IX.

[253] Auch diese Reise ließ eine lebendige Phantasmagorie von Bildern in der Seele, und ich finde noch in manchen Briefen aus der nachfolgenden Zeit Eindrücke dieser Art besprochen, beweisend, wieviel dadurch in mir aufgeregt worden war. Eine Stelle glaub' ich hier noch mitteilen zu müssen, weil sie, indem einiges Frühere dadurch vervollständigt wird, zugleich ein psychologisches Faktum enthält für das eigene Verhältnis, in welchem sich verschiedene Vorstellungen in der Seele befinden und wie die einen die andern zerstören können: »Das Bild der Madonna [in der Prager Metropolitankirche] hatte mich innig angezogen, und wie ich die alte gewaltige Kirche verließ, schwebte sie mir hell und glänzend vor. Herausgetreten auf den Platz, wo man zur Stadt niedersteigt, sah ich nun in reinster Morgensonne das Tal der Moldau entlang. Siebzig Türme und Türmchen konnte ich zählen, und dabei war alles in den feinen Schleier eines weißen Dufts gehüllt, so daß ich kaum etwas Schöneres gesehen zu haben mich erinnerte. So allein, mir selbst überlassen, lebte ich ganz in diesem Doppelbilde, jenem innerlichen und diesem äußerlichen, und nur wie beim Herabsteigen das Bild der Stadt mir aus den Augen schwand, trat das der Madonna um so lebendiger wieder hervor, ja es schien sich alles, was ich Gutes und Schönes gekannt und empfunden hatte, in diesem Bilde zu einigen. So trat ich nun in das Gewirr der Straßen; Schacher und Hader schnarrte um mich herum, und ich weiß nicht welche Äußerung einiger Leute untereinander, worin, wie man es in dem Straßengespräch nun eben hört, die eigentliche Gesinnungsniedrigkeit so recht offenbar wurde, riß mich zu ärgerlichen Gedanken und innerm Unwillen plötzlich hin; da, wie mit einem Zauberschlage, war jene Erscheinung[254] mir plötzlich verschwunden, und auf keine Weise wollte es mir möglich werden, die Züge dieses Himmelsangesichts mir wieder hervorzurufen. Ich weiß nicht, wie mich das so traurig machte, daß ich fast ohne Umsehen die schöne Brücke zurücklegte, bis mir einfiel, es müsse gewiß dies herrliche Antlitz mir in der Todesstunde wiedererscheinen, wodurch ich denn, innerlich beruhigt, den alten Gleichmut wiedergewann. Es ist doch ein eigenes Ding um die innere Äolsharfe, wie sie oft so gar empfindlich in ihrer Stimmung ist!«

Übrigens mußte ich mich ja doch nun immer mehr und mehr daran gewöhnen, eine Menge der verschiedenartigsten Verhältnisse und Persönlichkeiten wieder auf mich wirken zu lassen und dabei nichtsdestoweniger immerfort den Ausbau der eigenen Individualität tatkräftig und schaffend fortzuführen. Um dies mir zu erleichtern, fing ich daher jetzt an, sorgfältiger als früher die Verschiedenheit der Menschen zu studieren, und als Resultat solcher Studien finde ich aus jener Zeit noch folgende Worte aufgezeichnet, in denen zwei Hauptklassen von Individuen gar nicht unpassend charakterisiert werden. »Einige nämlich«, heißt es da, »scheinen vollkommen fertig, ihr Tun und Treiben, es gehe ins Große oder Kleine, es sei klug oder dumm, schön oder häßlich, es bleibt sich von nun an gleich, sie wollen nichts weiter, sie sind abgeschlossen. Andere hingegen treibt eine ewige Sehnsucht immer weiter, man sagt ihnen vielleicht, daß sie schon viel erreicht haben, sie selbst aber scheinen erst anzufangen, sie können nie ruhig werden; rastlos im Innern oder Äußern bewegt zu sein, ist ihr Los. Welches von beiden besser sei, will ich nicht entscheiden, daß das erstere ein momentan glücklicheres Dasein gewähren möge, ist mir fast wahrscheinlich, obwohl ich, zu den zweiten gehörend, darüber nicht eigentlich urteilen kann.«[255]

Eine Bekanntschaft mit Schubarth, einem der scharfsinnigen Beurteiler Goethes jener Tage, gab mir zunächst zu mehr solchen psychologischen Exkursionen Gelegenheit. Er blieb einige Zeit in Dresden, ich machte mehrere Spaziergänge mit ihm, er zeigte mir einen Brief Goethes, den er über sein Buch erhalten, und unsere Gespräche über diesen Gewaltigen, mit dem ich nun auch, seit meiner »Zootomie«, von Zeit zu Zeit Briefe wechselte, gingen ins Unendliche. Einer seiner paradoxen Sätze, die mich besonders zu lebhafter Gegenrede reizten, war die ausgesprochene Meinung, Mephisto im »Faust« sei eigentlich an sich ein ebenso unschuldiger Charakter als Gretchen. Indes verteidigte er doch seine Ansicht ganz gut; von ihm selbst aber schrieb ich damals nieder: »Er hat viel Geist, aber, fast möchte ich glauben, sehr wenig Liebe.«

Auch in den Briefen, die ich mit Regis wechselte, kam manches dergleichen zur Sprache, da in ihm damals schon oft jenes Ungesunde und Trübe zutage trat, woran er einige und dreißig Jahre später mir und sich selbst unterging. Fast gleichnisweise zu ihm stand so in einem Briefe jenes Jahres: »Über Swift (welchen er immer sehr hoch stellte) möchte ich einen ähnlichen Vergleich machen wie Sie über Petrarca. Es gibt nämlich Knospen, welche zu herrlichen lebensfrischen Zweigen und Blättern auszuschlagen ursprünglich bestimmt waren, nun aber, durch ein sonderbares Spiel der Natur, durch äußere Einwirkung von Kälte und dergleichen, zu Stacheln geworden sind (jeder Dorn ist ja Umbildung einer Knospe) und welche somit, da sie jetzt nicht mehr grünen können, höchstens nützen werden, durch ihre Spitzen das Vieh abzuhalten, dadurch also immer zur Sicherung des Ganzen beitragend. Großenteils ist Swift, glaube ich, einem solchen zum Dorn verwandelten Zweige vergleichbar. – Was ich kaum überwältigt zu haben glaube, scheint auch[256] Sie zu quälen, nämlich das Messen dieser menschlichen Existenz nie mit dem eigenen, sondern immer mit fremdem Maßstabe, das unwillkürliche Nebeneinanderhalten von irdischem Treiben und höchster geistiger Reinheit usw., kurz diese ganze Faustsche Richtung, von der es heißt:


Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,

Der ungemessen immer vorwärts dringt

Und dessen übereiltes Streben

Der Erde Freuden überspringt.


Gewiß ist es, daß nur die innige, feste Überzeugung, der wahre Glaube daran, daß die Natur wie die Vernunft gleich göttlich, unendlich und herrlich sind und in beiden fortwährend Offenbarung des göttlichen Wesens geschehe, ja nur in ihnen zugleich geschehen könne, gegen jene ungerechte Geringschätzung des Lebens uns bewahrt. Aber das Schlimmste ist, daß wir jene Überzeugung uns nicht geben können, daß sie sich nur als eine Gabe von oben in die Seele senkt und wir uns nur vorzubereiten vermögen, sie würdig zu empfangen. Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausgesprochen habe, indes fühle ich lebhaft, daß in diesem Gleichachten der Natur und des Geistes der Schlüssel zu aller wahren Lebenskunst liegt, daß nur hier wahre tätige Liebe sich begründen kann und daß Goethe wohl so etwas im Sinne gehabt habe, wenn er das schöne, alles Naturgemäße, wenn auch noch so Irdische, mit reiner Liebe umfassende und ebendadurch das Irdische selbst dem Himmel verbindende, ruhige, in sich die volle selige Genüge freudiger Existenz tragende Gretchen dem irr umgetriebenen Faust gegenüberstellt.«

So trieb denn also, zwischen viel solchen ideellen Betrachtungen und einer vollen realen Wirksamkeit, der Nachen des Lebens immer weiter den breiten Strom der Zeit hinab, und hier will ich doch auch noch bemerken, daß der[257] erste Versuch, das Gleichnis meiner damaligen Gestalt bleibend und plastisch festzuhalten, noch in eben dieses Jahr 1820 fällt. Der Bildhauer Kühn, zu jener Zeit alles, was Dresden in dieser Kunst aufzuweisen hatte, ein Freund von Friedrich und durch seine römischen Studien doch etwas mehr über das Rokoko des Tags erhoben, obwohl im jetzigen Sinne immer noch keineswegs bedeutend, fühlte sich mir für manches Gute, das ich ihm an seiner Familie als Arzt hatte erzeigen können, so sehr verpflichtet, daß er einen Teil dieser Schuld durch eine Büste von mir abzutragen versuchen wollte. Wir ließen es beide nicht an Mühe fehlen, ich durch Aushalten im Atelier – in Betrachtung mancher Art versunken, während ein Menschenabbild so aus dem Erdenkloß des Tons sich gestaltete, und er im Bilden selbst; allein das jetzt noch vorhandene Werk wollte doch den Meister nicht loben, und so ist denn überhaupt von meinen gesamten frühern Lebensperioden von irgend kunstwürdigen Nachbildungen nichts Nennenswertes übriggeblieben. Meine eigenen Kunstbestrebungen dagegen erhielten sich unerschüttert in ihrem gewohnten Gange. Ich hatte Mittel gefunden, Goethe ein paar kleine Ölbilder, einen dunklen Tannengrund und das Brockenhaus im Morgenlicht, zugehen zu lassen und fand mich durch sehr freundliche Zuschriften und anerkennende Worte in seinen Heften zu Kunst und Altertum überreichlich belohnt; auch das »Morgenblatt« lieferte in seinen Kunstberichten zu unsern Ausstellungen ähnliche Auslassungen über meine fortgesetzten Versuche, und da denn außerdem damals bei mir im Hause alles munter und lebenslustig aussah, so traten meine alten melancholischen Stimmungen mehr und mehr in den Hintergrund, und die Kraft wie die Lust auch an meinen höhern wissenschaftlichen Lebensaufgaben waren im erwünschten Verhältnis vereint.[258]

Ist es doch so merkwürdig, wenn ich auf den Gang meines eigenen Lebens zurückblicke oder irgendein anderes ausführlicher verfolge, überall gewahre ich eigentümliche, mehr oder weniger sich wiederholende Schwankungen! Einzelne Zeiten sind, in denen alles nur langsam und fast widerwillig fortrückt, ja wo gleichwie in winterlicher Erstarrung das meiste zu stocken scheint; andere sind dann wieder, wo zwar das Fortschreiten unverkennbar ist, aber doch keine bedeutenden Resultate sich ergeben, und noch andere endlich kommen, wo ein wahrer Frühling einzieht, alles sich frisch regt und quillt und in wenigen Monaten oft mehr durchmessen und geschaffen wird als sonst in zwei- und dreifach längern Zeiträumen. Das Jahr 1821 war mir ein solches besonders treibendes und förderndes! Gleich der Anfang war bedeutungsvoll. Ich erhielt einen Brief aus Erlangen, gezeichnet am 3. Januar, in welchem mir ein ehrenvoller Ruf zur Professur der Physiologie und Pathologie mit 2000 Florin Gehalt zukam. Manches war da wieder zu beraten und abzuwägen, zuletzt entschied ich mich aber doch, ihn abzulehnen, da schon der Tausch der Örtlichkeiten ein gar zu unvorteilhafter gewesen wäre.

Außerdem war mir noch die Aussicht gestellt, hier eine angemessene Unterstützung zu einer Reise nach den Küsten des Mittelländischen Meeres für diesen Sommer zu erhalten, und man kann denken, daß ich nicht Lust hatte, solche Pläne mir durch einen Wechsel des Aufenthalts zu verderben, zumal da ich sehr darauf rechnete, bei dieser Gelegenheit Goethe in Weimar persönlich meinen Besuch abzustatten und dadurch diesen Verkehr, der sich so schon immer lebendiger gestaltet, noch mehr zu befestigen. Er hatte mir eben das dritte Heft »Zur Naturwissenschaft« zugesendet, und welche Ermutigung es mir gab, für diejenige Richtung, welche nun einmal die mir ganz[259] homogene blieb, bei ihm überall Bestätigung zu finden, brauche ich nicht zu sagen. Ich finde, daß von reiner, gesunder Naturforschung lange nichts Ähnliches erschienen ist; und wie recht er hat mit seinem kecken Wort gegen Haller1, davon wäre viel zu sagen. Es ist mir eine der[260] besten Bürgschaften der Richtigkeit, daß, in meiner jetzigen Arbeit über die Bedeutung des Knochengerüstes, ich auf ganz andern Wegen zu denselben Anschauungen gekommen bin, wie sie Goethe schon vor dreißig Jahren vorschwebten; ja sehe ich ihn selbst diesen Sommer, so bin ich sicher, daß, wenn ich ihm meine Architektonik des Skeletts erörtern kann, es ihm große Freude machen müsse, denn er wird da ausgesprochen finden, was er wohl geahnt, aber, bei nicht genugsamer Kenntnis im einzelnen, nicht im ganzen Umfange zu erkennen vermocht hat. Oh, es stehen den Wissenschaften ähnliche Revolutionen wie den nichtkonstitutionellen Staaten bevor! Ja, überall – auch in der bildenden Kunst – treibt gewaltig ein neues Regen, welches die alte erstorbene Borke absprengen muß! Bei alledem gibt es indes wohl viele, die in den Wunsch einstimmen, den neulich einmal meine kleine Marianne aussprach: »Ach, wenn's doch nur recht regnete, aber – daß keine Pfützen würden!«

Wie sonach im Wissenschaftlichen eine neue Begeisterung mich ergriffen hatte, so auch in Poesie und Kunst. Novalis zog mich jetzt mächtiger an. Ich schrieb über seinen »Heinrich von Ofterdingen«: »Welch schöne Klarheit hier in so vielen Stellen, zum Beispiel über das Wesen des Dichters in dem Gespräche mit Klingsohr! Das ist ein Gemüt, welches in Welt und Menschheit sich abspiegelt! Etwas, das ich zum Beispiel ganz an Rousseau vermisse, welcher sich selbst nur im Spiegel zu beäugen liebt und darum nirgends zu jenem heitern Gefühl wahren Einklangs und voller Genüge gelangt, sondern im ewigen Widerstreben gegen Phantome wie im ängstlichen Traume sich abmüht!« Und so kam ich denn auch auf all solchen Wegen zeitig zu Erkenntnissen in diesem Felde, welche man sonst wohl oft erst später gewinnt und welche zuletzt doch alle darauf hinausgehen, ein höchstes Inkommensurables im Wesen[261] der Poesie unbedingt zu verehren. Überhaupt ist denn Genie etwas anderes als die Gabe einer reinen, freien, allseitigen Beschaulichkeit? Und ist denn Kunst, wahre Kunst, etwas anderes als Schaffen des Genius?! Sehr stimme ich einem neuern Werke über Kunstwissenschaft bei, wo es heißt: »Kunst ist nur da, wo Genie ist!« – woraus sich denn wieder die Unzulänglichkeit aller Schule sogleich ergibt. Letztere ist in Kunst und Wissenschaft stets nur das schwache Surrogat des Genies – die Runkelrübe für echten Mokkakaffee!

Endlich brachte denn auch dieses Frühjahr mich zuerst mit Ludwig Tieck in persönliche Berührung, nachdem seine Werke – namentlich sein »Phantasus« – schon lange einen mächtigen Einfluß auf meine poetischen Anschauungen wie auf meine gesamte künstlerische Richtung gehabt hatten. Es war im Zimmer der Frau des obengedachten Dr. Schneider, wo ich ihm zufällig begegnete, und mit wenigen allgemeingültigen Worten leitete sich so ein Verhältnis ein, welches ich zu den bedeutungsvollsten zählen darf, die mich mit nachhaltigen selbstschöpferischen Geistern irgend verknüpft haben. Tieck war damals im achtundvierzigsten Jahre, schon der Rücken etwas gekrümmt und durch lange gichtische Leiden zusammengezogen, so daß die Gestalt im ganzen etwas verkleinert und an Brust und Leib zu stark erschien, aber sein Aussehen war munter, sein Gang noch kräftig, und vor allem frappierten in dem feinen geistvollen Gesicht das Paar der hellen braunen Augen. So ein Paar helle, scharfe, listig klare Augen sind mir noch nicht vorgekommen. Ist es wahr, daß Tieck in Italien katholisch geworden, so kann man sicher sagen, daß nicht er dabei der Betrogene gewesen. Es dauerte übrigens noch einige Jahre, bevor wir in ein näheres und wahres Freundesverhältnis traten, da erst später, nachdem er seine Wohnung am Altmarkte[262] bezogen und seinen Salon fast regelmäßig abends geöffnet hatte, unter vielen auch mich sein merkwürdiges und schönes dramatisches Lesen herbeizog, dann aber im Lesenden selbst der eigene große und bedeutende Geist mehr und mehr mir aufging und mich festhielt. Ich werde daher später noch viel von ihm hier zu erzählen haben.

Dagegen trat zu jener Zeit noch eine andere bedeutende Individualität, aber bedeutend in einem ganz andern Felde, mir entgegen; es war Chladni. Dieser Mann, bekannt und berühmt geworden durch seine Untersuchungen über Akustik wie über die Meteorsteine, hielt sich damals in Dresden auf und gab vor einem zahlreichen Publikum, unter welchem man auch die jungen Prinzen bemerkte, Vorlesungen über beides. Chladni war 1756 zu Wittenberg geboren, wo sein Vater als Professor der Jurisprudenz einen großen Ruf erlangt hatte. Auch er hatte diesen Studien anfänglich sich widmen müssen und war Doktor der Rechte geworden; sobald indes sein Vater verstorben, verließ er dies Fach und wendete sich ganz den physikalischen Studien zu, von welchen denn zunächst die Theorie des Klangs und der Musik ihn festhielt. Er hatte hier wichtige Entdeckungen gemacht, die seltsamen Klangfiguren hatte er zuerst hervorgerufen und beschrieben und beiher die merkwürdigste Sammlung von Meteorsteinen auf seinen vielen Reisen zusammengebracht. Es war eine kleine, ältliche, unansehnliche Gestalt, aber mit einem kräftigen Kopfbau und wunderlich heiserer Stimme, bei schlechtestem, immer sich unterbrechendem Vortrage; nichtsdestoweniger jedoch erregte er großes Interesse, und man gewahrte überall den mächtigen Vorzug des gesprochenen Worts gegen das geschriebene. Das von ihm neugeschaffene Fach beherrschte er ganz, und weil ihm eben alles so zu Gebote stand, daß er es mehr gesprächsweise[263] erzählte, ohne irgend den Schmuck der Rede zu bedürfen, so kam es, daß, indem man ihm zuhörte und er mit seinem alten Gesicht so heiter und gemütlich in die Welt hineinsah, der Schatz seiner Kenntnisse gleichsam wie von selbst und man möchte wohl sagen fast magnetisch dem Schüler sich mitteilte. Die Bedeutung und Größe solch eines rein wissenschaftlichen Lebens hinterließ mir abermals einen mächtigen Eindruck.

Das Fortarbeiten an meinen »Briefen über Landschaftsmalerei« brachte mich um diese Zeit auch wieder mit unserm wunderlichen Archäologen und Kunstfreund Böttiger in nähere Berührung. Allerdings war der Mann ein lebendiges Register vielfacher Kenntnisse und verdiente auch in dieser Beziehung den Namen »Ubique«, den man ihm in Weimar beigelegt hatte. Es lag mir aber eben daran, zu wissen, was im Altertum von Anfängen der Landschaftsmalerei bekannt gewesen, und alsbald hörte ich denn auch von ihm die Bestätigung dessen, was ich mir selbst schon gesagt hatte, nämlich daß durchaus nichts sich dort nachweisen lasse, was in unserm Sinne Landschaft – oder, wie ich es gern bezeichnete, Erdlebenbild – genannt zu werden verdiene. Er sagte ganz richtig: Alles wurde den Alten menschliche Gestalt; der Quell Najade, der Strom ein Flußgott, der Baum Hamadryade. Einige Prospekte von Städten und Gärten ohne Perspektive sei daher alles, was in dieser Gattung vorkomme. Nach solchen Mitteilungen zog ich mich übrigens immer gern von dem Übergefälligen zurück, indem es außerdem nahegelegen hätte, mich einem Kreise irgendwie näher zu bringen, welcher unter der Ägide des damaligen Ministers Nostitz und Jänckendorf (als Dichter »Arthur von Nordstern« genannt) und im Verein mit Tiedge und Winkler (Theodor Hell) eine Richtung der Poesie und Literatur vertrat, gegen welche in den folgenden Jahren Tieck so viel zu[264] kämpfen hatte und die mir selbst so heterogen war, daß auch hierdurch ein Band mehr gewoben wurde, um mich eben dem letztern immer fester zu verbinden.

Ich dachte jetzt wirklich daran, diese Landschaftsbriefe der Öffentlichkeit zu übergeben, vorher sollten sie jedoch Goethe vorgelegt werden, und es ging mir mit diesen Arbeiten in Wahrheit fast wieder auf ähnliche Weise wie bei der ersten Ausstellung meiner Bilder, bei welchen noch endlich der Zufall mit den Rahmen entschied. Damals nämlich war es mir auch zunächst eine schmerzliche Empfindung, wenn ich gedachte, daß jene eigentümlichen Blütenknospen eines vorwärts strebenden Geistes plötzlich so allem Volk zur Schau ausgesetzt werden sollten, und nachher fand ich auch, es war dies in mancher Hinsicht gut gewesen; denn mich hatte der Ärger über die mir nun deutlicher fühlbar werdenden Mängel gefördert und gespornt, und hier und da klang übrigens auch wohl innig wieder, was ich einsam dabei empfunden hatte. Man tut deshalb bei solchen Dingen immer am besten, zu denken:


Dein Pfeil flog ab so schön befiedert,

Hat man dir's irgendwo erwidert? –

Der ganze Himmel stand ihm offen,

Er hat wohl irgendwo getroffen.


Also, so schrieb ich damals: »Man rede nur tüchtig und aus dem innern Gemüt zur Menschheit, und trotz der Verkehrtheit des Haufens wird uns doch über lang oder kurz der Mensch antworten! Ich weiß wohl, es ist hier wie beim Baden, man möchte wohl ins Wasser und fühlt, daß es wohlig auf dem Grunde sein müsse, aber doch schaudert uns, wenn das frische Wasser uns benetzt, und die Brust wird gewaltig eingeschnürt, atmet aber nachher desto kräftiger! Merck sagte zu Goethe: ›Frisch auf die Zäune, so trocknen die Windeln!‹ Wie daher ein jedes Wesen, nur[265] insofern es im Ganzen lebt, überhaupt existiert; so erlangt auch der Mensch das recht kerngesunde, geistige Leben nur, indem er sich selbst im Ganzen der Menschheit leidend und tätig gewahr wird. Dies ja so schön bei den Griechen!« Bei alledem wurden diese Briefe nicht vor dem nächsten Jahre an Goethe gesendet und kamen dann doch erst 1830 nebst Goethes Empfangsschreiben und noch manchen Beilagen zum Druck.

Unter so viel verschiedenen glücklichen Berührungen und Beschäftigungen fehlte es indes auch nicht an Stunden, wo ausgesponnene Betrachtungen über Leben und Lebensaufgaben an die Reihe kamen, bei welchen jenes schon im frühern erwähnte Gefühl einer gewissen Inkohärenz der so gar verschiedenartigen Richtungen, die mich immerfort in Anspruch nahmen, doch auch wieder zu manchem innern Kampf und Unfrieden Veranlassung gab. Das alte schwere Wort aus dem »Tasso«:


Wer ist denn glücklich?


machte sich dann geltend, und die Empfindung eines gewissen, nach Entwicklung und Befreiung strebenden Larvenzustandes lastete wieder zeitweise schwer genug auf mir. Ich finde noch eine Briefstelle vom Februar 1821, welche Vergleichungen und Betrachtungen enthält über jene sonderbaren Geschöpfchen, die man vielfach im Frühling auf dem Boden flacher, stehender Gewässer ihr Dasein dahinschleppen sieht. Es sind die Larven der Frühlingsfliege, welche nach dem ihnen zugemessenen Geschick sich eine künstliche, aus Holz- und Blattstückchen, Steinchen und ähnlichem Material zusammengesetzte Puppenhülle bauen und dies merkwürdige Gehäuse überall mit sich herumtragen, bis endlich wärmere Sonnenstrahlen den Sumpf austrocknen, dann die Hülle fällt und die Flügel sich entfalten. Ich fahre dann in Beziehung auf[266] den obenerwähnten Ruf nach Erlangen fort: »Übrigens wüßte ich doch eigentlich nicht, wie ich es woanders besser erwarten sollte! Manchmal spielte ich mit mir selbst den Philipp und Posa, und wenn ich mich dann frage: welchen Posten wollt ihr einnehmen, sucht ihn euch aus in allen meinen Reichen; so muß ich immer antworten: Sire, ich finde keinen, der mir sich eignet, oder muß es einer sein, so ist es am Ende gleichgültig, welcher. Es drängt mich im Grunde alles nur zu einer rein menschlichen Existenz. Wie ich von Gott aufrecht auf diese Erde gesetzt bin, um mich frei am ganzen Horizonte umzuschauen, so will ich auch frei nach allen meinen Anlagen tätig sein, im Wissenschaftlichen mich regen, im Kunstfache streben, im Leben mich Lebenden nach Kräften hilfreich und förderlich zeigen. So aber will freilich der Staat in der Regel niemand; einseitig sollen seine Glieder sein, daß jeder gehörig an seiner eigenen Leine dressiert werden könne und keiner das Ganze zu überschauen wage. Überlege ich es nun, wie ich will, so finde ich hier in meiner Stellung mich immer noch am wenigsten beschränkt, weil das, was ich dem Staate leiste und was als gut erkannt wird, geistige Kräfte nicht so in Anspruch nimmt, daß man mir nicht jede andere Tätigkeitsäußerung noch, gleichsam als Zugabe, danken sollte. Kostet mir diese Stelle, welche mir die Freude gewährt, meine Eltern und meine Kinder mit allem Nötigen zu versorgen, auch, mit Ausschluß der Festtage und der zwölf Ferienwochen, jeden Tag drei bis vier Stunden Zeit, so bleibt mir doch immer noch eine reiche Muße, welche ich zu allem, was mir gemäß und gelegen ist, frei verwenden kann. Bedenke ich ferner, wie sehr mich der hiesige Ort in der Kunst gefördert hat und noch fördert, wie manche wissenschaftliche Arbeit mir hier durchzuführen gelungen ist, und sehe ich mich jetzt in einer neuen begriffen, welche hoffentlich die beste und[267] die eindringendste von allen werden soll, so bleibt doch in allem Unvollkommenen und Larvenhaften noch des Dankenswerten genug übrig!«

Bemerken muß ich noch, daß mir allerdings bei meinen Arbeiten schon damals überall ein wahrhaft hohes Ziel vorschwebte, und wenn ich hier und da einiges geschaffen habe, was über das Gewöhnliche sich erhebt, so lag es jedenfalls nur daran, daß eben ein ganz Ungewöhnliches, ja Außerordentliches ich mir durchaus als Zielpunkt festgesteckt hatte. Aus demselben Briefe, der die obige Stelle enthält, glaube ich daher noch eine andere mitteilen zu dürfen, weil sie zeigt, daß selbst bei der Art der Bearbeitung und des Vortrags wissenschaftlicher sowohl als poetischer Aufgaben ich nirgends einen leichten oder oberflächlichen Maßstab anzulegen gewohnt war: »Es ist ja wohl«, heißt es da, »das schöne, aber schwere Ziel aller Darstellung, sowohl poetischer als geschichtlicher (welche, wie Novalis sagt, doch am Ende einerlei sind), daß die schwankenden Gestalten der Welt von einer völlig ruhigen (wie die Griechen von der Zikade sagen, ohne Fleisch und Blut geborenen) Menschenseele aufgefaßt und ausgesprochen werden, dergestalt, daß man im Kunstwerk nicht sowohl das Individuum, sondern vielmehr die Natur, ja Gott erkenne. Auch hier wird die Aufopferung der Individualität gefordert, wenn das Höchste geleistet werden soll, und gerade hier ist das Selbst am meisten und leichtesten der dunkle Körper, welcher das Durchscheinen reinen göttlichen Lichts hindert. Beispiele können dafür sein die Werke von Byron, welche nicht sowohl Gott und Welt, sondern wesentlich die Verstimmung des Dichters aussprechen und wiedergeben.«

So nahm ich also wirklich alles sehr ernst, und wenn das Strenge der Arbeit vielleicht in einer Hinsicht manchmal mich wirklich aufzureiben drohte, so war eben die Begeisterung[268] dafür wieder das Heilmittel, ja das stete Wiederherstellende der Seele, und so floß also unter Erfüllung der einzelnen täglichen Lebensaufgaben der Strom aller meiner Studien immer im ganzen sicher und unaufhaltsam weiter.

Übrigens war nun die Entscheidung gekommen, daß die Regierung mir eine Unterstützung von 300 Talern zu einer wissenschaftlichen Reise an die Küste des Mittelmeers bewillige, und da noch außerdem gerade im Vorsommer ein Glücksfall in der ärztlichen Praxis mir 100 Dukaten eintrug, so sah ich mich sattsam ausgerüstet, nicht nur überhaupt die Reise zu unternehmen, sondern auch noch meinen alten ehemaligen Lehrer und Freund, den Zeichner Dietz aus Leipzig, mitzunehmen, von welchem ich gute Beihilfe für Nachbildung naturhistorischer Gegenstände erwarten durfte. Der Plan war natürlich zugleich mit auf die Schweiz gerichtet, welche künstlerisch, wie Italien, als Gelobtes Land, lange schon mir vorschwebte. Vorbereitende Notizen aller Art wurden daher nach Möglichkeit gesammelt, die Meinigen sollten mich bis Leipzig begleiten, und gegen die Mitte des Juli war denn alles soweit, den Auszug zu unternehmen.

Ich habe von dieser Reise damals ein ausführliches Tagebuch geschrieben, welches noch jetzt in sauberer Reinschrift vor mir liegt, allein nie hat es mir im ganzen bedeutend genug geschienen, um es der Öffentlichkeit ebenso zu übergeben, wie ich es später mit einigen andern Reisetagebüchern gemacht habe. Dessenungeachtet sind von dieser ersten größern Wanderung mir sehr wichtige Förderungen gekommen, sie hat in vieler Beziehung einen bleibenden Einfluß auf mein späteres Leben geäußert, gab außerdem Gelegenheit zu Aufzeichnung mancher auch an und für sich interessanten Bemerkungen über damalige Begegnisse und Zustände, und da ich sie ebendeshalb gegenwärtig[269] nicht ganz übergehen darf, so muß ich mich, wenigstens zu einem auszugsweisen Wiedergeben entschließen, welches denn hier unmittelbar seinen Platz finden mag. (Vielleicht wird übrigens eine solche Mitteilung auch in späterer Zeit manchen Leser schon deshalb anziehen, weil sie den Begriff gibt, von einer Art zu reisen, von welcher unter den Kindern des Tages bald alle Kunde völlig verloren sein wird und welche doch, so langsam und unbequem sie oft war, Menschen und Länder meist besser kennen lehrte als unser jetziges Dampffahren.)2

Ich habe die Abteilung nach Tagen des ursprünglichen Manuskripts beibehalten, ohne mich dadurch behindern zu lassen, in der spätern Redaktion einzelne Hinweisungen auf neuere Verhältnisse beizufügen.

1

»Ins Innere der Natur – o du Philister« usw. Goethes »Freundlicher Zuruf« (1820) lautet vollständig: »Eine mir in diesen Tagen wiederholt sich zudringende Freude kann ich am Schlusse nicht verbergen. Ich fühle mich mit nahen und fernen, ernsten, tätigen Forschern glücklich im Einklang. Sie gestehen und behaupten, man solle ein Unerforschliches voraussetzen und zugeben, alsdann aber dem Forscher selbst keine Grenzlinie ziehen. – Muß ich mich denn nicht selbst zugeben und voraussetzen, ohne jemals zu wissen, wie es eigentlich mit mir beschaffen sei; studiere ich mich nicht immer fort, ohne mich jemals zu begreifen, mich und andere, und doch kommt man fröhlich immer weiter und weiter. – So auch mit der Welt! Liege sie anfang- und endelos vor uns, unbegrenzt sei die Ferne, undurchdringlich die Nähe – es sei so! Aber wie weit und wie tief der Menschengeist in seine und ihre Geheimnisse zu dringen vermöchte, werde nie bestimmt noch abgeschlossen. – Möge nachstehendes heitere Reimstück in diesem Sinne aufgenommen und gedeutet werden!

›Ins Innre der Natur –‹ / O, du Philister! –

›Dringt kein erschaffner Geist.‹

Mich und Geschwister

Mögt ihr an solches Wort

Nur nicht erinnern;

Wir denken: Ort für Ort

Sind wir im Innern.

›Glückselig, wem sie nur / Die äußre Schale weist!‹

Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen

Und fluche drauf, aber verstohlen,

Sage mir tausend-, tausendmale:

Alles gibt sie reichlich und gern;

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male;

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob du Kern oder Schale seist.« (Anm. d.H.)

2

Späterer Zusatz

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 253-270.
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