I.

[483] Es gab mir zuweilen eigene Gedanken, wenn ich daran mich erinnerte, wie Goethe damals, als die Frage in seinem Leben aufgeworfen wurde, »ob nach Hof oder nicht nach Hof«, so lange das Für und Wider erwogen und so manchen humoristischen Einfall daran geknüpft hatte. Bei mir war es allerdings schneller entschieden – ich war nun drin, und am 7. Oktober 1827 trat ich mit den gewöhnlichen formellen Besuchen ein, die damals doch noch im braunen Hofrock mit goldbesponnenen Knöpfen, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen gemacht wurden. Ich machte also fortwährend, abwechselnd mit Francke, eine Woche um die andere, einige formelle Besuche am Hofe, bei deren einen der gute alte königliche Herr selbst mir sagte: »Wenn Sie ein paarmal in der Woche nachsehen, ob ich noch lebe, so ist's schon gut«, und so behielt ich denn, außer einer sonst soviel ruhigern und ehrenvollern Stellung, für meine Arbeiten und meine ärztliche Praxis beträchtlich mehr Zeit übrig, als ich früher gehabt hatte. Einmal wöchentlich, Sonnabend von 9 bis 12 Uhr, hatte ich Session in der Landesregierung, und auch hier wußte ich vieles, da man doch immer wieder von neuen Standpunkten m menschliches Leben hineinsah, für eigene Entwicklung auszubeuten und ging oft von da durch neue weitere Ansichten der Verhältnisse bereichert zu Hause.

So schien denn wohl jetzt alles recht darauf angelegt, eine[483] Periode stiller, mehr innerlicher Tätigkeit einzuleiten und jegliche Schwankung und Unsicherheit im Äußern abzuwenden – und doch sollte es nicht so bleiben! Schon am Abend meines Geburtstags 1828 war es, daß meine Mutter mit der Dämmerung ins Zimmer trat und mir einen Brief gab, der eben von Berlin angelangt sei. Ich öffne ihn und finde, daß man mir unter äußerst glänzenden Bedingungen von dort den Ruf sendet, die Professur der Klinik anzunehmen. Natürlich wachten nun alle Geister, die mich schon früh zur lehrenden akademischen Tätigkeit drängten, mit Macht wieder auf, ja es schien mir fast Feigheit, eine so große und weite Wirksamkeit, wie sie dort geboten wurde, nur so unbedingt hin abzulehnen. Andererseits fühlte ich freilich sogleich wieder deutlich: mit dem stillen Forschen im Reiche der Isis wie mit aller Freude an der Kunst möchte es dann wohl für immer vorbei sein! Kurz, die Sache regte mich im höchsten Grade auf, und ich konnte mich vorderhand nicht entschließen, eine bestimmte Entscheidung zu fassen.

Bevor ich weitergehe, muß ich übrigens sogleich noch gedenken, daß ich bei dieser freiern Stellung schon im Dezember angefangen hatte, einem Kreise von Räten, andern Geschäftsmännern und Offizieren in dem hübschen Saale meiner neuen Wohnung einige anthropologische Vorträge zu halten, und allerdings trug auch das Interesse, das meine Zuhörer den Gegenständen und mir bewiesen, sowie die Freude, mich wieder im Lehrfache tätig zu fühlen, abermals dazu bei, mich mehr an Dresden zu fesseln und mir eine Zusage auf jenen Berliner Vorschlag zu erschweren. Auf der andern Seite ließ man jedoch mich auch dort nicht so leicht los. Da ich zögerte, mich zu erklären, sendete Minister Altenstein meinen alten Freund, den Geheimrat Schulze selbst nach Dresden, um die Unterhandlungen zu fördern. Die Professur allein sollte auf[484] 5000 Taler Gehalt gesetzt werden, und noch andere Vorteile wurden zugesagt, mit einem Wort, der Entschluß wurde immer schwieriger. Auch in Dresden dagegen, als der Oberkämmerer des Königs Kenntnis von der Sache erhielt, blieb man nun nicht untätig, auch hier wurden mir Zusicherungen einer verbesserten Stellung gegeben, ein Gefühl der Dankbarkeit und eigentümlicher Verehrung, das mich bereits dem königlichen Hause verpflichtet hatte, kam hinzu, kurz, ich entschied mich endlich dafür, auch diesen Antrag gleich den frühern abzulehnen. Schrieb damals über diese Ablehnung an Regis: »Ich glaube allerdings hier meinem innersten Wesen wieder ganz konform geblieben zu sein, und obwohl ich Ihre Ansicht keineswegs teile, daß man soviel als möglich dem Mitwirken am öffentlichen Staatsleben sich entziehen müsse, vielmehr es für die rechte Aufgabe jedes Tüchtigen halte, mit einzugreifen, und wenn auch nur ein Sandkorn damit am großen Bau der Zeiten gefördert würde, so glaube ich doch auch, daß man nur dann eine vollkommen tüchtige Wirksamkeit üben könne, wenn man geistig möglichst gesund und mit Rundung entwickelt ist, und das letztere bin ich denn allerdings überzeugt hier weit eher als dort zu erlangen.«

So waren denn also auch diese Zweifel wieder beseitigt, und ich fing an, nach und nach mich in meiner veränderten Bestimmung mehr einzugewöhnen.

Auch Tieck konnte ich nun bei etwas mehr Muße mit größerer Freiheit genießen. Mit Freuden fühlte ich hier abermals einer bedeutenden Vorzeit mich zugewendet und schwärmte dafür, aus seinem Munde Sophokles und Euripides mir nähergerückt zu erfahren. Eines Abends erinnere ich mich noch besonders, wo Tieck die »Antigone« ganz trefflich vorlas; alle waren wir von dem mächtigen Werke und dem schönen Vortrage lebhaft ergriffen,[485] ich aber war nicht wenig frappiert, als mitten in dieser allgemeinen Aufregung des Lobes und der Bewunderung ein junger, ebenfalls anwesender Fürst L ... mich fragte, ob denn wohl bei den Griechen ein so kurzes Stück einen ganzen Theaterabend ausgefüllt hätte, was denn glücklicherweise Tieck nicht hörte, dessen Humor eine solche Naivität vielfältig ausgebeutet haben möchte.

Mitten unter dergleichen heitern Lebensaufgaben überraschte mich jetzt eine Aufforderung des Prinzen Friedrich, ihn auf einer Reise durch Italien zu begleiten. Das schöne Land »dove il si suona«, von dem ich kaum den obern Rand, und den noch unter gedrängten Verhältnissen, hatte kennenlernen, so mit einemmal reich und glänzend sich wieder auftun zu sehen, war mir natürlich von unsaglichem Werte und gab meinen Bestrebungen plötzlich einen ganz neuen Zielpunkt.

Endlich waren denn alle Vorbereitungen beendigt, alle die kleinen Scheidebriefe und Testamente gefertigt, mit denen der Mensch mit einem empfänglichen Herzen in diesem flüchtigen Leben so vielfach sich zu waffnen hat und die schon bei so viel kleinern Gelegenheiten, geschweige denn bei allen größern Auszügen zur Geltung gelangen, und so kam der 1. April heran, an welchem Tage ich im Gefolge des Prinzen, meines künftigen königlichen Herrn, mit Obristhofmeister von Minkwitz, dem Adjutanten Obrist von Cerrini und den durch längern Aufenthalt früher in Italien einheimisch gewesenen Professor Hartmann, dessen ich oben schon als Maler gedacht habe, jene Reise antrat, welche über Wien und Venedig nach Florenz, von da nach Rom und Neapel und endlich wieder zurück nach Florenz und dann über die Schweiz nach Hause sich wendete.

Ein eigenes und schönes Gefühl war es mir gewesen, in Florenz von Goethe die Antwort auf mein Schreiben, mit[486] welchem ich ihm noch vor der Abreise das Werk über die »Ur-Teile des Knochengerüstes« zugesendet hatte, und den Dank für dieses Werk zu erhalten. Habe ich irgend von Mitlebenden für diese mühevolle große Arbeit einer wohltuenden und reinen Entgegnung mich zu freuen gehabt, so war es diese, und ich darf auch diese Worte hier nochmals wiederholen, da der Ort und ihre eigene Schönheit in so hohem Grade es rechtfertigen. Unter dem 8. Juli nämlich hatte er von Weimar geschrieben:

»Ein alter Schiffer, der sein ganzes Leben auf dem Ozean der Natur mit Hin- und Widerfahren von Insel zu Insel zugebracht, die seltsamsten Wundergestalten in allen drei Elementen beobachtet und ihre geheim-gemeinsamen Bildungsgesetze geahnet hat, aber, auf sein notwendigstes Ruder-, Segel- und Steuergeschäft aufmerksam, sich den anlockenden Betrachtungen nicht widmen konnte, der erfährt und schaut nun zuletzt, daß der unermeßliche Abgrund durchforscht, die aus Einfachstem ins Unendliche vermannigfaltigten Gestalten in ihren Bezügen ans Tageslicht gehoben und ein so großes und unglaubliches Geschäft wirklich getan sei. Wie sehr findet er Ursache, verwundernd sich zu erfreuen, daß seine Sehnsucht verwirklicht und sein Hoffen über allen Wunsch erfüllt worden. Mehr darf ich nicht sagen, denn ich habe kaum einen Blick in das Werk getan, der aber schon auf das vollkommenste erhebt und befriedigt.

Mit den treuesten Wünschen und Grüßen folge dem würdigen Naturforscher gegenwärtiges Blatt, und wo es ihn trifft, sei es Zeuge meines Danks und meiner Segnungen.


Und so fortan treu teilnehmend

J.W. Goethe.«


Bin ich aber einmal dabei, der Anerkennung zu gedenken, welche diese große Arbeit hier und da fand, so muß[487] ich doch auch ein mit obigem Briefe fast gleichzeitiges Dankschreiben von Alexander von Humboldt erwähnen, welches mir seinen Beifall in nachstehender Weise ausdrückte:

»Potsdam, 15. Juni 1828. Seit fünf Tagen besitze ich durch die Güte des Geheimrat Schulze Ihre herrliche Schrift über den Knochenbau, und seit fünf Tagen bin ich ununterbrochen damit beschäftigt. Lange hat mich nichts so bewegt als Ihre großartigen Ansichten der Natur ... Meine schönsten Hoffnungen, Sie für den hiesigen Staat zu erwerben, sind leider nicht erfüllt worden ... Ich fühle bei Erscheinung dieser Ihrer letzten Arbeit doppelt, was mir entfahren, aber ich ehre und billige die Motive, welche Sie in dem schönen Lande zurückhalten, dem ich meine mineralogische und bergmännische Bildung verdanke und in dem die Freunde meiner Jugend leben. Ich glaube an die Einheit unsers deutschen Vaterlandes und das geistige Bestreben der Menschen. Die, welche – wie Sie und ich – den Wissenschaften leben und die Freuden, welche die Intelligenz gewähren kann, jeder andern vorziehen, müssen unablässig dahin arbeiten, das Band, welches alle wissenschaftlichen Institute verbinden soll, inniger zu knüpfen. Ihre historische Einleitung, Ihre Vorbegriffe, die allgemeinen Begriffe über den Organismus, die Hautskelette der Amphibien, die Kopfwirbel der Fische und die Antlitzbildung des Menschen, haben mich besonders entzückt. Was mir von den geometrischen Konstruktionen, den Zahlenverhältnissen und ihrer Beziehung auf Musik, von der Wiederholung der Formen in den einzelnen Gruppen, zum Beispiel von den Gliedmaßen des Schädels, jetzt noch minder überzeugend scheint, wird es bei ernsterm Studium werden. Wie angenehm wäre uns Ihre mündliche Belehrung, wenn Sie uns zur Gesellschaft der Naturforscher mit Ihrer Anwesenheit beehrten. Ich[488] werde wahrscheinlich meinen König nach Teplitz begleiten, aber schon im August hier sein. Künftiges Frühjahr gehe ich nach dem Ural und Tobolsk.


Mit der freundlichsten Hochschätzung

Ew. Hochwohlgeboren ergebenster

Al. Humboldt«


Bald nachdem die Unruhe der Rückkehr sich beschwichtigt hatte, zogen wir nach Pillnitz. Das Zimmer des Schlosses, das ich in diesem und vielen der folgenden Sommer bewohnte, hatte eine reizende Aussicht auf die breite Elbe und die reichbelaubte Insel auf ihr. Die Reinheit der Luft, die Stille des Orts, das Rauschen des Wassers, die Klarheit der Fernen, sie waren so recht geeignet, meinen Gedanken zu gestatten, noch um alle die kurz zuvor gesehenen Schönheiten zu schweifen. Ich schrieb dort meine Tagebücher, ordnete meine Zeichnungen, lebte mittags und abends mit den Meinigen, welche im Dorfe ein leidliches Unterkommen gefunden hatten, und unter vielfachen Erzählungen und Besprechungen durchstrichen wir denn auch wohl die anmutigen Hügel und Täler um Pillnitz, welche schon in diesem Jahre mir lieb wurden und künftig mir immer lieber werden sollten.

In jenen Jahren war auch auf dem Schlosse mit Dekorierung des festlichen Speisesaales und der neugebauten Hofkapelle Professor Vogel beschäftigt, Sohn des Malers Vogel, dessen Kinderköpfe und Kindergruppen einen sehr ausgebreiteten Ruf bekommen hatten. Wir wurden bald bekannt, und ist uns derselbe lange Jahre ein treu teilnehmender Freund geblieben. Man weiß, daß die Kunst ihm eine große Sammlung zum Teil trefflich gezeichneter Köpfe irgend bekannter oder berühmter, namentlich für Kunst sich interessierender Zeitgenossen verdankt,[489] und es hat derselbe denn damals auch einen sauber gezeichneten Kopf nach mir vollendet, welcher sich in einem der ersten Bände dieser bedeutenden, jetzt der königlichen Kupferstich- und Handzeichnungsgalerie anheimgefallenen Sammlung befindet. Auch er war viel in Italien gewesen, und alles dies gab, wie meine eigenen Kunstbestrebungen, manche Gelegenheit zu näherm Verkehr. Nebenbei sahen wir übrigens mitunter in einem leichtgebauten Hause der innern königlichen Gärten – es war eigentlich das Haus, in welchem in den Wintermonaten die Orangerie aufbewahrt wurde – Komödien und kleine Opern aufführen, wozu jedesmal die Familien der irgend dem Hofe näherstehenden Personen eingeladen wurden, und auch ein solcher kleiner Überrest jener frühern glänzenden ländlichen Hoffeste, welche den sächsischen Hof sonst auszeichneten, war mir durch manche Eigentümlichkeit interessant. Kurz, diese ganze Villeggiatura, die ich hier zum erstenmal so miterlebte, war mir eine neue merkwürdige Erfahrung, und ich, der ich bisher fast immerfort in der unausgesetztesten Weise nur in Mühe und Arbeit eingetaucht gewesen war, fand mich hier in eine angenehme Muße versetzt, die mir denn zwar später auch wieder zu vielfachen geistigen Arbeiten die alleinige Möglichkeit geboten hat, zu jener Zeit aber um so angenehmer mir erscheinen mußte, weil sie durch lange vorausgegangene Entbehrungen und Mühsal gehoben wurde.

Eine neue Erfahrung gab es ferner im Laufe des beginnenden Winters, in dem Friedrich Schlegel nach Dresden gekommen war und Vorlesungen hielt über eine Philosophie, welche er, dem es besonders um Ausbreitung des katholischen Glaubens zu tun war, gänzlich im Sinne dieser Richtung entworfen und durchgeführt hatte. Ich höre diese Vorlesungen, weniger aus ursprünglichem Interesse[490] und mehr als Mitglied der Naturae Curiosorum mit an, indem ich sie wesentlich als einen Spiegel der Zeit betrachte. Es verfließen da manche ganz sinnvolle, ja tiefe Gedanken mit vielen unreifen, unklaren und höchst willkürlichen Annahmen, so daß das zahlreiche Publikum, welches die Vornehmsten außerhalb des Hofes umfaßt und zur Hälfte aus Damen besteht, oft wunderlich genug dreinsieht. – Er war viel mit Tieck, welcher, auch in diesem Herbste erst aus der Schweiz zurückgekommen, seinen Salon wieder regelmäßig geöffnet hatte und vielerlei Schönes und schön las. Natürlich gab die Anwesenheit Schlegels manchem dieser Abende einen eigenen pointiert ultramontanen Beischmack, so daß ich selten oder gar nicht mich dort einfand. Eine Zuflucht im Kloster nach einem vielbewegten, vielgequälten Leben gleich dem eines Tasso, über dessen letzte Zelle in San-Onofrio zu Rom die guten Mönche geschrieben hatten: »Sera malorum Pausa«, das konnte ich wohl recht verstehen, aber für den modernen Katholizismus eines Friedrich Schlegel ging mir der Sinn ganz und gar ab.


Das Jahr 1829 eröffnete sich mir mit meinem vierzigsten Geburtstage sehr musikalisch und hat mir überhaupt in dieser feinen Kunst manchen besondern Genuß gebracht. Für diesmal war es die »Zauberflöte« Mozarts, die die mehrfach genannten musikalischen Freunde abends am Flügel mit großer Vollkommenheit aufführten; und in Wahrheit! Eine solche Aufführung, die an sich immer ein besonderer Prüfstein des Echten und Tüchtigen in der Musik bleibt, ist bei Werken gleich diesem, wo auf der Bühne so viel Absurdes im Dialog mit in Kauf genommen werden muß, ganz vorzüglich geeignet, den Reichtum und die Schönheit des Ganzen vollkommen zum Verständnis zu bringen. In der gesamten Musik des hier vorgeführten[491] Priestertums (welches eigentlich keins ist, sondern einen Bund der Weisheit, der Philosophie bedeuten soll) ist eine Tonart angeschlagen, die bis dahin noch niemand gehört hatte und der auch seitdem nichts anderes gleichgekommen ist; eine Tonart, die sich zur Kirchenmusik genau so verhält, wie sich verhält Philosophie zur Religion oder Wissenschaft zum Christentum. Sie haben beide Schönheit und Größe und Wahrheit gemein und sind doch jegliche so eigentümlich. Ein drittes dieser Art hat vielleicht so viel späterhin nur Mendelssohn geleistet, in den großartigen Chören der Priester seiner Goetheschen »Walpurgisnacht«, als deren Gesamtcharakter nun wieder zwischen Sarastro und Kirchenmelodie gerade so steht, wie eine reine Naturreligion stehen müßte zwischen Wissenschaft und Christenglauben.

Manches andere wichtig Musikalische schloß dann in den folgenden Monaten noch jenem Mozartschen Studium sich an. Zuächst um Ostern, indem um diese Zeit durch den Kapellmeister der Italienischen Oper, Morlacchi, eingeführten großen Konzerte des Palmsonntags, wo ich Pergolesi in seinem »Stabat mater« kennenlernte, und späterhin dann in der seltsamen und doch eigentümlich großen Erscheinung Paganinis. – Schon in dem ersten jener Palmsonntagskonzerte, welches ich 1828 unmittelbar vor meiner italienischen Reise hörte, war mir im »Judas Mackabäus« von Händel eine Musik aufgegangen, von der ich damals schrieb: »Wie wenn jemand Berge zwar gesehen, aber Alpen nicht, und nun kommt er in die echten Alpenregionen und fühlt jetzt eine bisher in ihm nur schlummernde Vorstellung zur lebendigen Anschauung erwacht, so ist es mir gewesen bei dem gewaltigen, durchaus alpenhaften Charakter dieser Händelschen Musik! Wieder ein ganz anderer Genius als Mozart, und doch auch so außerordentlich schön! – Ein Michelangelo neben[492] Raffael!« Indes auch Pergolesi war mir merkwürdig! Dieser Gesang von den Marien unter dem Kreuze, so rein und klar, nur von Saiteninstrumenten begleitet, von zwei italienischen Sängerinnen, einer Alt- und Diskantstimme, schön vorgetragen; es war eine durchaus katholische, vollkommen klösterliche Musik, aber in diesem Sinne denn auch außerordentlich vollendet.

Was aber soll ich endlich von Paganini sagen, der um diese Zeit mehrmals in Dresden auftrat! Diese verwundersame Erscheinung! Dies blasse, steife Gesicht, wie das abgehauene Johanneshaupt in der Schüssel der Herodias! Und dabei doch ein wühlendes, tiefinnerliches Feuer! Es lag etwas Dämonisches auf dem Menschen, aber nie hatte ich zuvor eine so klare Tonbildung gehört, gegen alle andere kam sie mir vor wie volles italienisches Sonnenlicht gegen deutsches, und eben deshalb konnte man nicht los von ihm! Spielte er gute Kompositionen (worunter doch gar manche seiner eigenen allerdings gehörten), so war die Freude an solcher Tonbildung hinreißend, wurde auch wohl durch manche humoristische, nur von der ungeheuersten Fertigkeit eingegebene Bizarrerie erhöht. Mitunter freilich verlor er sich in die widrigsten Parforce-Touren, und nur die sichere, überall durchleuchtende Genialität machte zuletzt auch diese erträglich. Er war damals 45 Jahre alt, ich habe ihn später nicht wieder gehört.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 483-493.
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