Zweiter Teil

[270] Nach alle diesem darf man wohl sagen, es sei vorzüglich jenem in neuerer Zeit immer allgemeiner hervortretenden Drange nach scharfer, ja stets weiterstrebender Erkenntnis zuzuschreiben, daß, je mehr man überhaupt zu klarerm Selbstbewußtsein heranwuchs, immer auch um so mehr die genauere Selbstschau – und infolgedessen die ausführlichere Beschäftigung mit Biographien und namentlich mit Aufzeichnungen des eigenen Lebens – vorherrschend wurde. Aus dem Altertume leuchten ebendeshalb fast nur die Vergleichungen fremder Lebensläufe von Plutarch als ein schönes und merkwürdiges Muster herüber; und wenn auch aus dem Mittelalter verhältnismäßig nur wenig Autobiographien (von denen es genug sei, hier an Benvenuto Cellini und Götz von Berlichingen zu erinnern) heraustreten, so wird dagegen in der so viel mehr selbstbewußten Neuzeit – und namentlich seit Jean Jacques Rousseaus »Confessions« – ein merkwürdiges Regen und Streben dieser Art überall sichtbar, allwo denn wieder Goethes Name, wie immer bei höhern Forderungen der Zeit, vor allen würdig uns entgegentritt, indem er es namentlich ist, der es zuerst verstand, sein eigenes schönes Selbst gewissermaßen durchsichtig zu machen, um so den Entwicklungsgang eines der merkwürdigsten Geister auch der Nachwelt in lebendigster Anschauung zu erhalten.

Carus[271]

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 270-273.
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