Zweites Buch

Reifere Ausbildung

Den 8. März 1848


Indem ich in einer bewegten Zeit die Feder ergreife, um diesen Blättern weiter anzuvertrauen, in welcher Weise einst die Tage meines Lebens sich fortgesponnen haben, darf ich mir eine Betrachtung nicht verbergen, welche mich allerdings fast dahin bringen könnte, sogleich beim Anfang wieder von diesem Unternehmen abzustehen. Ist es doch nämlich nicht zu verkennen, je weiter man vorrückt in diesem menschlichen Dasein, um so mehr fühlt man es in demselben tagen, um so mehr tritt alles in das helle Licht des Bewußtseins, aber um so verwickelter wird auch das wunderbare Getriebe des Lebens, und um so heiliger zieht sich, über all diesen Kreisen thronend, der Geist in das Dunkel des Geheimnisses zurück, ein Dunkel, welches vielleicht einer nächstbefreundeten Seele sich erhellen kann, aber notwendig der Menge durchaus unzugänglich sein muß. So geschieht es daher, daß wer irgend es versucht, aus den reifern Perioden seiner Entwicklung, das heißt da, wo es sich doch eigentlich erst recht der Mühe verlohnte, ausführlich zu sein, Bekenntnisse niederzuschreiben, der befindet sich zuletzt in allen höhern Beziehungen in dem eigenen Falle eines in Mysterien Eingeweihten, nämlich trotz allem Wunsche, sich mitzuteilen – schließt jetzt ein Gott ihm die Lippen zu.

Das einzige ist also hier freigegeben, wenn wir auch dann solche Mitteilungen nicht ganz unterdrücken wollen: sich andeutend zu verhalten, neben dem, was dem Äußern angehört[91] und im vollen Sinne mitteilbar bleibt, von dem Innern, Tiefern, Geistigen nur so viel zu enthüllen, die Bedingungen, durch welche jenes Geheimnis zustande kam, nur so weit darzustellen, daß dann dem irgendwie verwandten Geiste es möglich werde, mindestens eine Ahnung zu fassen von dem, was die Seele außerdem für immer in sich hätte verschließen müssen; ja dieses Verhältnis wird um so eigentümlicher, wenn wir bei genauerm Überdenken nicht umhin können, wahrzunehmen, daß eben dieses Unaussprechbare, dieses sogar uns selbst mindestens halb Unbewußte, doch zuletzt das sei, was eben als ein geheimnisvolles Göttliche allen jenen bewußten Gedanken, Gefühlen und Taten zugrunde liegt, aus denen ein menschliches Leben sich auferbaut und von denen nun auch wieder Mitteilungen nach außen erst möglich sind.

Sei es denn also in diesem Sinne versucht, den Faden da, wo ich ihn früher fallenließ, hier weiter fortzuführen! Vielleicht gelingt es, daß die zurückgerufene Betrachtung einer verhängnisvollen Zeit, wie sie damals zunächst auf mich herandrängte, gegenwärtig, wo nicht minder heftig alle Verhältnisse erschüttert werden, mir jene feste, ruhige Sammlung in der tiefsten Tiefe der Seele erhält, welche ich bei allen äußern Stürmen als eins der höchsten Güter des Menschen von jeher zu erkennen gewohnt war.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 88-92.
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