I.

[201] Begonnen im Mai 1856


»Gedankenfähig wird der Mensch nur im Reiche der Menschheit – ein Mensch allein, ohne allen Verkehr mit andern Menschen, würde höchstens Vorstellungen, sicher aber keine Gedanken haben. – In diesem Sinne wären sonach alle unsere Gedanken eigentlich ein Zu-Denken des Geistes an die Menschheit! – Was wunder also, daß unsere besten Gedanken uns entstehen als ein Zu-Denken an geistig uns näher verwandte Menschen!«

Mit diesen Worten eröffnete ich vor Jahren schon eins meiner Denkbücher, und sie kommen mir heute wieder ins Gedächtnis, weil ich damals (das heißt im Anfang des Jahres 1850) vorzüglich auf das Zuströmen guter Gedanken hoffen mußte, indem es galt (wie ich im vorigen Buche erzählte), der »Psyche« eine »Physis« würdig zur Seite zu stellen. Und wirklich fehlte es zu jener Zeit weder an geistigen Naturen, welche Mitteilungen solcher Art gern aufnahmen und belebende Gedanken zurückgaben, noch an Stoff dieser Art, welcher seit der zweiten Ausgabe der »Physiologie« sich gehäuft hatte und jetzt auch zuweilen dazu diente, die niedergeschriebenen in kleinern Kreisen mitzuteilen. So wuchs denn daher jetzt die Arbeit von Woche zu Woche weiter, obwohl ich immer nur einzelne Früh- oder Spätabendstunden ihr zu widmen imstande war, und wer das Ganze sorgfältiger ins Auge fassen will, wird sich überzeugen, daß, selbst gegen das größere physiologische Werk gehalten, manches[201] Neue und auch im rein wissenschaftlichen Sinne besser Gelungene darin vielfältig zu erkennen bleibt.

Eine für mich indes noch wichtigere Arbeit ging ihr zur Seite! Es war die zweite Auflage der »Psyche« selbst, die zusammen mit der »Physis« im nächsten Jahre erscheinen sollte und auch wirklich erschienen ist. – Nach der großen Wirkung, welche die »Psyche« gleich bei ihrem ersten Erscheinen gehabt hatte, und bei der Bedeutung, die auch ich ihr für die innerste Erkenntnis meines Geistes zuschreiben durfte, mußte mir natürlich alles daran liegen, diesem Buche die möglichste Vollendung zu geben; allein wenn ich nun an die nähere Durchsicht kam, so wurde mir wieder oftmals zweifelhaft, ob ich nicht, wenn ich anfinge, zu vieles umzugestalten, gerade den eigentümlichen Hauch mehr trüben als klarer herausstellen würde. Endlich faßte ich daher hier den Entschluß, nur das wenigste zu ändern, und schrieb darüber an Regis: »In diesen Dingen muß man zuletzt auch wie Fiesole handeln, der, wenn man ihm selbst eine Verzeichnung in einer seiner Figuren nachwies, zu sagen pflegte, ›er habe das Bild nun einmal gerade so im Gebet erschaut und könne es daher nicht ändern‹. – Überhaupt, so wie sich der menschliche Leib in seiner allmählichen Bildung auferbaut aus Millionen Zellmonaden, so erbaut sich auch die Erkenntnis der Menschheit, welche wir die wahre Wissenschaft nennen, ebenfalls nur durch viele besondere Geister, die alle, und zwar eben um so mehr jeder er selbst ist und bleibt, um so sicherer, gleichsam jeder als eine einzelne Facette des unermeßlich großen Menschheitskristalls, das ewige Urlicht zurückspiegeln und so die allgemeine Erleuchtung vollenden helfen.«

Und so viel hiervon! Unser inneres und häusliches Leben floß nun übrigens in den ersten und Frühlingsmonaten dieses Jahres ganz einfach und heiter dahin. Mein junges[202] Paar lebte seine Honigmonate, alles war nach seiner Weise tätig, und die Musik erfreute oft unsere Abende, indem die Töchter allein oder mit jener schon früher genannten Schülerin Mendelssohns uns bald zwei-, bald dreistimmigen Gesang hören ließen oder treffliche Klaviersachen vierhändig ausführten, so daß denn in diesem und auch noch in den beiden folgenden Jahren von einer »kleinen Hauskapelle«, wie sie mitunter im Scherz genannt wurde, gar wohl die Rede sein konnte. Freilich sollte auch diese später auf das traurigste zerrissen werden!

Literatur der Mußestunden betreffend, fuhren die »Girondins« von Lamartine, die schon im vorigen Jahre mir sowohl als unserer nachbarlichen Freundin von Lüttichau so merkwürdig gewesen waren, immer noch fort, ihre Anziehung zu üben. Die eben Genannte schrieb einst darüber: »Dies Stück Geschichte ist wirklich eine Art Kreuzesfahne, zu der alle hinaufsehen müssen, deren Leben Qual und Marter ist. Es ist ein Consommé von Herzblut, wie es nichts Ähnliches unter der Sonne gegeben hat. Carus nimmt es vom pathologischen Standpunkt an als Krankheitsauswurf der Menschheit im ganzen, einer Krankheit, wie sie nur von vorhergegangenen depravierten Kulturzuständen ausgehen könne, so daß nun auch unter einem Miasma-Einfluß, der solch Schauderhaftes entwickelt, wieder die Zurechnungsfähigkeit des einzelnen in Wahrheit fast als aufgehoben betrachtet werden müsse.« – Und gewiß, es gab in diesem Buche vieles der Art, worüber die interessantesten Kontroversen geführt werden konnten!

In einer viel andern Beziehung erregte unsere Aufmerksamkeit dann ein anderes, weit kleineres Buch, es war der Briefwechsel Goethes mit dem Diplomaten und Staatsmanne Reinhard. – Wie schwache Menschen gewöhnlich[203] darin fast dem Chamäleon ähnlich erscheinen, daß sie leicht die Farben ihrer Umgebungen annehmen, so gibt es wieder sehr große und kräftige Naturen, deren eigenes Wesen zwar an sich immer dasselbe bleibt, aber stets auf neue und andere Weise leuchtend wird, sobald sie mit andern Individualitäten in irgend nähere Berührungen gelangen; und zu den letztern gehört Goethe vollständig! So lernt man denn ihn also auch hier in dieser Wechselwirkung mit dem Weltmanne Reinhard wieder in ganz eigentümlicher Weise kennen, und das Büchlein beschäftigte mich daher einige Zeit angenehm. Es ist interessant, wie eine sehr gebildete und verständige, ja in ihren Anschauungen oft sogar bedeutende Natur wie dieser Reinhard doch so seltsam trocken erscheint gegen den Phosphorus-Genius Goethe! Dieser läßt zwar auch oft lange sein Licht nicht leuchten und geht wie ein Mann in der Nacht, der die Laterne unter dem Mantel trägt; aber der Mantel braucht nur etwas aufgeschlagen zu werden, und sogleich drängt sich ein heller Lichtstrahl hervor und erleuchtet weithin den Weg. Überhaupt wurde mir doch auch in jenen Tagen recht auffällig, wieviel durchdringender und weitgreifender in ihren Wirkungen und deren Aufnahme eben jetzt schon diese Goethesche Leuchtkraft genannt werden durfte gegen frühere Jahrzehnte. Welche Opposition noch gegen diesen Gewaltigen dreißig oder gar vierzig Jahre früher! Ich hatte ja noch die Erbärmlichkeiten eines Pustkuchen und Wolfgang Menzel selbst ausführlich miterleben müssen, und jetzt stand er schon als ein überall dergleichen weit erhabenes Lichtbild den meisten seiner spätern Nachkommen da! Es liegt etwas so Erhabenes und Schönes in diesem sichern Richteramt der Zeit!

Jetzt muß ich indes auch einer andern bedeutenden Erscheinung damaliger Zeit gedenken, und das war die[204] Stimme der Jenny Lind, welche im März dieses Jahres mir zum erstenmal zu Ohren drang.

Das Phänomen dieser Stimme ist so merkwürdig, daß man wohltut, darüber sich zu möglichster Klarheit zu bringen, was sie eigentlich bedeute. An einer überhaupt schönen menschlichen Singstimme zähle ich aber drei Momente als die wesentlichen auf: zuerst das edle, voll, rein, mild und stark tönende Organ selbst, zweitens die Korrektheit der Kunst des Gesanges; scharfes Treffen des Tons, richtiges Halten und Tragen desselben sowie klares Gefühl für Takt und Rhythmus und feine Verbindung der Töne; drittens endlich das große geistige Element der Stimme, die Macht, daß die Stimme gleichsam ein lautes tönendes Fühlen und Denken, eine große seelische Gewalt werde, welche, weil sie das Höchste hat: den erkennenden Geist, auch das Tiefste besitzt: die umfassende hinreißende Liebe.

Die Stimme der Lind nun hat in den beiden ersten Beziehungen mich vollständig befriedigt. Es ist kaum möglich, einen reinern, weichern, gesündern, feinern Ton zu haben als sie, und es ist auch kaum möglich, mit mehr Korrektheit zu singen als sie. Ich habe scharf Achtung gegeben bei der Mozartschen Arie und bin auf keinen noch so kleinen Flecken der Ausführung gestoßen.

Ebenso unbefangen muß ich aber auch sagen, daß in Beziehung auf das dritte Moment sie mir nur einen mäßigen Eindruck gemacht hat, und für mich würde dies schon hinreichen, sie als Sängerin nicht so hoch zu stellen, wie sie jetzt in der Welt gestellt wird.

Im Juni bezogen wir unser freundliches Pillnitz und hatten diesmal an prächtigen Morgen, glühenden Sonnenuntergängen und leuchtenden Mondnächten genug uns zu freuen, aber die heiße Mittagssonne brütete auch heftige Gewitter aus, und als ich eines Tages unter gewaltigem[205] Donnerwetter und Regengüssen aus der Stadt dorthin zurückkehrte, traf ich auf eine arge Verwüstung. Der kleine Bach, der sonst aus den schönen Gründen hinter dem Dorfe nur über Steine hervorplätschert, war zum wütenden Strome angeschwollen, hatte drei Häuser weggerissen und den vordern Fahrweg des Dorfes in eine breite Kaskade verwandelt. Zum Glück waren Menschen nicht umgekommen; indes erregte mir doch die ganze ungewöhnliche Naturerscheinung die eigensten Betrachtungen, denn wer möchte wohl nicht daran gedenken, wie ähnlich solchen Vorgängen so manches im Menschheitleben sich gestaltet, wie auch da der aufgeregte Sturm der Leidenschaft in einem Augenblicke oft vernichtet, was berechnender Verstand und sorgsame Lebensführung in langen Lebensperioden mühsam geschaffen hat und immer noch glücklich da, wo dieser Leidenschaftssturm aus einem tiefern Liebesdrange und in der Richtung einer gewissen innern Schönheit hervorbricht, denn jenes Pathos wird ihm dann wenigstens nicht fehlen, welches ja allein von jeher die Entstehung der größten tragischen und lyrischen Dichterwerke bedingt hat! Wirklich, der Sommer ist schön mit all seinen gewaltigen Passionen, seinen heißen Tagen, seinen glänzenden Mondnächten, seinem dunkeln, gesättigten Grün und allen seinen Donnerstürmen und Wassergüssen; es ist Regung, Macht, Leidenschaft darin! – Muß doch nun einmal bei allem Herrlichen zugleich ein Leiden – ein Pathos sein! So denn auch bei einem heißen kräftigen Sommer.

Und dabei möchte ich wohl noch anfügen, daß man im allgemeinen eigentlich zuwenig bedenkt, wie das, was wir ein »Märtyrertum« nennen dürfen, eigentlich auch viel weiter sich erstreckt als auf jene Heiligen und ersten Christen, welche um ihres Glaubens willen leiden mußten und in stiller Andacht litten; denn man darf vielmehr[206] sagen: Es gebe überhaupt nichts Großes, Herrliches, Bedeutendes, das nicht, indem ihm der Mensch mit allen Kräften nachstrebt, indem er fest daran glaubt und ihm sich opfert, zugleich schwere Leiden, heftige Schmerzen und ernsten Kummer ihm bringen könnte und wirklich brächte! Wie dem Planeten Tag- und Nachtseite überall und immer eigen sind, so dem strebenden Menschen immerdar zugleich das Glück und der Schmerz! – Ja, Glück und Schmerz liegen schon unbedingt im Streben selbst – das erste darin, daß wir dem Ziele durch unser Streben näher kommen, das andere darin, daß es nie vollständig und für immer befriedigend erreicht werden kann.

Im Anfang August erhielt ich von den Schriftführern der Friedensfreunde eine Einladung nach Frankfurt, wo ihr Kongreß dies Jahr abgehalten werden sollte. Natürlich konnte ich dieser Einladung nicht folgen, indes mußte ich doch eine Erwiderung geben – um so mehr, da sie überhaupt die Stimmen bekannter Gelehrten ebenso wie die der Staatsmänner zu sammeln und dadurch ihr Thema zu illustrieren bemüht waren. So schrieb ich ihnen denn im wesentlichen folgendes:

»Es gibt Ideen, welche sehr früh schon in einzelnen der Menschheit offenbart worden sind, aber sehr spät erst zu lebendiger und allgemeiner Entwicklung gelangen – die Idee des allgemeinen Friedens ist eine solche. Das Evangelium der Liebe, welches seit achtzehn Jahrhunderten uns verkündigt worden ist, hätte – so sollte man meinen –, seit es den größten Teil der erleuchteten Völker durchdrungen hat, bereits den Krieg, diese absolute Verleugnung der Liebe, ganz unmöglich machen sollen, und leider, infolge eines jener Widersprüche, die wunderbarerweise so tief in die menschliche Natur verwoben sind, waren es gerade diese erleuchtetsten Stämme der Menschheit,[207] welche die blutigsten, zerstörendsten Kriege seitdem geführt haben.

Was demnach von solchem Widerspruch und solcher Unnatur noch nicht getilgt hat werden können durch das Erwachen der Idee der Schönheit bei den Griechen und durch das Eintreten der Idee der Liebe durch Christus, das (so scheint es die Aufgabe zu sein) soll endlich vernichtet werden durch das lebendige Eindringen der dritten großen rettenden Idee – durch die Idee der Wahrheit – das heißt, durch das Reich immer klarer sich ausbreitender vollkommener Erkenntnis.

So gewiß unter den Gliedern einer Familie widerwärtiger Zank und tätliche Mißhandlung nicht mehr vorkommen kann, wenn alle Glieder dieser Familie eine höhere und reine Erkenntnis und Bildung erreicht haben, so gewiß wird auch, wenn unter vorgängiger Entwicklung von Schönheit und Liebe eine höhere Erkenntnis alle Völker zu einer großen Familie vereinigt haben wird, der Krieg eine Unmöglichkeit werden.

Dieser Friedenskongreß ist sonach jedenfalls ein Zeichen der Zeit, welche nach Erlösung von den Übeln des Krieges ringt, und verdient eben in diesem Sinne alle Anerkennung, Verehrung und Förderung – ich kann ihm daher hier nur wünschen, daß es ihm dereinst vergönnt sei, indem er über seinen Gegenstand selbst immer mehr Wahrheit und Erkenntnis verbreitet, auch tatsächlich beizutragen zur endlichen vollkommenen Vernichtung der Hydra des Krieges!«

Sonderbar genug, daß übrigens nicht viel gefehlt hätte, daß diese immer bereite Furie gerade schon dies Jahr wieder entfesselt worden wäre (wovon ich noch weiter unten zu sprechen haben werde), und wie sehr war dies dann vier Jahre später wirklich der Fall!

Für den nächstfolgenden Monat September verscheuchte[208] indes dergleichen trübe Gedanken ein Kunstgenuß, dessen Schilderung von andern Orten her uns schon lange in Spannung gehalten hatte und der endlich hier durch die Liberalität unserer Bühnendirektion uns in nächste Nähe gebracht werden sollte – die Rachel kam mit ihrer Gesellschaft nach Dresden, und wir sahen sie in einer Reihe interessanter Vorstellungen. Ich bewahre noch mehrere Aufsätze, die ich in jenen Tagen, um mir dies seltene Phänomen möglichst deutlich zu machen, je nach jeder Vorstellung einen, niedergeschrieben hatte; hier indes gedenke ich nur Rechenschaft abzulegen über diesen großen Eindruck im allgemeinen, als wobei denn dreierlei mir insbesondere hervorzuheben bleibt; einmal die ganze eigentümlich wirksame Besonderheit und Schönheit ihrer Organisation, ein andermal ihre große Vielseitigkeit und vollkommene Beherrschung des Stoffs, und endlich die Art, wie sie das doch auch in der alten französischen Tragödie verborgene poetische Prinzip mächtig hervorzuheben und zur Geltung zu bringen verstand. In ersterer Beziehung ist mir die ganze eigene Maske ihres Gesichts, durch das wunderbar dunkle, an das herkulanische Wandgemälde erinnernde Auge, dann die magere seelische Gestalt und Handbildung sowie die tiefe, fast mannweibliche, so geistig tönende Stimme am meisten in der Erinnerung mächtig geblieben.

In Hinsicht auf das zweite war es mir nicht minder bedeutungsvoll, gewahr zu werden, wie sie die gewaltigsten Wirkungen mit so geringen Mitteln hervorrief. Schon die eigene geisterhafte Art, wie sie auftritt, bereitet hier viel vor (eigentlich ist sie eben da wie eine Vision, man weiß kaum, wie sie kommt), dann die Art, wie sie einem Gespräch zuhört (namentlich in den »Horatiern«) und wie sie schon in der Bewegung eines Fingers, einer Hand, eines Arms, im Wenden eines Blicks, im schmerzlichen[209] Lächeln ihres Mundes alle Seelenzustände ihres tiefsten Innern fast magnetisch dem Zuschauer fühlbar zu machen weiß; das ist alles von der Art, daß wirklich mit dem Kleinsten das Größte geleistet wird. Andernteils aber ist ebenso außerordentlich ihre Gabe, sich zu verwandeln. Ich sah sie an einem Abende als neue Christin im »Polyeukt« und dann als schönste römische Kurtisane in »Lesbie«, und wie hätte ich erwarten können, daß in diesem Maße die ernste Größe der erstern in die strahlende Schönheit der letztern sich umgestalten lassen würde und in Wahrheit, nicht bloß war das Äußere ein anderes geworden, sondern alles durchleuchtende Geistige, in Mimik, Betonung und gesamter Bewegung ruhte jetzt auf einer anderen Idee. Nicht minder groß indes war auch der Unterschied in Behandlung der ganz modernen »Adrienne Lecouvreur« von der alten französischen Tragödie, in welcher letztern eben das dritte Moment meiner Bewunderung sich fand, und zwar darin und deshalb, weil eine so mächtige Wirkung dieser Werke nur dadurch erreicht wurde, daß die Künstlerin es in so hohem Grade verstand, »zwischen den Zeilen« darin lesen zu lassen. Bedenkt man nämlich das ganz typisch und stationär Gewordene der Verse eines Racine und Corneille, weiß man, daß auch am Sprechen und Betonen dieser Verse seit mehr als einem Jahrhundert kaum etwas zu ändern, nichts wegzunehmen oder zuzusetzen ist, so versteht man allerdings, daß das Neue und Lebendige hier nicht sowohl durch die Worte selbst, sondern mehr durch das, was zwischen den Worten liegt, erreicht werden mußte, und das ist es, was mich denn ebenfalls besonders in ihrer Darstellung überraschte. Je mehr daher (wie namentlich in den »Horatiern«) zu dem, was wir »stummes Spiel« nennen, sich Raum gegeben fand, desto mächtiger war allemal ihre Wirkung und desto mehr gelang es[210] ihr, diese alten hundertjährigen Formen neu zu beleben, ja das eigentlich Poetische in ihnen nicht nur fühlbar zu machen, sondern gewissermaßen erst neu zu schaffen. Die Ristori, die ich später sah, übertraf die Rachel bedeutend an Schönheit; als Künstlerinnen aber werden mir beide immer als ein gleichgroßes schwesterliches Paar in dankbarer Erinnerung bleiben.

In demselben Monat ging ich nun auch wieder einmal auf einige Tage nach Berlin und empfand diesmal besonders lebendig den Segen der Eisenbahnen, indem ich jetzt zum erstenmal diese Fahrt, die mir in früherer Zeit zwei bis drei Tage genommen, in fünf kurzen Stunden zurücklegte. Werden doch unsere Kinder und Kindeskinder nach und nach den Maßstab für Räumlichkeit der Entfernungen völlig verlieren, so weit liegen jene so nahen Zeiten schon hinter uns, und so ungenügsam werden wir jetzt, daß nun schon eine bloße Verlängerung jener fünf Stunden auch nur um eine halbe als unverantwortliche Langsamkeit angeklagt wird.

Man kann übrigens denken, daß das Neue Muse um, in dessen Grundgrabungen ich das vorige Mal noch mit Ehrenberg die Infusorienlager aufgesucht hatte, diesmal vorzüglich mich anzog. Gleich beim Eintritt in das ungeheure Treppenhaus fand ich die Herren Echter und Muhr, Schüler und Gehilfen von Kaulbach, welche ich früher während des Meisters eigener Anwesenheit in Dresden bei ihm getroffen und kennengelernt hatte. Sie boten sich sogleich als Führer zu seinen Werken an und waren mir um so mehr willkommen, da Kaulbach eben wieder eine Erholungsreise in die Alpen unternommen hatte.

Babels Fall und den Brand Jerusalems sieht man fast vollendet – zu den Kreuzfahrern und dem Fries erst die Zeichnung. Es ist immer eine gefährliche Probe, einen Entwurf – ja irgendeine Unternehmung – ganz ausgeführt[211] zu sehen! Nun bleibt nichts mehr verborgen, nun liegt alles klar vor, was früher im Nebulistischen sich bergen und Versprechungen machen konnte, auch wenn sie nicht erfüllt wurden. Hier nun zumal in diesen Räumen! – Wie König Richard bei Shakespeare ruft: »Ein Königreich für ein Pferd!«, so könnte man von dieser Treppe sagen: Ein Haus für eine Treppe! So enorme Räume wollen daher nun auch enorme Gedanken! Und bei aller ihrer Größe werden diese umfangreichen Gemälde hier durch die Verhältnisse des Ganzen gewissermaßen zu kleinen Bildern zusammengedrückt, und als solche fühlt man sie dann wohl oft seltsam überfüllt mit Figurengewühl und bunten Farben, denen jener ruhige Ernst fehlt, der zu großen Gedanken notwendig gehört. Dies alles soll indes nicht sowohl das sehr Bedeutende dieser Werke an sich vermindern, aber es soll nur aussprechen, daß keine Wirkung, wie etwa in der Sixtina oder den Stanzen, in dieser Weise erzielt wird.

Dagegen ist der Fries mit seiner kecken Ironie so recht eigentlich unsers Kaulbachs Element. An eigentümlich genienhaft gedachten Kindern entwickelt sich hier auf ganz originale Weise die Geschichte der Menschheit. Die Aufdämmerung der Seele im Kinde bis zum äußern Sturm und Drang und zur Anbetung des Geschlechts in Form der aus der Blume aufsteigenden Isis und Osiris, dann bis zu allen Versuchen in Philosophie und Kunst, im Völkerregiment und kranken Deutschtum und dem Thronen der Nemesis und der verhüllten Zukunft; es ist ein einziges fortlaufendes, scharf humoristisches Gedicht – und ein Gedicht recht aus der wahren Heimat des Meisters! Schön insbesondere war der Gedanke, auch den verwüstenden Typhon immer nur als denselben Genius darzustellen wie alle andere, nämlich als einen, der sich nur hinter einer Furienmaske versteckt und so den mit der[212] schrecklichen Fackel bewehrten Arm durch die Mundöffnung einer Typhonmaske hervorstreckt, welche den übrigen Körper verbirgt.

Auch in den Saal der Ägineten und in die den Werken späterer Kunstperioden bestimmten konnte ich noch einen Blick werfen, obwohl nur die Dekorationen des erstern damals beendigt waren; und doch fühlte ich da schon (was mir freilich nach Jahren noch deutlicher hervortrat), daß auf äußere Zier im Ganzen hier mehr verwendet ist, als dem einfach ernsten, immer etwas abstrakten Sinn der Plastik angemessen genannt werden darf (»Immer mußte ich des vornehmen Stils des Britischen Museums gedenken, das in prunklos großen Hallen Prachtwerke gleich denen vom Parthenon bewahrt. – Und ebenso, als ich hier in den Säulenhof des Ägyptischen Museums mit seinen in den Durchsichten gemalten Prospekten der Pyramiden und Memnons-Statuen eintrat, lag mir großenteils das Gefühl einer wohlgelungenen Theaterdekoration näher als das des großen Altertums selbst. Daß indes vielleicht das Ganze gerade so, wie es hier ist, dem Sinne dieses Publikums um so mehr verständlich und in vieler Hinsicht belehrender werden möge als jene großartige Einfachheit, konnte ich schon damals zugeben.«)

Die nächsten Kunsteindrücke dieses Berliner Aufenthalts gaben mir die Fresken des Alten Museums und das Atelier von Rauch. Die Zeichnungen zu jenen nun unter Cornelius' Leitung al fresco ausgeführten symbolischen Entwürfen des verstorbenen Schinkel waren mir noch von diesem selbst bei einem meiner ersten Besuche Berlins ausführlich vorgezeigt und ihrem Sinne nach gedeutet worden. Die Entfaltung [des] gesamten terrestrischen und humanen Lebens hatte ihm damals den Stoff für diese Tafeln geboten, die mir denn auch in ihrer feinen aquarellierten Ausführung als durchaus geistreich und poetisch![213] einen bedeutenden Eindruck machten. Jetzt stand hinter den kolossalen dorischen, Säulen des Atriums das Ganze in gewaltigem Maßstabe und in harten, oft schweren Farben, vollendet fertig vor mir, die Phantasie hatte nichts mehr daran fortzubauen; und mit dieser Buntheit, ja oft möchte ich sagen, Roheit des Kolorits war das Bedeutungsvolle und Mystische der ursprünglichen Auffassung in einen solchen Widerspruch getreten, daß ich Mühe hatte, die Erinnerung des Vergangenen mit dem Anschauen des Gegenwärtigen in Einklang zu bringen. Ich bin überzeugt, die Alten, wo sie Malereien in ihren Tempeln oder überhaupt in Verbindung mit Architektur anbrachten, haben sich zuverlässig stets hierbei mehr andeutend (wie ja schon aus ihren Vasenbildern und Mosaiken hervorgeht) verhalten und haben sicher eben dadurch, eine weit mehr harmonische und deshalb tiefergehende Wirkung erreicht.

Freilich, wie viele Versuche hat nicht der Mensch überall nötig, ehe das Rechte völlig getroffen wird! Schade nur, daß verfehlte monumentale Versuche nun auch ihre eigene lange Lebensdauer haben! Unser Klima wird jedoch wohl dafür sorgen, daß dieser Versuch kaum auf das künftige Jahrhundert übergeht!

Anders aber wird es mit Rauchs Friedrich dem Großen sein, zu dem hierauf der werte Meister mich selbst führte! Der wird hoffentlich manches Jahrhundert überleben! Noch standen die Reliefs für sich in der Gießerei daneben, aber in der großen Halle des Gießhauses sah man das kolossale Roß mit dem Reiter auf flachem, zum Umdrehen eingerichteten Postamente dergestalt aufgestellt, daß, wenn man gegenüber zehn bis zwölf Stufen der Treppe zur Galerie hinaufstieg, man nun das gewaltige Werk genau vom rechten Standpunkte aus in einer Art überblickte, wie man dies später auf dem hohen[214] Piedestale natürlich nie mehr können wird. Der Eindruck war so der großartigste, zumal als nun Rauch befahl, daß der Koloß allmählich umgedreht werde und die ungeheuere Masse wirklich sich langsam wendete, daß Mähne und Schweif wie von einem magischen Hauche bewegt in der Luft zu wehen schienen – mir war, als hätte ich ein ganzes Stück Geschichte in Erz gegossen hier vor mir! – Erst sechs Jahre später sollte ich das Monument, fertig aufgestellt, Unter den Linden erblicken! Die Wirkung war natürlich da wieder eine ganz andere – immer mächtig und schön, aber ich darf doch sagen, jener erste Eindruck ist mir der allerbedeutendste geblieben.

Einen in andern Richtungen interessanten Tag verlebte ich in Potsdam: – dort war es mir das erste, Humboldt aufzusuchen, der mich wie immer freundlich und lebendig empfing. Es war eben der Tag vor seinem 81. Geburtstage (er ist 14. September 1769 geboren), und er machte sich bereits fertig, nach der Tafel mit der Eisenbahn nach Magdeburg zu der ihm nahe verwandten Familie von Heydemann zu fahren, um allen etwaigen Festlichkeiten des nächsten Tages auszuweichen. – Für die Jahre, seit ich ihn nicht sah, fand ich ihn wenig verändert, er war mit Vollendung des dritten Bandes des »Kosmos« beschäftigt, und wir kamen gleich in die interessantesten Gespräche über manche atmosphärische Erscheinungen und dergleichen. Dabei verfehlte er aber nicht, die immer auf dem Tische liegende Uhr zu beachten, da er mir geraten hatte, vor 10 Uhr zur Königin nach Sanssouci zu fahren, indem ich bereits für Mittag und Abend dort eingeladen sei. Somit mußte ich bald aufbrechen, nachdem ich versprochen hatte, noch vor der Tafel wieder bei ihm vorzusprechen. Es blieb mir daher jetzt nur zu einem ganz flüchtigen Besuche bei Tieck, an dessen Hause der Weg vorbeiführte, Zeit übrig, bei welchem[215] teuern Freunde ich leider nicht wie bei Humboldt sagen durfte, daß ich ihn wenig verändert fände, im Gegenteil war er offenbar hilfsbedürftiger geworden; ich fand ihn unter der Obhut der treuen Dienerin Friederike, die ihm das Frühstück vorsichtig servierte, und er sprach sich dabei auch mißmutiger und argwöhnischer über manches, auch sein Verhältnis zum Hofe, aus. Ich versprach nach Tisch längern Besuch und fuhr nun nach Sanssouci, wo ich das Glück hatte, noch die Königin vor ihrem Ausfahren zu einer nahen Revue zu sehen, und zugleich zu guter Stunde auf den Leibarzt Dr. Grimm traf, welcher mich denn gleich noch in den Lokalitäten und Sammlungen des Schlosses und in den neuen Anlagen des Parks trefflich orientierte. – Als wir ins Freie traten, war eben der Hofgärtner Sellow aus Petersburg zurückgekommen, wohin man ihn gesendet hatte, um die dort ganz vorzüglich eingerichteten Gewächshäuser kennenzulernen, und dieser gab auch sogleich die besten Winke für die Tour durch den Park, der mir größtenteils neu war und zu welcher uns der leibärztliche Hofwagen sehr zustatten kam. Enthält doch dieser Park wirklich des Anmutigen sehr viel und manches, was ganz nach eigenen Angaben und Zeichnungen des Königs ausgeführt worden ist. Erst die reizende Terrasse, die bei so schönem Herbstwetter mit Prachtpflanzen, Laubgewinden, Vasen und Bassins den besten Eindruck machte; dann weiter unten die vielen kleinen Bauten und Gruppen, dilettantisch italienisch und oft sehr zierlich geordnet, ebenso das reizende Charlottenhof, mit seinen antiken Grotten, Rankengewächsen und Bädern, endlich aber die neue Friedenskirche, eine kleinere Nachahmung der ältern byzantinischen Kirchen Roms, in ihrer stillen und klaren Wirkung. – Doch auch die Erinnerungen an Friedrich II. sollten aufgefrischt werden; und so ließ mir[216] Grimm noch das Neue Palais sowie das Marmorpalais öffnen. Es beschäftigte mich wohl in eigenster Weise, im erstern neben den Prachtsälen die engen Zimmer zu betreten, welche der große König oft mit so weiten Gedanken bevölkert hatte! Noch steht dort das alte Notenpult, vor dem er Flöte blies, noch liegt dort seine Handschrift und stehen da seine Bücher und daneben Voltaires Büste! Man kann sich hier sehr in jene Zeit versetzen; natürlich stets ohne Lust zu haben, eben lange darin zu verweilen. Weniger bedeutend ist das Marmorpalais, doch mit allerhand interessanten Bildern geziert. Schon außen unter der Reihe von Wandgemälden von Rhein- und Donaugegenden sind hübsche Sachen; mehr jedoch ziehen innen die ägyptischen Landschaften von Frey und die Köpfe der Porträtgalerie des Königs von Tieck bis Schelling und Schadow an.

Den Schluß unserer Umsicht machte eine Spazierfahrt nach dem Pfingstberge (welcher alles andere eher ist als ein Berg) mit dem neuen originellen Hochgebäude, von wo der Blick über die weiten Flächen der Havel nach der Pfaueninsel in diesem milden Herbstsonnenlicht wirklich sehr anmutig war. Ich durfte sagen, es hatte etwas, das mich an den Loch Lommond Schottlands erinnerte!

Endlich zurück wieder zu Humboldt, wo denn wieder eine Stunde unter vielfältigen Gesprächen über meine »Proportionslehre«, über Witterungsphasen, über Cholera und manches andere rasch verging, bis die Zeit zum Ankleiden für die Tafel heranrückte. Der treffliche Senior wollte es sich nicht nehmen lassen, mich selbst in seinem Wagen zur Tafel abzuholen, und so eilte ich in den nahen Gasthof, und bald rollten wir wieder den kurzen Weg nach Sanssouci hinaus.

Nach der Tafel fuhr ich nun zu Tieck, um mit ihm noch eine Stunde ruhig zusammen zu sein; – es ahnte mir[217] fast, es könne die letzte sein, die ich mit ihm verleben würde, und so ist es denn auch gekommen! Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Die Unlust des Alters und der Krankheit beschattete damals schon sein sonst so schönes geistsprühendes Auge, und nicht mehr wie früher flogen die Gedanken bald hoch-, bald tiefgehend leicht um die Gegenstände, sondern hafteten schwer nur an manchen und fast lieber an unangenehmen als an frischen und angenehmen Eindrücken. Dabei waren seine Bewegungen sehr gehemmt, der Kopf fast ganz auf die Brust gesunken, und so nahm ich denn, als tiefere Dämmerung kam, mit wehmütigen Gefühlen von ihm Abschied und hatte zu eilen, um noch zu rechter Zeit wieder zum Neuen Palais zu gelangen, wo eine große Soiree sich vorbereitete, welche hier mitzuerleben mir doch auch als neue und besondere Lebenserfahrung gelten mußte.

Als ich hinkam, sammelten sich bereits in den nur von spätem Abendlicht erleuchteten Sälen unendliche Uniformen, mit Damen untermischt. Endlich entzündeten sich die Kronleuchter, der König erschien, und man ging zum Theater. Natürlich interessierte es mich sehr, die Örtlichkeit kennenzulernen, wo in gewähltem Kreise jene merkwürdigen Aufführungen stattgefunden hatten, welche Tieck einst anordnete und wo griechische Tragödien und Shakespeares »Sommernachtstraum«, ja selbst der »Gestiefelte Kater« zuerst über die Bühne gegangen waren! Das Ganze ist gerade von rechter Größe zu solchen Dingen. Dia Zuschauersitze amphitheatralisch geordnet, vorn vor dem kleinen Orchester die höchsten Herrschaften auf Armsesseln Platz nehmend, Verzierungen und Dekorationen nur sehr einfach gehalten – alles eigentlich recht an das Theater im »Hamlet« erinnernd. – Heute war es auf nichts eben Außergewöhnliches abgesehen: man hörte zunächst eine Szene aus den »Hugenotten«, dann aber[218] kam doch eine Reminiszenz des Tieckschen Einflusses, nämlich Shakespeares »Komödie der Irrungen«. Ich gestehe, ich war in einer gewissen Verwunderung über die Schönheit eines Werkes, welches früher beim Lesen mir immer nur einen mäßigen – hier und da wohl selbst geringen – Eindruck gemacht hatte, denn hier auf den Brettern und gut und rasch gespielt, rundete sich das Ganze so fein, die große Sicherheit und Bühnenkenntnis des Dichters machte es zu einer so liebenswürdigen Erscheinung, daß mir wieder eine neue Seite für die Bewunderung des großen Briten da aufgehen mußte, wo ich sie, mindestens in diesem Maße, durchaus nicht geahnt hatte.

Nach dem Theater wendete sich die ganze zahlreiche Gesellschaft hinüber nach dem großen glänzenden Speisesaale, wo das Souper an kleinen Tafeln serviert war. Ich traf zu gutem Glück wieder mit Grimm zusammen, um mich von ihm in den Überflutungen dieser Menschenmasse ebenso orientieren zu lassen, wie er es früh in den mannigfachen Anlagen im Park getan hatte, und natürlich fehlte es denn auch hier nicht an Stoff zu Beobachtungen. Daß übrigens unter der Menge des dienenden Personals außer ein paar Mohren ein Chinese im nationalen Kostüm meine Aufmerksamkeit noch ganz besonders in Anspruch nahm, wird man sich leicht vorstellen.

Den andern Tag in Berlin setzte ich die vorher begonnene Wanderung fort und kehrte den darauffolgenden Nachmittag nach Dresden zurück.

Von allerhand indes vorher noch in Berlin Erlebtem will ich nur dreierlei hier noch aufzeichnen: einige Stunden mit Dr. Peters und Rauch in den anatomischen Sammlungen, einen Besuch bei Cornelius, und eine Fahrt mit Lichtenstein nach dem Zoologischen Garten.

Das erstere hatte ich namentlich verabredet, um auch hier einmal eine genauere Darlegung meiner neuen Proportionslehre[219] zu geben. Johannes Müller war verreist, jedoch Dr. Peters vertrat ihn auf dem Museum, und so hoffte ich doch, irgendein Interesse für den philosophisch gefaßten Begriff des organischen Modul erregen zu können. Ich fragte zuerst nach einem vollkommen normalen Skelett; denn soll die Wissenschaft die Regel nachweisen, so muß sie sie natürlich auch zuerst am Regelmäßigen demonstrieren können, denn alles Abnorme läßt sich ja immer nur als Abweichung von jenem verständlich machen. Leider enthält das ganze reiche Museum nicht ein einziges regelrechtes Skelett – »es sei ja das eben nur das Gewöhnliche, man sammle nur das Ungewöhnliche«. Diese Äußerung war mir in mancher Beziehung bedeutungsvoll für den Weg, den jetzt hier die physiologischen Studien innehalten, und so sah ich denn auch für meine Bestrebungen keine große Teilnahme voraus. Indes Rauch war dabei, der mit hellerm Auge den harmonischen Bau der menschlichen Gestalt zu betrachten gewohnt ist, und so ließ ich mir das erste beste Skelett geben und zeigte, wie auch, freilich mit manchen Ausnahmen, das schöne Gesetz des ursprünglichen Verhältnisses wohl zu erkennen bleibt.

Hatte ich sonach hier allerdings Ursache, mich in meiner Richtung sehr isoliert zu fühlen, so fand ich, als ich zu Cornelius kam, auch wieder einen Geist, der über Isoliertsein, Unverständnis und Anfeindung in Berlin bitterer sich aussprach, als ich es von einem solchen Genius, der dergleichen ganz gut als Staubwolken an sich vorübergehen lassen kann, zu hören gewünscht hätte. War er mir doch eine so durch und durch bedeutende Erscheinung mit seiner kräftigen, gedrängten Gestalt, seiner mächtigen, stark vorgebauten Stirn, den scharf blickenden, tief liegenden Augen und ganzem entschieden tüchtigen Wesen! – Dabei war es denn wohl eine Freude, ihm so[220] zu folgen durch die verschiedenen Zimmer und Säle, wo die großen Kartons für das projektierte Campo santo sich aufgestellt fanden, die, wenn sie auch (was wohl wahrscheinlich ist) nie für jenen Zweck ausgeführt werden, sollten, immer als die größten Werke der Neuzeit in dieser Richtung betrachtet werden müssen. Bewundern wir doch noch heute die großen Raffaelischen Kartons in Hampton Court, welche auch am Ende in den Tapeten immer nur eine mittelmäßige Ausführung gefunden haben, und haben doch diese des Cornelius eine Gegenständlichkeit, die bei den hier dargestellten abstrakten Gegenständen vollkommen hinreicht, ja welche bei einer nicht im höchsten Sinn gelungenen Farbenausführung so großer Kompositionen vielleicht eher an geistiger Wirkung verlieren würde.

Endlich meine Fahrt zum Zoologischen Garten! – Lichtenstein ist recht eigentlich die Seele dieses ganzen Unternehmens, welches auch hier wie in London zum großen Teil durch Mitwirkung des Publikums sich erhält. Im Jahre 1849 betrug die Einnahme an Eintrittsgeldern (à 5 Silbergroschen die Person) doch schon 10000 Taler. Die Anlagen in einem entferntern Teile des Tiergartens sind weitschichtig und überall zweckmäßig. Die Auswahl der Tiere bot viel Bedeutendes; eine große lebende Klapperschlange, die rotgefleckten spitzschnäbeligen Kakadus aus Neuseeland, die neuen Hokos aus Guiana, ein hübsches Eichhörnchen aus Java u.a.m. Freilich statt der Elefanten, Giraffen und Rhinozeros in London sieht man hier die großen Säugetiere nur durch ein schönes Dromedar und mehrere Büffel vertreten, doch sind Abteilungen des Waldes durch selteneres Wild, Rinder und Gazellen sehr hübsch belebt, und so hat das Publikum immer genug zu schauen. –

Ich habe aber eigentlich doch noch stets meine besondern[221] Gedanken, wenn ich dergleichen Einrichtungen betrachte; denn hat nicht in Wahrheit alles der Art eine eigene philosophische Bedeutung insofern, als man darin zugleich das Wirken einer gewissen höhern Notwendigkeit anerkennen möchte, das, was sonst auf der gesamten Erde von Naturbildungen nur zerstreut vorkommt, nun auch an einzelnen Orten völlig konzentriert darzustellen? Es bleibt ja doch ein allgemeines Gesetz organischer Bildung: »Das Ganze wiederholt sich in irgendeiner Beziehung immer in den Teilen, und je vollkommener die Teile werden, desto mehr werden sie in sich abgeschlossene Teil-Ganze und insofern dem Ganzen ähnlich.« – Zum Beispiel der Planet ist als Teil eines Sonnensystems demselben zugleich seiner innern Natur nach verwandt, und soll er jetzt die Bedeutung des Sonnensystems entschiedener wiederholen, so umgibt er sich mit Trabanten und bildet ein kleineres Weltkörpersystem für sich – usw. So nun auch ein Staat, welcher gewissermaßen die Wiederholung der Menschheit ist; er wird stets um so vollkommener sein, wenn er die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen und künstlerischen Bildung der gesamten Menschheit in sich reproduziert. Ist es also nicht ein ähnlicher unbewußter Drang, welcher nun wieder die Bewohner einzelner größerer Städte dazu treibt, auf ihrem einzelnen Stückchen Erde nun auch einmal möglichst viele der lebenden Geschöpfe des Erdganzen zusammen zu vereinigen? –

So gelangt man also wirklich allmählich auf einzelnen Stellen der Erdoberfläche dahin, an Tieren und zugleich (durch die Botanischen Gärten) an Pflanzen, Repräsentanten der ganzen Erde, ihrer reichen Produktenwelt nach, zu schaffen, und betätigt dadurch, indem man zunächst nur meint, der Wißbegierde zu genügen, unbewußterweise zuletzt doch immer wieder jenes eben ausgesprochene große organische Gesetz.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 201-222.
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