II.

[136] Das Frühjahr 1816, von welchem ich nur neue Erfrischung und Fördrung nach allen Richtungen gehofft hatte, brachte mir und unsern beiden Kindern ernstes Erkranken. Ein Scharlachfieber, damals in der Stadt herrschend,[136] eine Krankheit, die ich so viel behandelt und nie an mir erfahren hatte, ergriff zuerst meine kleine Charlotte, dann mich selbst. Wir beide beendeten die Krankheit leicht. Aber nun erfaßte es meinen dreijährigen Knaben, bis dahin ein Bild frischer Gesundheit und heiterer Gemütlichkeit, und am 11. Mai war er eine Leiche. Es war das erste Mal, daß der Tod, den ich in hundertfältigen Gestalten wohl so viel Opfer hatte fordern sehen, mir nahe ans Herz griff, und eine Eiseskälte durchrieselte mich, von der ich mich nur langsam wieder erholte. So zog es mich also auch jetzt, wie im Frühjahr 1814, nach den schweren Kriegs- und Krankheitsstürmen, in allen Mußestunden wieder an die Staffelei, und je mehr die schwere Trübung des Innern und der einsame tiefe Schmerz in irgendeinem sinnigen dunkeln Bilde offenbar wurde und wie in einer geheimnisvollen Spiegelung dort widerschien, um so mehr kehrte der Friede wieder ein, und selbst die wissenschaftlichen Arbeiten für vergleichende Anatomie und Gynäkologie gingen nun kräftig, ja mit einer eigenen, gleichsam aus der Resignation des Lebens gewonnenen Klarheit wieder vorwärts.

Im verflossenen Winter hatte ich den Dante kennenlernen. Regis war mit einem Übersetzungsversuch des Inferno beschäftigt, und bei seinem damaligen längern Verweilen in Dresden hatten wir in späten Abendstunden begonnen, das gewaltige Werk im Urtext zu lesen, ja zu studieren, und mir war dann auch plastisch darin eine neue Welt aufgegangen. Jetzt, wo ein geliebter Schatten in das geheime Dunkel einer andern Welt verschwebt war, trat mir das Bild jenes mystischen Tores mit seiner schwarzen Inschrift


»Per me si va nella città dolente«1
[137]

seltsam und nebelhaft vor das innere Auge des Geistes, und es war mir ein eigentümlicher Trost, es, so gut ich vermochte, auf der Leinwand festzuhalten; desgleichen entstand ein Bild tiefen innern Naturlebens – ich nannte es »Waldeinsamkeit« –, und eben in diesen Phantasmagorien vertropfte jetzt gewissermaßen der Schmerz und gesundete allmählich wieder mein Geist. So wie der Begriff des Lebens aus dem des Seins und der Tätigkeit sich erzeugt, wie Leben überall nur aus Vereinigung jener Momente hervorgeht, so ist auch das Gefühl der Tatkraft nur geeignet, den Menschen zu jener Weltansicht zu fördern, wo das All als Erscheinung eines unendlich mannigfaltigen, in sich vollendeten und herrlichen, von ewigen Gesetzen geordneten Ganzen erfaßt wird, wo die gewaltigen Schläge des verhüllten Geschicks ihre Schärfe mildern und der Mensch fragen lernt: Tod, wo ist dein Stachel!

Mit dieser Gesinnung gelang es mir denn auch, einer neu herbeigeführten wissenschaftlichen Aufgabe mich zu bemächtigen, deren glückliche Lösung späterhin noch mannigfaltig mir zugute kommen sollte.

Seit kurzem nämlich war das angestammte Regentenhaus wieder nach dem freilich fast um die Hälfte verkleinerten Sachsen und der König nach Dresden zurückgekehrt, die Statuten der während des Interregnums geschaffenen medizinisch-chirurgischen Akademie waren zu höchster Genehmigung vorgelegt worden, und da letztere endlich erfolgt war, sollte nun am 3. August, dem Namenstage des Königs, eine feierliche Einweihung stattfinden. Sämtliche Professoren wurden durch den Direktor Seiler zu einer Beratung zusammengerufen, und daß ohne eine Festrede die Feier nicht gedacht werden könne, war denn bald klar. Ich verhielt mich anfänglich dabei still, da ich ohnehin Arbeiten genug vorhatte, allein als nun die Diskussionen ganz ins Ungewisse gingen und selbst davon die Rede war,[138] daß der Professor der Physik und Chemie etwas über die Farben sprechen könnte, wobei ich mancher Angriffe auf die von mehrern Seiten mir doch sehr wichtige und bedeutende Goethesche Farbenlehre hätte entgegensehen müssen, so schlug ich eine Rede vor über die fossilen Reste urweltlicher Tiere; ein Gegenstand, der sogleich allgemeinen Beifall erhielt, aber auch nur von mir behandelt werden konnte. Ich hatte die Genugtuung wahrzunehmen, daß mein Vortrag lebhaftes Interesse erregte und offenbar den meisten als eine Entschädigung erschien für manches Langweilige, was bei Gelegenheiten dieser Art gewöhnlich mit angehört werden muß. Haben doch die Naturwissenschaften allemal einen gewaltigen Vorteil über andere ähnliche Aufgaben, indem sie einesteils den Menschen gewissermaßen unmittelbar packen und andernteils durch ihren unermeßlichen Reichtum, wie durch ihr Allumfassendes, mindestens eine gewisse mittlere Region der Teilnahme stets im höchsten Grade aufzurufen geeignet sind. Es wird hierbei nicht der Versicherung bedürfen, daß ich nie daran gedacht habe, diese Rede der Öffentlichkeit zu übergeben. Sie liegt noch unter meinen Papieren, und schon acht Jahre später, an meinem fünfunddreißigsten Geburtstage, hatte ich mit großen Buchstaben auf die Rückseite des Titels geschrieben: »Diese Rede ist zu datieren und zu erklären aus einer Larvenperiode meines Lebens, und der geringe Sinn, der aus vielem dort noch hervordunkelt, wurde später in Entwicklungsperioden mancher Art zur Genüge abgestreift.«

Freilich hat nun übrigens seitdem auch das Material jener Lehren von den fossilen organischen Überresten früherer ungemessener Zeitalter des Planeten einen ungeheuern Zuwachs und eine ganz andere wissenschaftliche Gestaltung erhalten. Wer war, der nicht damals auf die Worte des Alten der Berge von Freiberg schwor? Dieser Bergrat[139] Werner, dessen persönliche Bekanntschaft ich bald nach jener Feier selbst machte, hatte sein System von der regelmäßigen Aufeinanderfolge der Urgebirge, Übergangs- und Flözgebirge und des aufgeschwemmten Landes scheinbar so fest gegründet und durch Schüler aus allen Weltgegenden so sehr wieder nach allen Richtungen verbreiten lassen, daß ein Untergehen desselben fast eine Unmöglichkeit schien; und doch war schon ein paar Jahrzehnte später, eben durch das genauere Studium der untergegangenen Pflanzen- und Tiergeschlechter sowie durch das der Geschichte vulkanischer Erhebungen und Ausbrüche, dieses ganze Lehrgebäude selbst gleichsam wie von einer vulkanischen Gewalt umgestürzt und durch neue, auf die Arbeiten eines Leopold von Buch und Elie de Beaumont gegründete Ansichten verdrängt! Und wie sehr ist außerdem, namentlich seit man die mächtige zerlegende und bestimmende Kraft des Mikroskops auch nach jenen Tiefen gerichtet hat, ja seit Ehrenberg die Bildung ganzer Gebirge als aus den Trümmern unendlich kleiner Geschöpfe entstanden nachgewiesen hat, dieses Feld erweitert worden! Kurz, in allen diesen Beziehungen war also jene Rede eine wahre Kindesarbeit, und doch hatte sie damals ihren Zweck vollständig erfüllt, sie paßte in die Zeit, sie hatte die hoch und niedrig gestellten Hörer interessiert und meine Darstellungsweise und Eigentümlichkeit zuerst in weitern Kreisen Dresdens bekanntgemacht.

Ich muß nun hier ferner und zunächst eines Mannes gedenken, der von manchem Einflüsse auf mein Leben war, zugleich aber auch an und für sich als ärztliche Zelebrität nähere Erwähnung fordert: es war dies Friedrich Ludwig Kreysig, Leibarzt des Königs und Professor der innern Klinik ... Sein Werk über die Herzkrankheiten hatte ihm in der ärztlichen Welt einen bedeutenden Ruf verschafft, dabei teilte er die Neigung seines Königs für Botanik[140] und nahm gern Anteil auch an dem, was ich ihm auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie und Physiologie irgend Neues mitteilen konnte; ja er war einer der wenigen, die selbst meinen künstlerischen Produktionen ein gewisses Interesse zuwendeten und den notwendigen Zusammenhang erkannten, in welchem diese Neigung mit meinen wissenschaftlichen Bestrebungen stand, anstatt daß andere so gern hier das Thema von Zeitversplitterung und unersprießlichem Dilettantismus aufnahmen, sobald auf diese Dinge die Rede kam. Kreysig stammte noch aus der ältern humoralpathologischen oder sogenannten gastrischen Schule, aber er hatte das aus jenen Theorien wirklich Brauchbare auf eine eigentümliche, oft geniale Weise vereinigt mit dem, was die Morgenröte einer bessern Physiologie schon damals auf die Lehre von den Krankheiten an hellerm Lichte zu werfen imstande war; mit einem Worte, daß das Verfolgen und Behandeln des Krankwerdens der einzelnen organischen Systeme und Organe die eigentliche Aufgabe des Arztes sei und daß es ein verfehltes Bestreben bleibe, die Krankheiten selbst, gleichsam als besondere kompakte Wesen, in nosologische Systeme bringen und jeder dann eine Liste eigener adäquater Heilmittel lexikonartig zur Seite stellen zu wollen, dies große Geheimnis war ihm zeitig aufgegangen, und das war es, was neben ihm eigentlich zuerst auch mir hier klar wurde.

Meine Entwicklung als Arzt nämlich, wie ich sie in den Leipziger Kollegien und der Leipziger Klinik durchgemacht hatte, fiel in eine ziemlich sterile Periode der Wissenschaft. Noch spukte in der Medizin der rohe Geist des Brownianismus; über die uralte zuwartende hippokratische Heilmethode glaubte man hinweg zu sein und hatte doch den festen Boden einer wirklich physiologischen Medizin noch nicht unter den Füßen, so daß daher selbst bei[141] vielen Ärzten sich nun jenes unheilvolle Schwanken und jener Skeptizismus entwickelte, welche recht eigentlich den Grund abgegeben haben, daß späterhin so widerwärtige Spaltungen den schönen Tempel des Äskulap zerklüfteten und daß seitdem der Schwarm von Homöopathen, Hydropathen, Magnetiseuren und klugen Frauen ein offenes Feld gefunden hat. Kreysigs Grundsatz: »Ich will meinen Schülern die möglichen Störungen der einzelnen Organe und organischen Systeme kennen und behandeln lehren, dann brauchen sie gar keine Namen von Krankheiten zu wissen«, regte auch mich zu mancherlei Betrachtungen auf, Betrachtungen, die sich weiter und weiter in meinem Geiste fortspannen, die mich dazu leiteten, das eigene Gegengewichtsverhältnis, in welchem in unserm Wunderbau die Systeme und Organe sich befinden, immer ausführlicher zu studieren und es immer sorgfältiger der Natur abzulauschen, wie man durch stärkere absichtliche Erregung des einen die zu heftige krankhafte Aufreizung des andern mäßigen, oft aber auch durch Niederhalten des einen das andere heben könne, und wie es daher in Wahrheit auf diesen und ähnlichen Wegen allerdings nicht selten möglich werde, den kranken und verworrenen Haushalt eines menschlichen Innern zum regelmäßigen Gleichgewicht der Gesundheit zurückzuführen.

War indes jener 3. August bestimmt gewesen, mich von wissenschaftlicher Seite in Dresdens gebildeter Welt einzuführen, so war es sonderbarerweise derselbe Tag, der mich auch in künstlerischer Beziehung hier veröffentlichen sollte. An diesem Tage nämlich, dem Namenstage des Königs, war es üblich, die Kunstausstellung beginnen zu lassen, und eigentlich halb durch einen Zufall wurde ich noch veranlaßt, die beiden obenerwähnten größern Bilder, den »Eingang zur Unterwelt« und die »Waldeinsamkeit«, nebst zwei kleinern, einem »Herbstnebel«[142] und dem Bilde eines Kirchhofs, unter dem Symbolum »Festtagsarbeiten eines Kunstfreundes« dorthin zu geben. Bei alledem fehlte es den größern Bildern an Rahmen und mir an den eben überflüssigen Mitteln, die Kosten derselben zu bestreiten. Nun hatte man uns zwar einen Ort bezeichnet, wo dergleichen alt und doch noch brauchbar für mäßige Preise zu finden wären, mein Vater aber hatte darum sich vielfach bemüht, ohne doch das Gewünschte zu erreichen. So kam denn der festgesetzte Termin zur Anzeige der Kunstwerke heran, und ich hatte schon den Gedanken der Ausstellung ganz aufgegeben, als bei einem Antiquar, nach andern Dingen fragend, meiner Frau ganz unvermutet zwei große wohlerhaltene Rahmen um ein höchst Billiges angeboten wurden, welche mit weniger Änderung gerade zu den größern Bildern paßten. Diese Stimme des Zufalls entschied; die vier Schatten meiner poetischen Gedanken wanderten dorthin, und weil damals in all solchen Dingen noch eine größere Einfachheit und Gemütlichkeit herrschte, so war es auch ganz die geeignete Zeit für dergleichen, und sie erwarben sich sogar hier und da Freunde, ja ich erfuhr später, daß sie auf einen Künstler Eindruck gemacht hatten, den ich in seinen Landschaftspoesien sehr hoch stellte und zu dem ich in den folgenden Blättern oftmals zurückkommen werde, auf [Kaspar David] Friedrich.

Ich erwähnte oben, es sei damals noch ein mehr einfacher und gemütvollerer Sinn in Dresdens Kunstrichtung gewesen, und ich kann fast sagen, daß dies von Deutschland überhaupt galt, innerhalb dessen zu jener Zeit die Kunstakademie Dresdens noch eine gewisse tonangebende Stimme behauptete.

In Deutschland war nun durch Frankreichs Einfluß jene letzte versunkenste Periode der Kunst am Anfang des 19. Jahrhunderts bekanntlich die allein geltende geworden,[143] eine wahre Versumpfung hatte Platz gegriffen, und man traut jetzt kaum seinen Augen, wenn man Werken begegnet, die zu jener Zeit sich wirklich eines gewissen Rufs erfreuten. Auch in Dresden teilte die Kunst dieses Schicksal. Seit dem doch schon sehr kühlen Anton Raphael Mengs, welcher 1779 verstarb, war von Historienmalerei gar nicht mehr die Rede, kaum daß noch einige wackere Porträtmaler – so der in Kinderköpfen besonders glückliche Christian Leberecht Vogel und der kernhafte Anton Graff (verstorben 1813) – eine gewisse Auszeichnung verdienten. So herrschte denn auch noch, als ich nach Dresden kam, eine große Flauheit der Kunst vor, und jedermann weiß, wie namentlich im geschichtlichen Fache erst so viel später durch den neuen, aus den Schulen von Cornelius in München und Schadow am Rhein hervorgegangenen Einfluß eine merkbare Erfrischung und Erhebung derselben herbeigeführt wurde.

Achtet man jedoch auf das Eigentümliche solcher Perioden der Erniedrigung, so wird man oft finden, es ist dann eine Art von Schwüle in der Luft, eine gewisse Stille, die auf etwas neu Kommendes und somit wieder auf eine künftige Entwicklung deutet. Brechen dann wirklich die ersten jungen Triebe der Erneuerung hervor, so ist denn zugleich eine besondere Teilnahme, ein allgemeineres Interesse daran vorhanden, ein Interesse, welches gewöhnlich sich mehr verliert, wenn nun wieder die volle Zeit des Treibens angebrochen ist und Kunstwerke bedeutender Art in ganzen Massen sich hervordrängen. Solche stille Zeit nun mit nur noch einzelnen sich ankündigenden Trieben war also damals auch um mich her: Friedrich mit seiner etwas starren und trüben, aber hochpoetischen Weise war überhaupt und insbesondere in der Landschaftsmalerei der erste, der hier das Philistertum angriff und aufschüttelte, und es hatte viel Aufsehen gemacht, als über eins seiner[144] Bilder, ein Kruzifix auf dem Felsen unter dunkeln Tannen und vor den verglühenden Wolken der Abendröte, ein literarischer Streit sich erhob, der für ihn von dem ihm befreundeten Gerhard von Kügelgen, gegen ihn von einem banalen Dilettanten, einem gewissen Herrn von Ramdohr, zum Nachteil des letztern durchgefochten wurde.

Dabei war die Zahl der Kunstwerke, die entstanden, im ganzen gering. So eine damalige Ausstellung füllte etwa drei mäßig große Räume, eins, das Professorenzimmer genannt, für die Herren von der Akademie (um eine gehörige Rangordnung zu beobachten), eins für die Fremden, die Kunstfreunde und die nicht zünftigen Künstler und eins für die akademischen Schüler. Hier war denn die Übersicht nicht schwer, das Publikum im ganzen gemütlich gebildet, hier und da phantastisch, durch den einige Zeit in Dresden lebenden und schreibenden Dichter [E.T.A.] Hoffmann aufgeregt, nahm überall tätigen Anteil, und der Boden fand sich somit für junge Kräfte ganz gut vorbereitet, Umstände, denen ich es mit zuschreiben darf, daß die mir eingeborene Neigung zur Kunst hier sowohl praktisch als reflektierend mehr und mehr sich entwickelte und so doch einige Früchte tragen konnte, die manchem zugute gekommen sind.

Eine der ersten, die ich wohl nennen darf, da sie auf viele anregend gewirkt hat und später auch von Goethe mit besonderer Teilnahme aufgenommen worden ist, waren meine »Briefe über Landschaftsmalerei«, zu welchen um diese Zeit der Grund gelegt worden ist und welche ich noch jetzt als ebenbürtig spätern Werken anerkennen darf. Es trat in diesen Briefen eine eigentümliche Vermählung von Wissenschaft und Kunst hervor, und dies ist es auch jedenfalls, wodurch ihnen eine bleibende Stelle in der Literatur erhalten werden wird. Das, was um jene Zeit Schelling durch den Begriff der Weltseele auszusprechen[145] suchte, es war recht eigentlich der Kardinalpunkt, um welchen sich diese Gedankenzüge bewegten. Erst wenn man in der weiten großen Natur der Oberfläche des Planeten das lebendige geistige Prinzip erkannt oder mindestens geahnt hat, bekommt ja alle Szenerie der Landschaft einen höhern und mächtigern Sinn; erst von da aus verstehen und empfinden wir das geistige Band, welches die Regungen und Umgestaltungen des äußern Naturlebens an die Gefühlsschwankungen unsers Innern mit dieser geheimen Gewalt fesselt, und erst von da aus kann auch eigentlich klarwerden, was die wesentlichen Forderungen sind, welche wir an die Landschaftsmalerei oder, wie ich sie besser zu nennen vorschlug, an die »Erdlebenbildkunst« dann zu machen berechtigt sind, wenn sie diejenige hohe Stellung wirklich einnehmen und ausfüllen soll, welche wir für sie von jenem Standpunkt aus in Anspruch nehmen dürfen. War mir doch selbst erst bei Betrachtungen dieser Art klargeworden, warum in mir naturwissenschaftliche Studien und jene künstlerischen Bestrebungen so eng Hand in Hand verflochten waren (ebenso wie etwa das Zeitalter erwachender Naturphilosophie auch erst die Landschaftskunst erweckt hat), und ich verstand nun noch bestimmter als früher, warum dann, wenn ich z.B. das Wesen der Pflanze im einzelnen und in ihren verschiedenartigsten Gattungen zu erforschen bemüht gewesen war, der Anblick von Wiesen und Wäldern – als massenhafteste Zusammenstellung unzähliger einzelner Pflanzen – gerade mit um so tieferm poetischem Gefühl mich durchdrang. Geschah es ja doch unbedingt aus keinem andern Grunde, als weil dasselbe, was dort zuerst nur in einzelnen Tönen vernehmbar geworden war, hier sofort in weitgreifenden Akkorden und in allumfassenden Harmonien mir entgegenrauschte. Daß dabei freilich in den Massen der Menschheit keine solche klaren Erkenntnisse[146] als Grund des Wohlgefallens an den Schönheiten der Landschaftsmalerei vorausgesetzt werden durften, darüber war ich nicht im geringsten in Zweifel; aber daß die Ahnung von solchen Beziehungen es sei, die auch da zuletzt maßgebend und entscheidend bleibe, davon hatte ich schon damals die bestimmteste Überzeugung gewonnen und werde sie nie verlieren.

Man hätte nun vielleicht glauben mögen, daß, weil Kunst und Wissenschaft mich geistig immer mehr und mehr nach ihrem Heiligtume fortzogen, dagegen der tägliche Beruf meines damaligen Lebens mit aller seiner Prosa mir eine bloße Last gewesen und nur notgedrungen und obenhin von mir verwaltet worden wäre, etwa wie Jean Jacques Rousseau Noten abzuschreiben pflegte oder Spinoza neben seinen philosophischen Studien das Glasschleifen trieb, um sich seinen Unterhalt zu gewinnen, aber ich darf versichern, daß dies keineswegs der Fall war. Der Himmel hatte mir darin eine eigene Gabe verliehen, die mir und andern doch gar mannigfaltig im Leben zugute gekommen ist, nämlich mit ziemlich gleicher Energie und Ausdauer ebenso einerseits in das kleinste Detail praktischer Tätigkeit, als andererseits auch wieder in die verborgensten Tiefen der reinen Abstraktion mich versenken zu können, und so kostete es mir also durchaus keine schmerzliche Überwindung, oft mitten aus meinen vergleichend anatomischen Studien oder aus physiologischen und psychologischen Spekulationen, ja auch wohl von dem Entwurf irgendeines mir lieb gewordenen Gedankenbildes hinabzusteigen zu meinem Lehrzimmer und mich auch da wirklich herabzulassen zu den schwachen Fassungskräften meiner Schülerinnen und zu den oft nicht viel stärkern so mancher unter diesen Chirurgen und Militärärzten. In Wahrheit, ich darf es sagen, es war ein großes Maß von Berufstreue in mir auch für dieses Wirken! Die Überzeugung[147] war mir zu lebendig, wie unendlich wichtig in seinen Folgen einmal dieser Unterricht – Frauen und Kindern in den gefahrvollsten Lebenslagen auf die rechte Weise Hilfe zu leisten – werden müsse; die größte Genauigkeit und die frischeste kräftigste Darstellung erschien mir hier ganz unerläßlich, und ein Beweis, daß meine Mühe und Sorgfalt gute Früchte trug, war die, außerordentliche Anhänglichkeit und Liebe, mit welcher diese oft so ganz roh vom Lande hereingekommenen Frauen und großenteils auch meine männlichen Zuhörer an mir festhielten; ja auch von den Behörden blieb alles dies nicht unbemerkt, denn kaum hatte ich das zweite Jahr meiner Professur vollendet, als mir eine nicht unbedeutende Zulage in sehr erwünschter Weise bewilligt wurde.

Meine Hauptaufgabe in dieser Zeit blieb mir jedoch bei alledem immer mein vergleichend anatomisches Handbuch! Da waren Exzerpte zu machen, Zeichnungen zu entwerfen, Platten zu ätzen, vorzüglich aber Tiere zu zergliedern, Präparate zu vergleichen und eine konzentrierte und doch lichtvolle Fassung der einzelnen Abschnitte des Werks selbst anzustreben, so daß wirklich ausnehmend mit der Zeit gegeizt werden mußte. Glücklicherweise war meine Gesundheit gut und mein Gemüt jetzt heiterer, letzteres namentlich mit dadurch, daß ich den früher schon mehrfach gedachten Freund, den Zeichner Dietz aus Leipzig, einige Monate bei mir hatte, eine Persönlichkeit, die durch eine gewisse Schärfe etwas Anregendes besaß und durch ihr lebendiges Interesse für Kunst mir ebenso homogen als freilich auch in manchem andern abstoßend erschien. Indes wir machten Abendspaziergänge zusammen, lasen zusammen, zeichneten, besuchten auch wohl die Galerie, und so ergab sich doch immer ein lebendiger geistiger Verkehr, welcher nun einmal der vorwärtsdrängenden jungen Seele – ich stand nun erst im achtundzwanzigsten[148] Jahre – so sehr Bedürfnis zu sein pflegt, daß sie eher alles andere erträgt als Mangel an solcher Belebung. Ist es mir doch oft merkwürdig gewesen zu beobachten, wie hastig der Mensch, und gerade der am meisten innerlich befähigte, in der Jugend auf Freundschaften sich stürzt. Freunde, Gesellen, Geistesgefährten, er kann deren nicht genug haben und ist anfangs wenig wählerisch in seinem Erfassen. Wie das Kind, wenn es allein ist, sich die Puppe belebt, die mit ihm Gespräche führen muß, für die es sorgt und mit der es auch wohl sich streitet, so die jugendliche Seele mit andern oft ihr selbst im Innern wenig Gemäßen. Nach und nach wird es dann einsamer um uns, vieles wird uns gewaltsam entrissen, das meiste lernen wir aufgeben, denn die Ansprüche steigen und werden nur selten befriedigt, und nur weniges, dies aber dann um so inniger, können wir bis ans Ende festhalten.

1

Inferno, 3. Gesang, Vers 1: »Der Eingang bin ich zu der Stadt der Schmerzen.« (Anmerkung des Herausgebers.)

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 136-149.
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