und Ruhe verkündete.

Ich ging gegen Mittag aus, um einige Freunde der Nachbarschaft zu sehen und nach den nächsten Kranken zu fragen – und wie verändert sah nun bei dem immer hellen sonnigen Maienwetter die Physiognomie dieser Örtlichkeit aus!

Auf dem Platze am sogenannten Jüdenteiche hatte sich bereits eine Abteilung preußischer Truppen gelagert, deinen schnell aus den Häusern der Nachbarschaft eine Tonne Bier und allerhand sonstige Lebensmittel herbeigeschafft[183] waren, aus der Langengasse hervor kam ein anderer Zug, mit gefälltem Gewehr noch ganz schlagfertig, aber kein Feind war mehr zu sehen – dabei das Wehen der weißen Tücher und Fahnen aus vielen Fenstern; es machte alles einen ganz malerischen Eindruck.

Aber wie sah es im Innern der Stadt aus! – Ich kam erst nachmittags dazu, einen Teil davon zu durchstreichen. Es war wieder ein ganz anderes Bild als das Leipzigs nach der großen Völkerschlacht! Freilich war der hiesige Kampf mit seinen etwa 285 Gebliebenen, von denen auf die Insurgenten allein gegen 250 kamen, ein Kinderspiel gegen jene furchtbare Schlacht, als deren Resultat nur allein an 30000 Blessierte und Kranke in die Leipziger Spitäler und Kirchen und Böden geschafft wurden, und doch, trotzdem war im Innern der Stadt dort die Physiognomie weit weniger verändert als hier, wo Barrikaden, Brandstätten, zerschossene Häuser, aufgedeckte Schleusen und unzählige zerstörte und zersprungene Fenster ein völlig verändertes Ansehen gewähren mußten.

Erst Donnerstag (10. Mai), nach einer endlich einmal wieder ruhig, ohne Sturmläuten und Schießen vergangenen Nacht, kehrte allmählich alles in die alte Ordnung zurück, die Menschen fingen wieder an sich zu besinnen und ihren innerlichsten Meinungen Worte zu geben, und so sehr das an sich wohltuend und erwünscht war, so konnte es doch nicht fehlen, daß man nun freilich auch wieder von der Seite einer übermäßig hervortretenden rohen Reaktion oft Dinge mit anzuhören bekam, die nicht minder widrig und verletzend genannt werden mußten, als kurz vorher noch das, was man von der verworfensten Gemeinheit des Sansculottismus zu dulden gehabt hatte.

Schien doch dies Jahr dazu bestimmt, daß wir nicht nur einen Vorgeschmack des Kriegs, sondern endlich auch[184] einen von pestartigen, so oft dem Kriege folgenden Krankheiten – der Cholera nämlich – erhalten sollten! In Polen, Preußen, Bayern herrschte ja dieses Elend schon seit einiger Zeit wieder heftig genug, von Quarantänen war keine Rede mehr und hätte auch unter diesen politischen Verhältnissen nicht die Rede sein können, nichtsdestoweniger aber blieb anfänglich, selbst bei starkem Fremdendurchzuge, unsere Stadt völlig frei, und von Möglichkeit einer Ansteckung hatte man damals überhaupt alle Gedanken aufgegeben. Da mit einemmal ergaben sich in mehrern Gasthöfen verdächtige Erkrankungen, welche von einigen Ärzten für die wahre asiatische Cholera erklärt wurden, während andere dies hartnäckig leugneten und die Krankheit nur als sporadische Cholera benannt und behandelt wissen wollten. So viel war sogleich klar, daß die meisten Fälle tödlich endeten und daß die Ärzte, die in der Nähe jener Hotels wohnten, besonders viel in Anspruch genommen wurden, indem auch eben in deren nächstem Umkreise das Übel sich am meisten verbreitete. Eines Tages nun, gerade als mittags nach bedeutender Hitze sich ein starkes Gewitter über unsere Stadt entlud, wurde ich mitten in meinen Kursen plötzlich zu einem der letzterwähnten Ärzte gerufen – einem jungen Manne, dem Medizinalrat Baumgarten, der früher einmal bei mir famuliert hatte und jetzt einer bedeutenden selbständigen Praxis sich erfreute. Schon der Anblick und die ersten Worte, die wir wechselten, bewiesen, daß der arme heftig Leidende bereits dem letzten Stadium der Cholera sich näherte. Alles Anordnen war vergeblich – schon zwei Stunden später war er eine Leiche. – Ich gestehe, daß, trotzdem daß man nach fast vierzigjähriger ärztlicher Tätigkeit von Apprehensionen gewöhnlich nichts mehr weiß, dieses erste Zusammentreffen mit jenem unheimlichen Gespenst mir doch einen innern kleinen Schauder[185] erregt hatte; indes, damit war es auch vorrüber! – Nur ein paar Tage später wurde ich nachts durch einen jüngeren Kollegen zu einer alten Dame, einer Fürstin Hohenlohe, in eben einst der obengedachten Hotels zur Konsultation abgeholt, und nun stand der Fall schon ganz auf dem Niveau der übrigen. Diese letztere Kranke kam indes durch, und ich hatte in der damaligen kleinen Epidemie, welche nur wenig über 30 Tote lieferte, keine weitere Kranke dieser Art zu behandeln, obwohl ich noch mehrere solcher Fälle in unsern Krankenhäusern mehrfach zu beobachten Gelegenheit nahm. – Bemerken will ich indes doch, daß auf unsern Antrag im Ministerium das gewöhnliche große, in den Anfang des Augustmonats fallende Volksfest der Dresdener, die sogenannte Vogelwiese, für diesen Sommer untersagt wurde, und ich bin überzeugt, daß diese Vorsicht jedenfalls wesentlich beigetragen hat, die Epidemie in jenem Jahre in so engen Grenzen zu halten.

Am 4. August zogen wir nach Pillnitz, wo die königliche Familie abermals wie sonst, nur unter etwas stärkern Wachtposten, ihr Hoflager eingenommen hatte. Wir waren diesmal zwiefach erfreut, die jetzt um so mehr unheimliche Atmosphäre der Stadt zu verlassen und wieder in der Nähe der Familie von Lüttichau die gleiche schöne Landluft zu atmen. Ich trat mit eigenen Empfindungen abends in mein stilles Zimmer im Schlosse, und als ich in meinem Gedenkbuche die letzten dort niedergeschriebenen Worte vom vorigen Jahre aufschlug und las, fügte ich alsbald noch hinzu:

»Welch ungeheuerer Stoff hätte sich doch einem Gedenkbuche dargeboten zwischen den vorjährigen Zeiten und diesen! Wirklich, hier wäre viel zwischen den Zeilen zu lesen gewesen! War doch diesmal wieder auf andere Weise Sein und Nichtsein in Frage gestellt! Wie es indes Erfahrungen[186] gibt so eigentümlich schöner und feiner Art, daß man Zug um Zug sie überall festhalten möchte im Buche des Lebens, so gibt es auch wieder andere, so gewaltsamer und roh schneidender Art, daß wir froh sind, wenn erst das Fazit gezogen und nun das ganze Exempel verwischt ist. Gewiß, die Ereignisse dieses Frühjahrs, sie gehörten zu letzterer Art, und wie graue Gespenster zog jetzt die Erinnerung dieser Tage schattenhaft zum Orkus hinab.«

Was nun meine damaligen wissenschaftlichen Arbeiten betraf, so war in diesem Frühjahr, und zwar noch ehe unsere Dresdener Kalamitäten begannen, die wichtigste derselben, die Herausgabe auch des zweiten Teils der neuen Auflage der »Physiologie«, richtig beschlossen worden, und so hatte ich den Wunsch, den wohl die meisten Autoren haben mögen, jeder Lieblingsarbeit nach längerer Zeit noch einmal eine zweite Überarbeitung gewähren zu können, doch auch bei diesem Werke, wie früher bei meiner »Gynäkologie« und »Zootomie«, zur Erfüllung gebracht.

Das erste Glück ist es, wenn überhaupt das Anschauen der Idee im eigenen Geiste sich erschließt, das zweite, daß es uns gelingt, diese Anschauungen in kunstgerechter Form der Welt darzustellen, und das dritte, daß wir den ausgeworfenen Samen sich beklaiben, zur Pflanze aufschießend und als reine und verwandte Bildung uns neu entgegenleuchtend gewahr werden. Will man dem Bildungsgange des Geistes in meinen Werken folgen, so wird man finden, wie angestrengt ich mit dem Material unserer Wissenschaft gekämpft habe, wie fest ich das Konkrete überall suchte ins Auge zu fassen, bevor ich mir erlaubte, mich zum Abstrakten zu wenden. Will doch die Natur durchaus zuerst in allen Tiefen durchdrungen sein, ehe sie dem allgemeinen Überblicke sich darbietet; denn[187] keine Lücken werden auf dieser Stufenleiter geduldet, und wie der reiche selbstbewußte Geist sich überhaupt nur erschließen kann da, wo durch unbewußtes Walten zuvor die wundervolle Organisation des Leibes gereift ist, so dringt auch der höhere überschauende und vernehmende Geist der Wissenschaft erst dann mit eigentümlichem Rechte hervor, wenn durch tausendfältige Mühen und Ergebnisse des Lernens diejenige Gliederung sich in ihm entwickelt hat, in welcher nun dieser Geist wirklich zu walten und frei zu beharren imstande ist. Mögen deshalb in meinen Arbeiten auch immer noch manche Lücken und Unvollkommenheiten nachgewiesen werden können! Daß sie in jener Weise durchgängig geworden sind, was sie sind, wird ihnen im Innern einen gewissen bleibenden Wert wohl erhalten!

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 172-188.
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