III.

[149] Es ist hier nun jedenfalls auch der Ort, mich etwas ausführlicher auszusprechen über das Wesen der innern philosophischen Überzeugung, zu welcher ich in jenen Jahren hindurchgedrungen war und deren Färbung denn mehr oder weniger in allen den einzelnen wissenschaftlichen Arbeiten sich spiegelte, welche damals am meisten mich beschäftigten. Früher schon ist bemerkt worden, wie mächtig die Geister, welche mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts den Anfang einer neuen Periode der Philosophie ins Leben riefen, auch auf mich gewirkt haben. Diese Naturphilosophie, wie man sie nannte, hatte, wie meist alles Neuhervortretende, zunächst etwas Unvollendetes, Rohes, Überstürzendes und wirkte deshalb anfangs mehr[149] gewaltsam und zerstörend als erhebend und bildend. Wenn Oken in seinem philosophischen Lehrbuche Gott = Zero setze, so waren wenige, die den Ideengang, der ihm dabei vorgeschwebt hatte, wirklich zu erfassen vermochten, als bei dem es ihm doch eigentlich nur darauf ankam, das durchaus Abstrakte, ganz Gedankenhafte dessen, was ich späterhin mit dem Namen eines höchsten ewigen Mysteriums bezeichnet habe, auszudrücken. Wenn nun auch dergleichen mich keineswegs störte und keineswegs imstande war, in mir das tiefe und lebendige Gefühl gegen jenes erhabene Numen zu verdunkeln, welches so weit entfernt ist, dem Nichts anheimzufallen, daß es vielmehr als ein an sich Unbedingtes der einzige Grund von allem bedingt Seienden ist, so hatte es mir doch über mein eigenes Selbst und über das Wesen von Seele und Natur mitunter gewisse halt- und trostlose Gedanken gegeben. Es gehörte hierher zuvörderst die Überzeugung von der Unmöglichkeit aller geistigen Fortdauer nach dem Tode. Macht man die natürliche Welt nur zur umgekehrten Tapete des göttlichen Geistes und ebenso das seelische Leben nur zur negativen Seite des positiven leiblichen Daseins, so ist jene verneinende Überzeugung eine ganz unerläßliche Folge, und es versteht sich von selbst, daß zuletzt alle Existenz zu einer so resultat- und haltlosen Phantasmagorie, zu einem so zwecklosen Vielerlei wird, daß im höhern Sinne kaum mehr ein wahrhaftes Interesse daran genommen werden kann. Auch mich hatten denn Gedankenzüge dieser Art oft mannigfaltig verstimmt, ja sie hatten, nebst vielem Drückenden und Quälenden im Leben, an jener Melancholie Anteil gehabt, gegen welche zuweilen noch am meisten meine künstlerischen Produktionen durch ihre Selbstspiegelung mir einen Widerhalt gewährten. Und doch ging dieser Einfluß nie zu tief! Ein gewisses reineres Wahrheitsgefühl lenkte mich immer[150] wieder auf etwas Höheres hin, und mehr und mehr erhöhte sich und erstarkte so in mir die Fähigkeit des geistigen Schauens auf ein über den beiden bedingten großen Phänomenen der Welt, dem spirituellen und dem natürlichen, als ein durchaus Bedingendes und Höchstes schwebendes absolutes Göttliche. Denn dieses Schauen – wer empfände es nicht tief, der irgend bedeutende Erfahrungen im eigenen Geistesleben gemacht hat –, es läßt sich nicht bloß überliefern, es läßt sich auch nicht gewaltsam in der unreifen Seele aus ihr selbst erzwingen, sondern es muß erreicht werden durch ein inneres Wachsen des Geistes, durch ein Hinauforganisiertwerden, und bereits Goethe (Gespräche mit Eckermann, 2. Teil [13. Februar 1829]) hat diesen Weg trefflich bezeichnet, indem er sagt: »Der Verstand reicht nicht zu ihr hinauf, der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren.« So war denn also um die Zeit, von der ich jetzt schreibe, schon manche Schuppe gefallen, manche Blüte im Geiste erschlossen, und der Drang nach Höherm mochte schon um so manchen Schritt seinem Ziele näher gekommen sein, nur eins hielt mich damals noch in Banden, dasselbe, was so vielen Pilgern nach dem Ziele höherer Wahrheit bis auf den heutigen Tag noch Blei an die Füße legt, es war der immer noch mißverstandene Begriff der Kraft als ein besonderes Etwas, der Kraft, welche der rohere Geist so gern von dem Begriff der Materie völlig abtrennt und nur als haftend an derselben bezeichnet. Dieser Mißverstand, den ich erst weit später völlig abstreifen konnte und welchen ich eigentlich zuerst in meinem »System der Physiologie« (zweite Auflage) ganz scharf bezeichnet und widerlegt zu haben glaube, er machte mir damals noch viel zu schaffen und verdunkelte mannigfaltig meinen geistigen Blick.

»Ist nicht«, heißt es da [in Gedenkbüchern aus jener[151] Zeit], »der Mensch die Erscheinung eines Teils allgemeiner Urkraft in Zeit und Raum, welche Erscheinung nur als Entwicklungsperiode, als Metamorphose dieser Urkraft Bedürfnis war? Die Kraft will sich ausbilden, sie wird endlich, wie der Sohn Gottes Fleisch wurde, sie ist der Funke, welcher dem innern und äußern Sinne als Lebenskraft (Nerven-, Sinnen-, Beweg-, Bildungskraft usw.) erscheint und nun durch diese Kräfte aus verschiedenen irdischen Elementen den Träger dieser Kraft, den Leib erzeugt. Und so werden Leib- und Lebenskraft die endlichen Formen, unter welchen die unendliche Urkraft für kurze Zeit erscheint, die Formen, welche selbst zur Entfaltung jener Urkraft bestimmt erscheinen. Das Nervensystem ist gleich der elektrischen Figur, welche die Strahlung elektrischer Kraft bezeichnet, allein die Kraft schwindet daraus hinweg, strahlt selbst ins Unendliche zurück, die zusammengefügten Stäubchen verweht der Wind. Doch verweht auch wohl der Wind die Stäubchen, und die Strahlung der Kraft dauert noch fort. Im Nervensystem mag dies dann jedoch weniger dauern, weil hier die Figur mehr ist als bloße Figur, weil sie in lebendiger Beziehung steht mit den andern Teilen. Und ist nicht die Welt auf diese Weise überhaupt die endliche Erscheinung Gottes und doch nicht Gott selbst? Ist nicht Licht in der Welt, was Nervenleben im Menschen: die möglichst unmittelbare Erscheinung der unendlichen Urkraft? – Lebenskraft, Leib, Nervenkraft, Seele und also nur Formen der ursprünglichen Kraft, in welchen sie sich zuhöchst offenbart hat. Erschafft, belebt sie das Nervensystem, so erscheint sie als Seele, erschafft und belebt sie den Leib, so erscheint sie als Lebenskraft. Die Kraft ist ewig, ihre endliche Erscheinung ist vergänglich.«

Als frohes Lebensereignis habe ich jetzt zu gedenken, daß in diesem Jahre 1817 mir ein Sohn am 23. April, am Geburtstage[152] Shakespeares (sowie weit später mein erster Enkel am Geburtstage Goethes), geboren und der schmerzliche Verlust meines Knaben vom Jahre 1816 auf diese Weise glücklich ersetzt wurde. Mein Gemüt war von diesem Wiederfinden im tiefsten bewegt und wunderbar erweicht. Es kam noch hinzu, daß bald nachher mein älteres Kind, Charlotte, schwer erkrankte, ja daß meine geliebte Mutter ihr Krankenlager teilte und so die entgegengesetztesten Gefühle mein Inneres aufregten, während von außen die Tagesgeschäfte sich mehr und mehr häuften. Ich dankte es dann abermals namentlich der schönen Umgebung Dresdens, daß in all diesen Stürmen ich mich aufrecht hielt. Ein paar solcher Naturspiegelungen aus alten Denkbüchern hier mit aufzuführen sei daher vergönnt, um jene tiefe Gefühlsfähigkeit ganz zu verdeutlichen und die Weichheit kenntlich zu machen, welche ja ebensooft zum Glück als zur Qual dem Menschen verliehen sein kann:

»Nie werde ich diesen Abend im Blütenduft des Plauenschen Grundes vergessen, wo beim Heimwege über den am Hügel gelegenen Kirchhof das Orgelspiel aus der verschlossenen Kirche mich an die Kirchtür bannte! Um mich die Blütenbäume über Gräbern, mir zu Füßen der üppigste Rasen mit Frühlingsblumen durchwirkt, vor mir das stille Dörflein und über den Bergen die niedersteigende Sonne in voller Klarheit. In den unnennbarsten Gefühlen schwelgte ich nie so wie diesen Abend.«

»Ich machte einen Gang durch den Großen Garten, und auf den Höhen am östlichen Ende, hinter den schönen Kiefergruppen, kam mir ein Genuß an wunderbaren Farben und Formen, wie er uns nur an glücklichen Tagen zuteil wird. Es hatte vormittags etwas geregnet, und gewitterhaftes, doch feingeflocktes und köstlich gefärbtes Gewölk war an dem gedämpfen Blau des abendlichen Himmels[153] harmonisch verteilt. Der volle segensreiche Duft des ersten Juni lagerte sich um die herrlichen Formen, auf denen einzelne Sonnenblicke umherirrten, und überall glänzte die Natur in zarter Verklärung dem bewegten Auge entgegen. Selbst der Hügel, auf welchem ich stand, war mit dem üppigsten Walde eines herrlichen Grases dicht geschmückt und von der dunkelblauen Blüte der hier in ungewohnter Menge wachsenden Salvia pratensis sowie von den violetten Blüten des Symphytum, vom herrlichsten Klee, vom Ultramarinblau der Ajuga pyramidalis und anderm reizend geziert. Jeder Gedanke wurde ein Gebet und der Hügel zur geheiligten Stätte des Herrn!«

Man fragt sich wohl zuweilen, wenn man in spätern Jahren den Ausdruck solcher überschwenglichen Gefühle der Jugend überliest, ob man nun wirklich dann um so viel kälter Natur und Leben betrachte und so eigentlich im Falle sei, jene stürmische Periode zu beneiden, oder ob man doch in Wahrheit trotz einem scheinbar weniger bewegten Äußern späterhin den Kern tiefer im Innern erfasse und mit vollendetern Organen die Schönheit aufzunehmen vermöge. Goethe sagte im Alter:


Ich habe geliebet,

Nun lieb' ich erst recht!


und führt dieses Thema durch mehrere Instanzen durch, stimmt also für bejahende Entscheidung; viele andere würden durchaus verneinen, und nicht umsonst hat man ja deshalb das Alter »Laudator temporis acti« genannt. Ich habe es bereits mehrfältig ausgesprochen, man habe die verschiedenen Alter nicht bloß zu beachten als Unterscheidung verschiedener Lebensstufen eines und desselben Individuums, sondern man müsse deren Begriff auch festhalten, um wesentliche Verschiedenheiten unter den Individuen selbst danach zu klassifizieren. Es gibt Naturen,[154] denen für ihr ganzes Leben mehr der Begriff der Jugend zukommt, wie es andere gibt, die durch und durch, und von klein auf schon, das Alter repräsentieren. Den letztern, die wohl die größere Zahl ausmachen, borgt ihre wirkliche Jugend doch noch einigen Duft und eine gewisse Wärme des Gefühls, und sie vermissen diese Himmelsgaben, welche, wie die Jugendjahre selbst, schnell vorübergehen, dann gar schmerzlich und rufen aus allen Kräften, und eigentlich zu ihrer Qual, es sich immer wieder zurück, wie glücklich sie damals waren; sind sie aber in ihrem Innern so recht zum Greisenhaften berufen, so blicken sie späterhin selbst auf jene laue Wärme, von welcher sie in frühen Jahren angestrahlt worden waren, mit einer gewissen Verachtung zurück und preisen sich glücklich, daß sie nun wirklich einer unbedingten Trockenheit und Kälte genießen. Andere sind dagegen – und diesen mag ich wohl mehr verwandt sein –, die durchaus und also auch bis in höheres Alter hinauf mehr den Charakter der Jugend festhalten, darum freilich nie zum vollständigen Abschluß kommen und somit auch das Strebende der Jugend nie ganz ablegen. In diesen können dann aber wohl die frühern Jahre des Guten etwas zu viel geben, die Wärme des Gefühls schmilzt ihnen oft die Seele in übermäßige Weichheit und jenes schöne, tiefe und feurige Erglühen bei vollkommen festgehaltener Form, welches doch eigentlich der echteste und glücklichste Zustand ist und die reinste Produktivität anregt: es fällt dann meistens, ja eigentlich allein, den spätern Lebensperioden anheim.

Im Jahre 1818 war ich denn endlich so weit, daß ich meine Arbeit über vergleichende Anatomie abgeschlossen und, von Gerhard Fleischer in Druck wohl ausgestattet, vor mir liegen sah. Man kannte bisher in Deutschland nur ein einziges spärliches und unvollkommenes Handbuch[155] (das von Blumenbach) über diese Wissenschaft, und die Wirkung des meinigen war deshalb und seiner durchaus genetischen Anordnung wegen eine sehr bedeutende. Ich hatte Goethe ein Exemplar desselben gesendet als geringen Dank für unnennbare Anregung und ein großes Vorbild auch im naturwissenschaftlichen Vortrag, und wie diese Sendung den Anfangspunkt bildete einer durch vierzehn Jahre gehenden Korrespondenz und persönlichen Wechselwirkung mit diesem Gewaltigen, davon habe ich späterhin in einer besondern Schrift genauere Rechnung abgelegt; hier jedoch wenigstens einige Fragmente des ersten Briefes mitzuteilen, durch welchen der verehrte Mann diesen Verkehr eröffnete, gehört so wesentlich in die Folge dieser Blätter, daß ich einer solchen Forderung zu genügen mich durchaus nicht enthalten darf. Er schrieb unterm 23. März 1818:

»Ew. Wohlgeb. Sendung kommt mir zu einem glücklichen und bedeutenden Moment. – – – Ich nehme nun mit desto mehr Zuversicht meine alten Papiere vor, da ich sehe, daß alles, was ich in meiner stillen Forschergrotte für recht und wahr hielt, ohne mein Zutun nunmehr ans Tageslicht gelangt. Das Alter kann kein größeres Glück empfinden, als daß es sich in die Jugend hineingewachsen fühlt und mit ihr nun fortwächst. Die Jahre meines Lebens, die ich, der Naturwissenschaft ergeben, einsam zubringen mußte, weil ich mit dem Augenblick in Widerwärtigkeit stand, kommen mir nun höchlich zugute, da ich mich jetzt mit der Gegenwart in Einstimmung fühle, auf einer Altersstufe, wo man sonst nur die vergangene Zeit zu loben pflegt! – – – Unterrichten Sie mich von Zeit zu Zeit von Ihren Zuständen und Arbeiten, ich habe Pflicht und Muße, daran teilzunehmen. – – – Das Beste wünschend ergebenst Goethe.«

Dreier Persönlichkeiten habe ich jetzt noch insbesondere[156] zu gedenken, welche nach und nach in Dresden mich aufsuchten und deren jede in ihrer Weise bedeutend mich anregte: es waren Thorwaldsen, Alexander von Humboldt und Rudolphi.

Was den großen Isländer betraf, so berührte er Dresden auf einer Reise zwischen Dänemark und Italien, seiner eigentlichen Heimat, nur flüchtig, und ein Freund führte ihn bei mir ein. Er war damals noch nicht fünfzig und in der Blüte seiner vollen plastischen Gestalt, der Kopf selbst wie von dem besten Bildhauer geformt, so scharf und rein die Konturen. Ich hatte große Freude an ihm und seinem fast kindlich einfachen Wesen. Zu derselben Zeit war zufällig ein größeres Bild von mir beendigt – ein einfach, aber in breiten Dimensionen gehaltener Mondschein –, »Marius auf den Ruinen von Karthago«, das schon meinen hiesigen Freunden bedeutenden Eindruck gemacht hatte. Auch Thorwaldsen sah es und saß lange sinnend davor. Ich ahnte damals noch nicht, daß ich zehn Jahre später diesen Heros mitten unter seinen Schöpfungen in Rom und unter so viel andern Verhältnissen wiedersehen sollte! Indes, er hatte schon hier mächtig und nachhaltig auf mich gewirkt.

Wie also dieser Genius künstlerisch mich bedeutend erregte, so gab Alexander von Humboldt, dessen »Ansichten der Natur« zuerst die Wissenschaft mir in poetischer Verklärung vorgeführt hatten, meinen szientifischen Bestrebungen eine höhere Weihe. Dieser Treffliche begleitete in jener Reihe von Jahren regelmäßig seinen König Friedrich Wilhelm III. in die Bäder von Teplitz und pflegte dann sowohl beim Hin- als Rückreisen ein oder ein paar Tage in Dresden zu verweilen. Auch an ihm erschien damals eine Lebendigkeit des Geistes, welche vielleicht am besten bezeichnet wird, wenn ich hier gleich beifüge, daß ihre Nachhaltigkeit nach einigen und dreißig Jahren später[157] sich immer noch auf glänzende Weise bewährt hat. Was mich an ihm zunächst überraschte, war die vollendete Feinheit des Hofmannes bei einer solchen Tiefe des Wissens und solchem Reichtum von Erfahrungen. Bis dahin war mir die Wissenschaft fast überall nur im ernsten und trockenen Gewande erschienen, denn beinahe so wie Talleyrand von der Sprache sagte, daß sie dem Menschen gegeben sei, seine Gedanken zu verbergen, so waren die deutschen Gelehrten bekannt dafür, der Menge gegenüber die Wissenschaft meist so zu behandeln, daß die Wahrheit dabei großenteils dem gewöhnlichen Publikum verborgen bleiben mußte. Für Humboldt wird immer der Ruhm bleiben, in bezug auf Naturwissenschaften dergleichen Schranken zuerst entschieden durchbrochen zu haben und teils eben in seinen »Ansichten der Natur« und teilweise auch in seiner »Reise in den Äquinoktialgegenden Amerikas« die Kunst gelehrt zu haben, auf eine würdige Weise auch den Fremden in den Tempel der Isis einzuführen und, indem er zunächst nur einen Teil der Geheimnisse mit der Fackel einer edeln Diktion beleuchtet, ihm zugleich die volle Achtung einzuprägen gegen alle dem Neuling unzugänglichem Tiefen des Wissens. Wie oft hat er nicht verfahren, dem großen Kaufmanne gleich, der von allen Enden der Welt reiche Güter zusammenführt und dann dafür sorgt, daß sie in schöner Form und breiter Auswahl allen denen vorgelegt werden, welche eben nur so weit mit Mitteln ausgestattet sind, doch etwas von diesem Überflusse sich zueignen zu können. Wie sehr hat er in seiner bei einem großen Königshause durch eine lange Reihe von Jahren mit Ruhm bekleideten Stellung, dem Throne so nahe, beigetragen, Wissenschaft und Kunst zu fördern und vielen Gelehrten nützlich zu werden! Auch ich sollte von ihm in folgenden Jahren und namentlich bei einem spätern Aufenthalte in Paris mannigfaltige[158] Förderungen dieser Art erfahren, und in jenen ersten frühern Jahren fühlte ich mich wesentlich gehoben und in meinen Bestrebungen ermutigt, daß ein so Erfahrener und mit Recht Gerühmter an meinen Arbeiten eine wiederholte und aufrichtige Teilnahme bezeigte.

Ganz anderer Art war die Wirkung, die ich durch Rudolphi erfuhr. Dieser, durchaus Mann von Fache, tüchtig in der alten Literatur bewandert und in Anatomie und Physiologie vollkommen tatsächlich und prosaisch verfahrend, wovon seine umsichtige und vieljährige Beschäftigung mit der Naturgeschichte der Eingeweidewürmer sattsames Zeugnis abgab, er hatte bei alle diesem zu dem so viel jüngern, aber für die vergleichende Morphologie aufrichtig begeisterten Mann eine besondere Zuneigung gefaßt und brachte, wenn er während seiner Ferien nach Dresden kam, manche Stunde bei mir zu, durchsah meine Präparate, stritt sich wohl auch mit mir über meine philosophischen Tendenzen und diente so als heilsames Gegengewicht, welches mich immer wieder dem irdischen und praktischen Boden näher brachte, wenn mein vielleicht zuweilen etwas gewagter Flug mich zu weit in die transzendentalen Regionen zu entführen drohte.

Kaum war ich übrigens nun so weit, daß ich den ganzen Ausbau meiner vergleichenden Anatomie fertig vor mir liegen sah, so ging ich mit verdoppeltem Eifer an die Vollendung meiner Gynäkologie, redlich benutzend, was an immer vermehrter Erfahrung sowohl das stärker und stärker sich bevölkernde Entbindungsinstitut als eine auf Stadt und Umgegend sich immer reichlicher erstreckende Praxis gewähren konnte. Der gutbebaute physiologische Boden, den ich bei diesen Arbeiten immerfort unter mir fühlte, war dafür von großem Nutzen und gab namentlich meinem Werke das Frische und Lebensvolle, was denn auch die Ursache wurde, daß es manches Dezennium[159] hindurch der Leitfaden gewesen ist für eine große Menge von Ärzten und daß, abgesehen von zwei schmählichen Nachdrucken, ich nach und nach drei Auflagen desselben besorgen mußte, deren Ertrag mir denn bestens zustatten kam und den Grund legte zu einer allmählich mehr gesicherten Existenz.

Denke ich an diese Jahre, erinnere ich mich der Anstrengungen, welche meine amtliche Stellung mitbrachte, der Nachtwachen bei manchen schweren Operationen, der Überlandfuhren zu Kranken und Kreißenden bei Tag und bei Nacht, der vielen Lehrstunden des täglichen Unterrichts und der täglichen Klinik, dabei der schriftstellerischen Arbeiten und Korrespondenzen und, als Erholung, der zuweilen wohl auch ermüdenden Fußpartien sowie der künstlerischen Tätigkeit an der Staffelei, so begreife ich kaum, wie ich allen diesen Anforderungen damals Genüge leisten konnte. Doch ein Vorrecht bei so manchem Mangelhaften muß die Jugend sich bewahren, und das ist die enorme Produktivität und der frische Mut, alles rasch zu ergreifen und zu überwältigen, was an Aufgaben das Leben herbeiführt, und nur mittels dieses Zaubers mochte auch ich jene Lasten heben und alle diese Felder bestellen.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 149-160.
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