III.

[233] Man weiß, daß Dresden im Winter 1850/51 jene Konferenzen der Gesandten aller deutschen Staaten in seinen Mauern sah, welche versuchen sollten, das, was dem Frankfurter Parlament unmöglich geblieben war – nämlich die Anbahnung einer vollkommenern und zeitgemäßern Einheit Deutschlands –, nun in Form diplomatischer Verhandlungen zustande zu bringen; eine Aufgabe, welche hier ebenso scheiterte am Partikularismus der Staaten, als sie dort gescheitert war am Partikularismus der Meinungen und Individualitäten. – Mich berührten die Herren natürlich wenig, ich traf mit ihnen zuweilen zusammen bei Hoffesten und anderen Soiréen, und nur zwei Persönlichkeiten erregten meine Aufmerksamkeit in höherm Grade, es waren Herr von Manteuffel und der Fürst Schwarzenberg, welche bei diesen Verhandlungen bekanntlich, der eine für Preußen, der andere für Österreich, ein großes Wort zu führen hatten. Beide erschienen[233] mir denn keineswegs zwar als Träger irgendeiner höhern Idee, wohl aber von einer gewissen praktischen Lebensschärfe, welche in Geschäften sich ihren Weg leicht zu bahnen versteht, aber auf diesem Wege durch die Zeit doch selten irgendein wahrhaft monumentales Zeichen zurückläßt. Der Kopfbau bei der war intelligenten Charakters, ohne übrigens bedeutend zu sein, und verlor noch bei dem Fürsten relativ dadurch, daß er am Ende einer so langen, steif aufragenden Gestalt stand.

Seit längerer Zeit nämlich war mir deutlich geworden, daß, nachdem ich soviel im einzelnen gesammelt und untersucht hatte, für Bedeutung charakteristischer Formen des menschlichen Baues, es mir gewissermaßen zu einer Notwendigkeit werde, nun all dies Mannigfaltige zuletzt zu einer Gesamtheit zu verbinden, damit so im ganzen jeglicher Teil seine richtige Stellung und sein angemessenes Verhältnis erhalten könne. Ich war lange zweifelhaft, unter welchen Namen ich ein Ganzes dieser Art zusammenfassen sollte, und entschied mich endlich, da man alle jene Besonderheiten leiblicher Bildung doch nur als ebenso viele Symbole seelischer und geistiger Eigentümlichkeiten ansehen darf, für den Namen einer »Symbolik der menschlichen Gestalt«, unter welchem Titel das Buch denn auch später im Jahre 1853 erschienen ist.

Neben dieser Arbeit korrespondierte ich noch öfters in kontemplativer Weise teils mit Regis, teils mit dem trefflichen, in Altenburg still der Wissenschaft lebenden von Lindenau. Mit letzterm brachten mich namentlich die Nachrichten von astronomischen Entdeckungen mit dem Riesenfernrohr des Lords Rosse über Nebelflecke in erneuten Verkehr. Man hatte an einigen dieser Lichtnebel seltsamerweise einen eigenen Spiralbau gefunden, und mein gelehrter Freund schickte mir die darüber erschienenen Abbildungen, was mich denn im höchsten Grade interessierte[234] und abermals darauf führte, wie sehr es zu beklagen sei, daß Humboldt im uranologischen Teile des »Kosmos« die Spirale in ihrer wichtigen Bedeutung als Urbewegung der Fixsterne und an sich unendliche Linie in einer unendlichen Welt auch so völlig unbeachtet lasse.

Sollten übrigens – wenn wirklich alle Nebelflecke durch stärkste Teleskope zuletzt in Sternenhaufen sich auflösen werden – jene wunderbaren spiraligen von Lord Rosse entdeckten Nebelflecke nun wohl ein spiralig durch den Weltraum ziehendes Heer von Sonnen vorstellen? Und sollten die einzelnen Sterne solchen Sternhaufens in ihrem sich spiralig Durcheinanderbewegen am Entstehen jener Spiralzeichnung des Nebelflecks Anteil haben? – Es wäre ein Gedanke, der die kühnste Phantasie schwindeln machte! Man fühlte dann erst recht, daß nicht nur jener ägyptische Priester einst einem Griechen sagen durfte: »Ihr Griechen seid immer noch Kinder!«, sondern daß solchen Problemen gegenüber alle Wissenschaft, die wir kennen, das Wissen eines Kindes bleibe.

An Regis schrieb, ich hinwiederum manches über Theater und Musik, und ich will hier davon noch zweier Stellen erwähnen, welche vielleicht ein allgemeineres Interesse haben könnten. Zu der ersten gab Veranlassung die Aufführung eines vielbesprochenen Stücks »Bajazzo« nach dem Französischen, in welchem hier und da vielerlei Gefährliches gewittert werden sollte. Wie gering müßte doch die Höflingsatmosphäre sein, die dies Stück für gefährlich erklärte! – Ich habe dabei nur wieder meine Betrachtung gehabt über den Griff ins lebendige Fleisch der Zeit, den die Franzosen immer voraushaben, wenn der Deutsche dagegen zuweilen freilich dem im »Hamlet« ähnlich bleibt, von dem gesagt wird: »Er habe Komplimente mit seiner Mutter Brust gemacht, ehe er daran getrunken!« – Bei all dergleichen muß man aber doch zugeben, daß der [235] rechte Deutsche dafür immer tiefer als der tiefste Franzose geht – geschweige denn als ein so Oberflächlicher als dieser Dichter!

Zu einer andern Betrachtung veranlaßte mich ein am 5. März gehörtes Konzert, worin eine Symphonie von Haydn, ein Teil der »Ruinen von Athen« von Beethoven und eine phantastische Symphonie von Berlioz aufgeführt wurde. Nach den ersten beiden Sätzen von Haydn, die merkwürdig rein und groß sind, kamen mir die zwei andern wohl etwas gering vor! Er kann dann einen gewissen Beigeschmack von Gellert haben, der in ähnlichem Sinne, trotz so viel Vortrefflichem, doch manches weniger Genießbare produziert hat. Von Beethoven war der Chor der Derwische jedenfalls am bedeutendsten! Er klingt sonderbar wüstenhaft und in sich drehend (an das Drehen des Derwischtanzes erinnernd) und gibt einen merkwürdigen Beleg ab für das zwar in der Tiefe immer vorhandene, sonst aber im ganzen weniger hervortretende Dramatische in jenem Geiste. – Endlich Berlioz! – Mein altes Wort: »Der Schrei der Kreatur nach einer neuen Musik«, fiel mir immer wieder ein, und doch war ich interessiert davon. Mußte übrigens auch dabei von neuem des eigenen beweglichen Charakters der Musik selbst gedenken oder vielmehr der Beweglichkeit unserer Vorstellung von ihrer Vollendung. – Vor 60 Jahren freute man sich noch an der »Jagd« von Hitler – und von dort zu Beethoven ist etwa ebenso weit wie von da zu Berlioz. Freilich, die reine Mitte (wie etwa Mozarts »Zauberflöte«) liegt auch dann immer dazwischen! Es fiel mir noch ein, daß man in Berlioz eigentlich zweierlei zu unterscheiden habe: Erstens das, was ich oben die Sehnsucht nach einem Neuen in der Musik nannte und was gewiß noch eine Zukunft hat (so etwa entdeckte ja unser Friedrich ein neues Feld in der Landschaftsmalerei) – und zweitens das, was ihm als[236] Franzosen, als Zögling jener Literatur der Verzweiflung angehört, wodurch seine Sachen sich unmittelbar neben die ungeheuerlichen Bilder des »Salon« stellen, von denen jetzt die Zeitungen berichten1 und womit die Wirkung des erstern immer wieder zum Teil zerstört wird.

Zu fernern musikalischen Erinnerungen gehört denn auch noch ein schöner Sommermondabend, an welchem zwei merkwürdige Talente in meinem Hause sich zusammenfanden, jedes in seinem Bereiche zu dem Höchsten seiner Zeit gehörig – Henselt und Tichatscheck. Zufällig hatte keiner von beiden den andern noch gehört und gekannt. (Henselt lebte ja seit langem in Petersburg), und so waren sie beide lebhaft angeregt und zu musikalischem Wettkampf trefflich aufgelegt. Nun spielte der eine seine melodischen Etüden, und die Tasten sangen unter seinen Händen, der andere aber sang dann seine Lieblingslieder von Franz Schubert, und wieder glaubte man jetzt erst recht, zu wissen, was Gesang eigentlich bedeute.

Zuletzt aber sei hier gedacht eines merkwürdigen historischen Konzerts der Kapelle im Theater am 7. November, worin sie ihre eigene Geschichte in Hauptmomenten vorführte und feierte. Ich hebe davon namentlich hervor, was ich damals über eine ganz außerordentliche Aufführung der Euryanthe-Ouvertüre niederschrieb: »Nicht nur wurde sie so vortrefflich gespielt, wie ich sie nie gehört habe, sondern ich möchte fast sagen, daß ich überhaupt noch nie Instrumentalmusik so vollkommen gehört habe wie diesmal. Man weiß schon, so etwas ist dann eine Schickung – liegt in der Luft – in der Zeit – in dem Menschen – kommt auch gerade so nie wieder.«

Sonst also, wie gesagt, schlangen die Horen dieses Jahres[237] noch leicht und glücklich ihren Reigen; die Meinigen waren wohl, und Tage auf Tage wandelten meist erfreuend und erhebend vorüber. War doch in diesem und dem folgenden Jahre noch auch meine geliebte Eugenie so recht die Freude und der Glanz unsers einfachen Lebens! Und wenn ich da ihre schöne Stimme aus einem Mendelssohnschen Quartett heraushörte, wie deren wohl zuweilen auf heitern Gondelfahrten um unsere Pillnitzer Insel gesungen wurden, so hatte dabei noch niemand eine Ahnung, daß in nicht zu ferner Zeit schwere Verluste uns mit Zentnerlast niederdrücken sollten!

Indem nun aber zwischen den täglichen ernsten Lebensaufgaben meines Berufs und meines Amtes in dieser Art Kunst und Literatur uns vielfach in Anspruch nahmen und nachdem (beiläufig zu sagen) ein ungeheuerer Schneefall am 21. November uns ein paar Tage fast ganz im Hause eingeschlossen gehalten hatte, brachen jetzt in Frankreich ganz unerwartet gegen den Jahresschluß die merkwürdigen Ereignisse durch, welche auch da die letzten Überreste konstitutionellen Lebens vernichten und die nächsten Vorbereitungen zum wiederkehrenden Kaisertum begründen sollten. Man weiß, wie jener Staatsstreich vom 2. Dezember der Republik ein Ende machte, die Freisinnigen durchaus vertrieb, Louis Napoleon an die Spitze der Verwaltung stellte, und nachdem uns so lange das Schreckbild des roten Kommunismus, am jenseitigen Ufer des Rhein immer neu auftauchend, bedroht hatte, gab zwar dieser Absolutismus somit augenblicklich eine gewisse Sicherheit und Ruhe, indes man fühlte etwas dabei von »der Ruhe eines Kirchhofs« und wurde ebendeshalb wieder unwillkürlich nach der entgegengesetzten Seite gedrängt und zum Widerspruche gereizt. So schrieb ich daher um diese Zeit:

»Im Politischen kann jetzt eigentlich nur eine Pagodennatur[238] mit fettblinzelnden Augen und über den feisten Leib bequem gekreuzten Händen wegen weiterer Aussicht auf Ruhe vollkommen gut sich befinden; jeder hagere Cassius, der mehr denkt als ißt, sieht dagegen in der jesuitisch-russischen Knebelung Frankreichs für längere Zeit selbst noch das einzige Organ verstummt, das, wenn auch zuweilen unter viel krausen und unnützen Deklamationen, die Anforderung der Menschheit an einen gewissen höhern Vernunftszustand mindestens immer wieder neu in Frage stellte!«


Da stieg nun das Jahr 1852 herauf, und als am Morgen des 3. Januar wieder mir, wie sonst oftmals, Musik den Eintritt auch ins neue Lebensjahr verschönen sollte, waren die beiden guten, abends zuvor noch sorgfältig für Mozart und Beethoven vom Stimmer durchgegangenen Flügel in unerklärlicher Weise verstimmt, und zugleich fanden sich die sonst so frischen Kehlen Karolinens und Eugeniens so heiser, daß fast alle Musik unterbleiben mußte. Es gibt wunderliche Ahnungen! Hier und da schreiten wohl Nebelbilder kommender Ereignisse den wirklichen Begebenheiten seltsam voran! – Und so schien es diesmal bei uns, denn als das Jahr mir so schrecklich endete, gedachten wir alle jener unerklärlichen Verstimmung an seinem Anfange! – Eine große, sehr gelungene Musikaufführung jener anmutigen Schöpfung des noch jugendlichen Mendelssohn, »Die Heimkehr«, verwischte am Abend den trüben Eindruck des Morgens großenteils – und sei daher jetzt auch hier dieses schönen Werkes noch etwas ausführlicher gedacht! – Es ist aber dies eine kleine Oper – ein ländlich einfaches Sujet –, von Mendelssohn im 21. Jahre in England geschrieben und seinen Eltern zur silbernen Hochzeit gesendet, jugendlich reizend durch und durch; zu zart, um auf unsern großen Bühnen aufgeführt zu[239] werden, füllte es dagegen, auf einem Familientheater dargestellt oder, wie bei uns, am Flügel durch liebe und befreundete Stimmen gesungen, einen Abend im schönsten und erheiterndsten Sinne aus. War doch jener Felix ein so früh schon in voller musikalischer Schönheit erschlossener Genius! Jeglicher Aufgabe gewachsen, mit Leichtigkeit alle Schwierigkeiten seine Kunst überwindend und gerade wegen der so vollendeten dramatischen Charakterzeichnung in dieser kleinen Arbeit, ist es mir daher immer merkwürdig gewesen, daß späterhin ihm doch durchaus keine Inspiration für größere Opernmusik hatte kommen wollen! – Die Lyrik und das Kirchlich-Epische hatten das Aufkommen des Dramatischen, wie es scheint, völlig unmöglich gemacht! – Aber, wie gesagt, an jenem Abend hatte dies Jugendwerk mich wieder mit voller Macht ergriffen, wozu noch kam, daß ich es nun schon zum dritten Mal hörte und somit sein ganzer Bau mir immer durchsichtiger geworden war. Übrigens ist es vielleicht bisher das unbekannteste von Mendelssohns Werken geblieben, gewiß hauptsächlich deshalb, weil zu seiner genügenden Aufführung doch so manche Bedingungen und namentlich gewisse Traditionen gehören, die nicht so leicht zu erfüllen und zu erhalten sind, Schwierigkeiten, welche hier durch den uns befreundeten Eduard Devrient (später Intendant des Theaters zu Karlsruhe), den vieljährigen nahen Freund Mendelssohns, glücklich behoben wurden, so daß es freilich gewiß sehr zu Nutz und Frommen künftiger Musikfreunde dienen würde, wenn derselbe über die Art und Weise, wie diese kleine, längst schon gestochene Operette für solche Zwecke behandelt werden muß, zu gelegener Zeit einige bestimmtere Fingerzeige in dieser Beziehung bekanntmachen wollte.

Was dagegen meine Arbeiten betrifft, so war die größte jene früher schon erwähnte »Proportionslehre menschlicher[240] Gestalt«; die kleinere eine Vorlesung für die Gesellschaft Albina, zu welcher mich ein Rückblick auf die republikanische so weit verbreitete Aufregung des Jahres 1848 gebracht hatte und welche später unter dem Titel »Geistesepidemien der Menschheit« gedruckt erschienen ist. – Die Vorbereitungen zu der »Proportionslehre« schrieben sich eigentlich von jener Zeit her, wo ich überhaupt anhub, mich mit der Symbolik des Äußern am Menschen zu beschäftigen. – Natürlich nämlich mußte da es eine der wichtigsten Aufgaben sein, für die Verhältnisgrößen menschlicher Gliederung ein durchaus bestimmtes mittleres Maß festzusetzen; denn bevor von den Abweichungen und ihrer Bedeutung der Rede sein konnte, mußte doch notwendig die Regel selbst festgestellt sein. Aber welches Maß durfte hier gelten? Viel war in dieser Beziehung herumgetastet worden, und ein philosophischer Grund war noch nie für irgendein wirkliches Urmaß aufgestellt worden. Bei jenen Vorbereitungen für die Symbolik nun kam ich darauf: Dieses Urmaß könne einzig und allein in der Wirbelsäule gegeben sein – und so war es wirklich! Ich muß den Morgen, an welchem ich an einem ausgewachsenen normalen menschlichen Skelett zuerst es entdeckte, daß die gerade Länge aller 24 freien Rückenwirbel, sobald sie genau in drei gleiche Teile geteilt wird, nun in einem jeden solchen Dritteil diejenige Größe wirklich darstelle, welche für alle wesentliche Gliederung des Knochenbaues die allein entscheidende und maßgebende bleibt, stets als einen besonders gesegneten betrachten, und ich hoffe, daß je mehrere sich nach und nach von dem einfachen Prinzip dieser Lehre und von den tausendfältigen nützlichen Anwendungen derselben überzeugen, um so eher wird diesen Ansichten auch die gebührende allgemeine Anerkennung zuteil werden!

Unter alledem kam denn jetzt abermals die Zeit des Frühlings[241] heran und mit ihr noch einmal ein neubelebter brieflicher Verkehr mit Regis, welcher sich eben mit Übersetzen gewählter Stellen der Iliade beschäftigte. Einst, als er mir über Lebensfreuden und Hinblick auf das Jenseits geschrieben hatte, erwiderte ich ihm: »Was das Gefallen am Leben betrifft, stimme ich Ihnen ganz bei – in bezug auf jenseitige Zustände aber verhalte ich mich nur still erwartend; denn wenn man im Leben so vielfältige Entwicklungsstufen durchgegangen hat, von welchen sehr oft die gerade gegenwärtige auch die herrlichste schien, obwohl dann in der folgenden Dinge sich begaben, von denen man zuvor noch gar keine Ahnung gehabt hatte, dergestalt, daß frühere Tage sich gegen sie verhielten wie die, von denen Kleopatra sagt:


My salad days

When I was green in judgment, cold in blood,

To say as I said then2


dann wird man vorsichtig mit allem Absprechen über Möglichkeiten der Zukunft!«


Nach Pillnitz zogen wir in diesem Jahre im Vorsommer, und ich darf sagen, daß dieser Landaufenthalt uns von Jahr zu Jahr lieber wurde. Im Äußerlichen jedoch änderte sich diesmal manches. Meine Wohnung auf dem Schlosse, die ich nun zum vierundzwanzigsten Mal bezog und sonst immer in demselben altmodigen Zustande zu finden gewohnt war, traf ich diesmal von einem neuen Oberhofmarschall sehr elegant eingerichtet und durchaus modernisiert,[242] dadurch aber auch dem ausgesetzt, daß bei sich häufenden Gästen des Hofs sie geräumt werden und den Fremden überlassen werden mußte. Indem dadurch natürlich nun der Wunsch angeregt worden war, vom Drange solcher Zufälligkeiten mich mehr und mehr emanzipieren zu können, brachte mich das auf den Gedanken, dieses Wohnen im Schlosse überhaupt aufzugeben und in meiner eigenen kleinen Villa einen Umbau vorzunehmen, welcher mich in den Stand setzte, dort mit den Meinigen zusammen zu wohnen, ohne darum mich irgendwie zu weit von der königlichen Familie entfernt zu finden. Lag doch dies kleine Haus so freundlich am Fuße jener Hügel, deren erster auch die schöne Besitzung unserer Freundin von Lüttichau trug, und hatten wir uns doch immer gerade dieser Nähe besonders gefreut. Kurz, der Plan, hier immer mehr und mehr solch kleines Tuskulum zu gestalten, wurde vielfach besprochen, auch Regis schrieb ich davon, und eines Abends entwarf ich eine Zeichnung zum Umbau, welche allgemeine Billigung fand, und die Ausführung sollte denn auch schon im Herbst bewerkstelligt und im Frühjahr vollendet werden.

Außerdem finden sich unter meinen Papieren noch folgende Fragmente aus diesem Pillnitzer Sommerleben:

»Wir sahen heut das schöne Blatt nach Guido Reni: – Phöbus' Wagen von Horen umschwebt und von Aurora verkündigt –, und es fiel uns auf, welche eigen derbe Gestalten Guido hier gebildet hatte! – Fast darf man sagen, es herrsche ein gewisser – beinahe roh zu nennender – Charakter in den Formen dieser Gottheiten, und doch mußte man sich gestehen, daß nichtsdestoweniger ein durchaus edler Geist das Ganze durchdringe und die Erscheinung des Schwebenden, Morgendlichen, Erleuchtenden überall prächtig in dem Werke fühlbar werde. – Solch scheinbarer Widerspruch gab mir mannigfaltige Gedanken! – Warum[243] stört nun hier eine gewisse irdische Schwere im einzelnen so gar nicht die ätherische Leichtigkeit im Ganzen?

Ich mußte zuletzt hierbei doch nur mich erinnern, wie beim Kunstwerke ja stets am meisten bestimmend, ja endlich entscheidend die Grundidee desselben und deren Wert und Gesundheit wirke! – Gibt man sich dem Eindrucke recht hin, den jenes Blatt im Ganzen macht, so fühlt man ihm alsbald ein gewisses Primitives und Selbstschöpferisches an, das vielen modernen Werken gerade so sehr fehlt und das hier nun alles einzelne in eine neue frische Region hinaufhebt und verschönt. Ist aber dies Primitive, dies Selbstschöpferische der Idee in einem Kunstwerke in Wahrheit vorhanden, hat der Künstler vermocht, wirklich eben diese Macht zur Wahrnehmung zu bringen, dann ist ihm im einzelnen und überhaupt in dem Wie der Darstellung eine ungeheuere Freiheit gegeben.

Gilt doch dies auch keineswegs etwa bloß von Werken der bildenden Kunst! Ganz die gleiche Forderung ist dem Dichter gestellt und ähnliche Freiheit dann auch ihm gegönnt. Das nächste Beispiel dieser Art ist mir immer Calderon gewesen! Er, dessen dramatische Gestalten sämtlich so wenig Mark und Bein haben, daß eigentlich niemand ihnen irgend wahrhaft menschliche Bedürfnisse und menschliche Existenz abfühlen könnte! – Und ist darum etwa Calderon weniger Dichter, und ist sein ›Standhafter Prinz‹, sein ›Wundertätiger Magus‹, seine ›Semiramis‹ etwa eine weniger große und mächtige poetische Gestalt?«

Dann besprach ich neulich auch noch einmal mit einem Bekannten das früher schon des breitern berührte Verhältnis von Reinhard und Goethe, wie es sich in dem herausgegebenen Briefwechsel zwischen beiden darstellte. Man mag sich diese beiden Naturen wohl am besten vergegenwärtigen, wenn man die eine als Fläche, die andere als Körper sich vorstellt. Wo Reinhard recht verständige[244] Zeichnungen auf einer und derselben Ebene entwirft und so manche Verhältnisse weltlicher Angelegenheit recht klar und einfach zur Anschauung bringt, da geht aus Goethe selbstschöpferisch die volle runde Gestalt der Dinge hervor, und alsbald fühlt man, daß uns nur so, zugleich mit der lebendigen Form, die wahre geistige Idee geboten wird – welche Darstellung von beiden uns aber dann am meisten befriedigen müsse, ist nun freilich leicht abzusehen.

Endlich aus einem Brief an Regis: »Der Mensch allerdings, wenn die Deichsel des Rennwagens sich abwärts richtet, sieht mehr und mehr, mit welcher Menge von Ballast er behaftet war, und freudig, wie der Luftschiffer seinen Sand auswirft, um in immer höhere Regionen sich zu erheben, sucht auch er nach und nach von dieser Überfracht sich zu lösen.«

Doch es sei hiermit genug dieser Blumenlese einzelner zerstreuten Blätter aus jenem Sommerleben!

1

Es waren unter andern: Schiffbrüchige unter Eisbären geraten, von Biard, oder: Ein Blick in einen Dampfer beim Sturm, wo alles an Seekrankheit leidet, und dergleichen mehr.

2

Shakespeare: »Antonius und Kleopatra« 1,5 (in der Schlegel-Tieckschen Übersetzung): »Meine Milchzeit, / Als mein Verstand noch grün! Du kaltes Herz, /zu sprechen, wie ich damals sprach / Komm, fort, /Bring mir Papier und Tinte!« (Anmerkung des Herausgebers.)

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 233-245.
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