I.

[275] Leipzig, 17. Juli 1821


Gern habe ich immer den Gedanken festgehalten, daß der Mensch eigentlich jedes Herrliche, welches irgend Natur ihm bieten kann, schon wahrhaft, das ist geistig, in sich tragen müsse, um der sinnlichen Aufnahme desselben überhaupt fähig zu sein. Die Anschauung selbst scheint ihm dann als äußerer glücklicher Anstoß, durch welchen ein Unbewußtes plötzlich zum Bewußtsein gelangt, sie erscheint als die günstige Konstellation, unter welcher ein ruhender Keim schnell zum vollen Leben aufschwillt, und wir fühlen dann damit erst eine innere Lücke ergänzt, einem dunkeln, unausgesprochenen Wunsche Erfüllung gewährt.

So lag ja eigentlich auch jede große Idee, welche ein begabter Mensch aussprach, schon lange zuvor in seinem Innern schlafend, und nur irgendeine oft an sich sehr unbedeutende äußere Anregung erweckte und hob sie ans Licht, brachte in Wort, Bild oder Tat sie zur Erscheinung.

Ich selbst hatte vor zwei Jahren, als ich das erstemal das Meer erblickte, bereits eine ähnliche Erfahrung gemacht. Ich erfaßte dieses ungeheuere Phänomen nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas längst mir Zugehöriges, längst Vermißtes, nur jetzt zum Bewußtsein Kommendes, und konnte nun auch wohl wahrnehmen, daß hier eine neue Seite meines Innern sich erschlossen hatte. So also gehe ich nun den Alpen mit großer innerer Spannung, so gehe[275] ich der südlichen Natur Oberitaliens und des Mittelländischen Meeres entgegen, und zwar nicht bloß im allgemeinen die weitere Entfaltung eines bis dahin nicht gebrauchten Flügelpaares der Psyche mit ruhiger Ergebung erwartend, sondern auch der schärferen Bestimmung wissenschaftlicher Bestrebungen und der Erweiterung des Gesichtskreises in der Lehre von Bildung und Leben der Erde und ihrer Geschöpfe mit Zuversicht entgegensehend.

Den ersten Lichtpunkt dieser Reise muß ich den Sonntagsmittag in Meißen nennen, wo wir den edeln deutschen Bau des Doms betraten. Heiteres Sonnenlicht fiel durch die schön gewölbten Fenster, und mit voller Klarheit folgte das Auge den leicht aufstrebenden Pfeilern bis zu den wohlgezeichneten, die Kreuzgewölbe schließenden und zierenden Rosetten. Wir standen eben unter der Orgel, den Blick nach dem Chore gewendet, wo die schlanken Gewölbe und drei in alter Farbenpracht leuchtende Fenster den Raum des Gebäudes auf würdige Weise begrenzen, als feierlich der Schlußchoral zu uns herniedertönte und uns gegenüber der Priester vor den Altar trat, mit den üblichen Segnungen den Gottesdienst beschließend.

Gestern gegen Mittag trafen wir dann in Leipzig ein. Wie solch eine Stadt ihren innern Bedürfnissen nach sich allmählich aus sich selbst regeneriert, namentlich wie hier eine Handelsstadt ihre alten Mauern und Festungstore immer mehr von sich wirft und im elegantern, bequemern Kleide, mit flach hingestreckten, schiefergedeckten Zoll- und Waagehäusern nach römischem Zuschnitt, gleich dem gewandten Commis im englischen Frack, zu erscheinen versucht, darf auch als bedeutungsvoll nicht übergangen werden. Die ganze Umwandlung neuerer Menschheit zeigt sich eigentlich in solchen Bildern an. Ich war abends noch einmal in meinem alten geliebten Eichenwalde. Nach[276] Regen hatte ein langer Nebelstreif die Wiesen inmitten des Waldes überzogen. Hinter einigen kahlen Baumstämmen des Vordergrundes lag der verschleierte Plan vor mir. Es war die Scheide von Tag und Nacht, rötliche Gegendämmerung belebte den Osten, und wogend gleich Meereswellen zog der Nebel, bei übrigens ruhiger Atmosphäre, vorüber. Ein innerer Zug schien diese zu Boden gesunkenen Wolken zu treiben. Auf einem Fußsteige kamen drei Knaben über die Wiese; sie schienen in diesen Wellen und auf ihnen zu wandeln! – Ein vollkommen in sich beschlossenes Bild!


Weimar, 20. Juli abends


Gestern früh bei reinem Morgen fuhren wir aus Leipzig. Noch etwas unbeholfen in Reiseeinrichtungen, hatte ich einen Lohnwagen bis Nürnberg gedungen, und natürlich ging so die Reise langsam, aber auch mit mehr Beachtung des durchstrichenen Landes. Wir begrüßten nachmittags das Saaltal in der Naumburger Gegend und dann das ebenfalls bereits in Erneuerung begriffene Naumburg selbst. Nur der alte Dom ragte mit seinen drei wunderlichen Kuppeltürmen noch treuherzig über die Menge der Dächer herauf, und hier und da standen auch wohl noch einige alte Mauertürme, in frühern Zeiten der Schirm der Stadt gegen manche harte Berennung. Es fiel mir dabei wieder auf, daß die gotische oder vielmehr deutsche Baukunst gerade in diesen Landesstrichen nirgends zu besonderer Vollkommenheit gediehen ist und im ganzen die Grundidee des Aufstrebens, trotz manchen anmutig gebildeten Einzelheiten, hier nie genügend und rein sich ausgesprochen hat. Am meisten noch ist ein eigentümlicher Stil in Burggebäuden getroffen, und ich erinnere mich aus früherm Durchstreifen des Saaltales, daß die bei Kösen gelegene Rudolfs- oder Rudelsburg als wahres Muster[277] eines festen und tüchtigen Baues solcher Art angenommen werden darf.

Von Naumburg führte damals der Weg in lauter Kalkhügeln durch abscheuliche Hohl- und Bergwege nach Kamburg, wo wir schlecht genug übernachteten; dafür indes 8 Uhr früh in Jena eintrafen, nachdem wir uns noch vor Dornburg an manchen malerischen Stellen des Saalufers erfreut hatten. – Die sonderbaren, waagerecht geschichteten Kalkfelsen, welche infolge starker Verwitterung so leicht vom strömenden Regenwasser herabgeschwemmt werden, bilden mit ihren abgerundeten Kuppen oder schroff abfallenden Wänden die anmutigsten Linien, und die Saale selbst windet sich zwischen breiten Wiesengründen, umgeben von Eichen-, Eschen- und Erlengebüschen, tief unten im Tale frisch und glänzend hindurch.

In Jena suchte ich zunächst Frommann auf, dem ich über Goethe frühere Notizen verdankte. Ich erfuhr bald Okens Abreise nach Paris sowie Goethes Verweilen in Weimar, und es blieb demnach diesmal wenig für mich an diesem Ort zu erlangen; nur einige mir noch nicht persönlich bekannte Männer wünschte ich vorher zu sehen. Ist man nämlich bei gewöhnlichen Bekanntschaften zunächst an das Äußerliche gewiesen und lernt erst durch längeres Zusammensein das Innere kennen, so befindet man sich bei Gelehrten und Künstlern meistens im entgegengesetzten Falle und sucht dann die äußerliche Erscheinung nur als Komplement des schon mehr gekannten innern geistigen Lebens auf, überzeugt sich auch dabei oft, daß diese Kenntnis ganz unentbehrlich war, um so erst den eigentlichen Menschen herausfinden und verstehen zu lernen.

So sah ich denn zuerst Kieser, eine etwas ungelenke große Gestalt in ziemlich pedantischer Haltung eines modernen Professors. Es lag für mich etwas Starres, Festgewordenes in seinem Wesen, welches mir damals einigermaßen mit[278] dem System seiner Krankheitslehre zu stimmen schien; denn die meisten Systeme gleichen ja dem Kristall, dem man zwar wohl ein organisches Leben zusprechen muß, solange er sich bildet, der aber, indem er fertig ist, auch erstarrt, erstorben vor uns liegt. Ich hätte Kieser kennen mögen, wie er eifrig noch den Pflanzenbau studierte; denn ein schönes Vermögen zu geistreicher Naturanschauung ist ihm sicher verliehen, und er hat es durch manche tüchtige Arbeit beurkundet. Unsere anfangs trockene Unterhaltung wurde nach und nach mitteilender, und wir schieden in Frieden. Wie weit war ich damals davon entfernt, zu ahnen, daß ich über vierzig Jahre später diesem Mann in der Präsidentschaft der alten Leopoldo-Carolinischen Akademie, welcher ich in jener Zeit noch nicht einmal als Mitglied angehörte, sukzedieren sollte.

Ich ging dann zu Renner, Professor der Tierheilkunde und als Direktor der Veterinärschule von ausgezeichneten Verdiensten. – War in Kieser die theoretische Seite überwiegend, so wurde hier eine in aller Hinsicht tätige praktische Natur auch durch die Lebendigkeit des kleinern Körpers angekündigt. Mit großer Gefälligkeit zeigte er mir die Sammlungen für physiologische und pathologische Zootomie sowohl der Veterinärschule als des großherzoglichen Naturalienkabinetts, beide an Merkwürdigkeiten ziemlich reich, das letztere noch neuerlich durch ein fossiles kolossales Auerochsenskelett und menschliche Skelette aus unzubestimmender Vorzeit vermehrt, die, in der Gegend von Weimar gefunden, wahrscheinlich aus dem Begräbnisplatz eines früher diese Gegend bewohnenden Stammes herrührten. Diese großherzoglichen Sammlungen befinden sich übrigens nebst andern auf dem Schlosse und enthalten unter andern durch Goethes Vermittlung auch die schönen Abgüsse antiker Pferdeköpfe, den des Leukippus und einen venetianischen. Goethe selbst hat in[279] seinen Heften zur Naturwissenschaft (Band I, Heft 2) das Nähere mitgeteilt.

Den Mittag brachte ich in Frommanns Haus zu, einer vielseitig nach Goethescher Weise gebildeten Familie. Überhaupt konnte es mir nicht entgehen, daß in der Nähe eines solchen Meteors wie Goethe alles entweder für oder wider ihn entschieden Partei zu nehmen angeregt werden müsse und keine Neutralität mehr gelten könne.

Jena an sich frischte in vieler Hinsicht die Erinnerung an meinen frühern Knabenaufenthalt daselbst [auf]. Die nicht unbeträchtlichen kalkigen Bergrücken wurden mir jetzt freilich ihrer schönen Zeichnung nach bemerklicher als sonst; auch betrachtete ich aufmerksamer die gotische Architektur der alten Stadtkirche, welche viele einzelne Schönheiten zeigt, obwohl im ganzen auch hier der wahre und reine Sinn dieser Bauart nie wahrhaft herrschend war. Ein Tor der Rückseite hätte ich wegen schöner Einfügung eines Kreuzes in das mit kleeblattförmigen Bogen geschlossene Türgewölbe gern gezeichnet. Um 8 Uhr abends erreichten wir Weimar. Goethe werde ich den nächsten Tag um 11 Uhr sehen.

Der eben verklingende Lärm eines Jahrmarkts gewährte noch mancherlei Unterhaltung, und beiläufig lernten wir von der Dienerschaft im »Elefanten« auch etwas von der Art kennen, wie das Volk von Weimar sich die Verhältnisse außerordentlicher Männer in seine trivialen Kreise herunterzieht.


Rudolstadt, 21. Juli abends


Heute in den Frühstunden ergingen wir uns in den Parkanlagen zu Weimar, erfreut durch den schönen Sinn für Einfachheit und Naturfreiheit, der hier überall herrscht. Welche Gänge hochstämmiger Weiden und Eschen! Wie verständig sind die Bäume unten glatt und luftig gehalten,[280] damit oben frei und leicht die ineinander verschlungenen weitverbreiteten Kronen sich im Winde wiegen können; wie trefflich auch sind die natürlichen Felsen an der Ilm und einiges in ihrer Nähe vorgefundene alte Gemäuer benutzt; auf eine Weise, daß oft aus der einfachsten Anlage ein voller geschichtlicher Sinn hervorgeht.

Nach 9 Uhr zog mich der Wunsch, die anatomischen Sammlungen des Obermedizinalrats von Froriep zu sehen, nach der Stadt. Sie wurden mir durch die Gefälligkeit des Besitzers, den ich in merkantilische Geschäfte seines Schwiegervaters (Legationsrats Bertuch) vergraben antraf, sogleich geöffnet. Sie sind bedeutend genug, enthalten eine schöne Reihe osteologischer Präparate und außerdem eine instruktiv gewählte und aufgestellte Folge sorgfältig gearbeiteter Tieranatomien.

Unter all diesen Betrachtungen war indes 11 Uhr herangerückt, ja vorübergegangen, und ich eilte nun, Goethes Wohnung aufzufinden. Gleich beim Eintritt in das mäßig große, im einfach antiken Stil gebaute Haus deuteten die breiten, sehr allmählich sich hebenden Treppen sowie die Verzierung der Treppenruhe mit dem Hunde der Diana und dem jungen Faun von Belvedere die Neigungen des Besitzers an. Weiter oben fiel die Gruppe der Dioskuren angenehm in die Augen, und am Fußboden empfing den in den Vorsaal Eintretenden, blau ausgelegt, ein einladendes »Salve«. Der Vorsaal selbst war mit Kupferstichen und Büsten auf das reichste verziert und öffnete sich gegen die Rückseite des Hauses durch eine zweite Büstenhalle auf den lustig umrankten Altan und auf die zum Garten hinabführende Treppe. In ein anderes Zimmer geführt, sah ich mich aufs neue von Kunstwerken und Altertümern umgeben; schön geschliffene Schalen von Chalcedon standen auf Marmortischen umher, über dem Sofa verdeckten halb und halb grüne Vorhänge eine große Nachbildung[281] des unter dem Namen der Aldobrandinischen Hochzeit bekannten alten Wandgemäldes, und außerdem forderte die Wahl der unter Glas und Rahmen bewahrten Kunstwerke, meistens Gegenstände alter Geschichte nachbildend, zu aufmerksamer Betrachtung auf.

Endlich kündigte ein rüstiger Schritt durch die anstoßenden Zimmer den werten Mann selbst an. Einfach, im blauen Zeugoberrock gekleidet, gestiefelt, in kurzem, etwas gepudertem Haar, mit den bekannten von Rauch herrlich aufgefaßten Gesichtszügen, in gerader kräftiger Haltung schritt er auf mich zu und führte mich zum Sofa. Die zweiundsiebzig Jahre haben auf Goethe wenig Eindruck gemacht, der Arcus senilis in der Hornhaut beider Augen beginnt zwar sich zu bilden, aber ohne dem Feuer des Auges zu schaden. Überhaupt ist das Auge an ihm vorzüglich sprechend, und mir erschien darin zumeist die ganze Weichheit des Dichtergemüts, welche sein übriger ablehnender Anstand nur mit Mühe zurückzuhalten und gegen das Eindringen und Belästigen der Welt zu schützen scheint; doch auch das ganze Feuer des hochbegabten Sehers leuchtete in einzelnen Momenten des weitern mehr erwärmten Gesprächs mit fast dämonischer Gewalt aus den schnell aufgeschlagenen Augen.

So saß ich denn nun ihm gegenüber! Die Erscheinung eines Menschen, welchem ich selbst einen so großen Einfluß auf meine Entwicklung zugestehen mußte, war mir plötzlich nahe gerückt, und ich war um so mehr bemüht, diese merkwürdige Gegenwart genau zu beachten und zu erfassen. Die gewöhnlichen einleitenden Gespräche waren bald beseitigt, ich erzählte von meinen neuen Arbeiten über die Ur-Teile des Knochengerüstes und konnte ihm die Bestätigung seiner frühern Vermutung über das Dasein von sechs Kopfwirbeln mitteilen. Zur schnellern Darlegung des Ganzen ersuchte ich um Bleistift und Papier;[282] wir gingen in ein zweites Zimmer, und wie ich nun den Typus des Fischkopfes in seiner Gesetzmäßigkeit schematisch entwickelte, unterbrach er mich oft durch beifällige Ausrufungen und freudiges Kopfnicken. »Jaja, die Sache ist in guten Händen«, sagte er; »da haben uns der Spix und Bojanus so etwas hergedunkelt! Nun, nun! Ja, ja!« Mit diesen, auf eigentümlich gutmütige Weise betonten Worten pflegte er überhaupt alle Pausen des Gesprächs zu beleben.

Der Diener brachte eine kleine Kollation. Es war mir ein rührendes Verhältnis, Goethe zu sehen, wie er mir den Wein eingoß und ein Brot mit mir teilte, selbst von der einen Hälfte genießend und mir die andere reichend! – Dabei sprach er von meinen beiden Bildern, die ich ihm vor einem Jahre durch Frommann gesendet hatte, erzählte, wie ihm das eine (das Haus auf der Brockenspitze) längere Zeit seiner Bedeutung nach rätselhaft geblieben, wie nur später erst eine dritte Person (der Großherzog, wie Frommann mir sagte) ihm den Aufschluß darüber gegeben und wie diese Dinge überhaupt wohl in Ehren gehalten würden. Dann ließ er sein Portefeuille über vergleichende Anatomie bringen und zeigte seine frühern Arbeiten. Späterhin kamen wir auf das Bedeutungsvolle in der Form der Felsen und Gebirge für Bestimmung der Art des Gesteins, ja für die gesamte Bildung der Erdoberfläche; und auch in diesen Ideen war er völlig einheimisch, ja er hatte dafür gesammelt, wie eine zweite wohlgefüllte Mappe mit Felsenzeichnungen vom Harz und andern Orten deutlich bewies.

Merkwürdig waren mir, als ich jetzt kurze Zeit im Zimmer allein blieb, die Anordnungen und Ausschmückungen desselben. Außer einem hohen Gestelle mit gewaltigen Mappen für Kupferstiche in ihrer geschichtlichen Folge interessierte mich ein mit Schubkästen, behufs der Aufbewahrung[283] einer Münzsammlung, versehener Schrank. Der Aufsatz desselben trug nämlich unter Glas eine ansehnliche Menge antiker Götterbildchen, Laren, Faunen usw., unter welchen ein ganz kleiner goldener Napoleon, in das glockenförmig verschlossene Ende einer Barometerröhre, gestellt, sich sonderbar genug ausnahm. Auch sonst aber wollte noch manches beachtet sein; so beschäftigte mich ein altertümliches wunderliches Schloß, welches mit seinem Schlüssel am Fenstergewände hing, so forderten auch hier manche Kupferstiche zur Betrachtung auf, ja selbst die Einrichtung der Zimmertür war bemerkenswert, da sie nicht in Angeln sich bewegte, sondern aus dem Türgewände hervor- und zurückgeschoben werden mußte. Zuletzt noch sprachen wir über entoptische Farben, und es brachte ihn dies darauf, Karlsbader Glasbecher mit gelber durchsichtiger Malerei herbeibringen zu lassen, an denen er mich die fast wunderbar scheinenden Verwandlungen von Gelb in Blau und Rot in Grün, je nachdem die Beleuchtung auf eine oder die andere Weise geleitet wurde, wahrnehmen ließ.1 – Äußerungen über die ungünstige Aufnahme so mancher seiner wissenschaftlichen Arbeiten konnte er hierbei doch nicht ganz unterdrücken. – Gegen 1 Uhr entfernte ich mich endlich, in aller Hinsicht erfreut und erwärmt.


[284] Spätere Nachschrift


Seit jenem Morgen des 21. Juli sind nun mehr als vier Dezennien vorübergegangen, und immer noch steht mir die einfach schöne Gestalt des werten Mannes, ganz in der Art, wie ich sie sah und wie der treffliche Rauch als Statuette sie bald nachher ausgeführt hatte, vor der Seele! Sie steht, von Rauch selbst mir verehrt, täglich vor meinem Blick. Ich hätte ihn damals länger sehen sollen! Er wollte mich zu Tisch behalten, ein paar Tage in seiner Nähe – welche vermehrte und liebe Erinnerungen würde ich mir bereitet haben! Aber so ist die Jugend! Mit Hast treibt sie meist fernen Zielen zu, und vieles Große, zu spät Erkannte, geht ihr darüber verloren. – So ich damals! Ich habe Goethe nie wiedergesehen, obwohl ich noch lange mit ihm korrespondierte! – Die Sehnsucht nach Ungesehenem, mein Eifer, die Geschöpfe des Meeres, über deren Bau ich so viel studiert hatte, nun im frischen Zustande kennenzulernen, sie zu zergliedern und lebendig zu beobachten, das war damals mir das Wichtigste! Und wäre es mir nicht so gewesen, ich hätte freilich manche Arbeit nicht gemacht, die ich später rühmlich durchführen konnte! Ich betrachte es als einen dankbar zu erkennenden Ersatz, daß ich in späten Jahren seinen Hinterbliebenen, seiner Schwiegertochter Ottilie, deren Schwester und Söhnen näherkam; ja daß mir von diesen seine schöne Büste von Tripel in den Saal gestiftet wurde mit den Worten: »Wenn der Papa dies sehen könnte, würde er sagen: Hier weilte ich schon lange!«


Bamberg, 24. Juli


Gestern abend spät trafen wir hier ein. Die Fahrt von Weimar über Rudolstadt, Steinach bis Koburg führte mich zum erstenmal über das Thüringerwaldgebirge, der Wasserscheide zwischen den Flußgebieten der Elbe und des[285] Main und Rhein, wo mich geognostische Verhältnisse, Gegend und Landesart mannigfaltig interessierten. Das Maintal selbst gab mir dann wieder andere Bilder; man konnte den heitern, schon etwas südlichern Charakter der Gegend nicht verkennen. Bis vor kurzem hatte die Bauart noch etwas von Gebirgsmäßigem; man traf, wie schon in Steinach, die Häuser auch äußerlich mit Schiefer bekleidet und, um das tote Grau doch etwas zu beleben, dann mit weißen Verzierungen bemalt. Jetzt wurde dies seltener; man kam durch eine Menge nahe aneinander liegender Ortschaften von ursprünglich massiver, fast opulenter Bauart, indes herrschte Verfall infolge langer Kriegsjahre überall. Ein großer Teil wohlhäbiger früherer Anlagen kommt sicher auf Rechnung des geistlichen Regiments, welches sonst hier waltete und seine Spur in der Unzahl von Betsäulen, Kalvarienberge usw. hinterlassen hat. Der Stolz der Bischöfe, welcher eine Menge prächtiger Klöster und Kirchen schuf, rief einen grandiosern, obwohl im ganzen geschmacklosen Stil in der Architektur hervor, und die mildere Regierung des Krummstabes, welche zum Sprichwort geworden war, ließ auch dem Volk damals noch zu größern Bauten hinreichende Kosten erschwingen.

Heute früh sind wir nun hier umhergewandelt, die Baulichkeiten dieses Bamberg mit seinen wohlgebauten Straßen zu betrachten. Die Regnitz durchströmt es in zwei breiten Armen, um sich dann mit dem Main zu verbinden. Mitten auf der Hauptbrücke, welche die beiden Hälften der Stadt verbindet, steht das Rathaus, nach beiden Flußseiten hin mit kolossalen, die ganzen Fronten bedeckenden Freskomalereien eines Veroneser Malers verziert. Es waren die ersten Freskomalereien, welche in dieser Größe uns im Freien aufstießen, und wenn man auch dem französierten Stil derselben nicht eben geneigt sein konnte, so[286] war doch nicht zu leugnen, daß das Ganze durch die Freiheit und Größe der Ausführung imponierte und durch seinen südlichen Charakter ergötzte. Dem Dom dann in seiner alten rundbogigen Bauart, bei seiner Größe und innern Übereinstimmung, gaben die Freitreppen, welche zum Gebäude hinanführen, und die altertümliche Farbe des wohnbehauenen und gefügten Gesteins ein malerisches und imposantes Ansehen. Auch im Innern macht die feierliche Pracht der weiten Räume bedeutende Wirkung. Alle Pfeiler sind mit Gemälden größtenteils neuitalienischer Schulen bedeckt, doch machte sich auch eine alte byzantinische Madonna durch ihre mohrenhafte Färbung und reichen Schmuck uns bemerklich. Es wurde eben Messe gelesen, welches an ausführlicher Besichtigung des reichen Chors, der mancherlei Statuen und sonstigen Merkwürdigkeiten hinderte, doch eine Gittertür, welche aus einem Kreuzgang in die unterirdische Kirche hinabführte, gestattete wenigstens einen Blick in das Helldunkel dieser Tiefe, wo mehrere zu einzelnen Kapellen führende Treppen sowie ein Brunnen nur mit Mühe unterschieden wurden. Das Ganze roch wohl etwas nach Klosterwesen und Inquisition, und es stimmten dazu die sonderbaren Anschläge an den Kreuzgängen, welche zu fleißigem Beten für Befreiung von Ketzereien und zu Prozessionen für ähnliche Zwecke aufforderten.

Mir waren diese katholischen Zustände hier zum erstenmal so recht gegenständlich geworden, und die Erzählung von den neulichen Vorgängen bei Anwesenheit des Fürsten von Hohenlohe vermehrte deren widrige Wirkung; denn als dieser nach der sogenannten Heilung der Fürstin von Schwarzenberg hierherkam, füllte sich der ganze Domplatz mit Gebrechlichen, um von dem neuen Wundertäter Linderung und Heilung zu begehren. Ein Auflauf, bei welchem jeder Andersdenkende und seine Überzeugung[287] Äußernde in Gefahr gewesen wäre, von dem wütenden Volke gesteinigt zu werden, entstand damals, und nur die unter näheren Aufsicht im Krankenhause angestellten und dort vollständig scheiternden Heilversuche des Fürsten, endlich aber das von höherer Behörde untersagte öffentliche Auftreten desselben stellten die Ruhe wieder her.

Ich ging dann vom Dom nach dem herrlichen, am Ende der Stadt an der Regnitz liegenden Krankenhause, dessen Einrichtung mir von Dr. Reutel gezeigt wurde, und fand die Ordnung des Ganzen musterhaft. Die Anstalt ist im Jahre 1783 durch den Bischof Franz Ludwig gegründet, und zwar auf Anregung seines Leibarztes Marcus, dessen Gedächtnis eine am Eingange eingelegte Marmortafel ehrenvoll erhält. Von da zieht die Stadt sich an Hügeln hinauf, und bei dieser Lage gewährten mehrere einzelne Punkte die anmutigsten Aussichten, wobei eine große Ruine, Giegburg genannt, in weiter Ferne an der Höhe der Talwände gelegen, recht gut zu der Masse von Giebeln und Türmen stand, welche im Vordergrund sich gruppierten. Ein anderes hübsches Bild gewährte es, als wir zu einer gotischen Stadtkirche kamen und unter weit vorgebauter Halle, welche die Durchsicht auf tiefer liegende Straßen gestattete, mehrere alte Leute, vom Kirchweg ermüdet, dort ausruhen fanden; schienen doch recht eigentlich diese Hallen dazu gebaut, daß die Müden ruhen, die Erhitzten sich kühlen und die Schwachen sich hier erholen und alle so gekräftigt ins Heiligtum eintreten sollten. – Wie wir dann durch kleine Nebengäßchen weiterzogen, hatten wir noch über mannigfaltige im Innern der Stadt aufgerichtete Betsäulen und an den Häusern befestigte Heiligenbilder unsere Betrachtung. Ich konnte diesen Brauch im ganzen nicht tadeln, denn man sage, was man will, so bleibt es doch zuletzt ein unmittelbar ins Leben[288] eingreifendes Hinweisen auf das Höhere, woran erinnert zu werden dem so leicht in bloß äußerliches Tageleben sich verlierenden Menschen nie überflüssig wird. Höchst naiv erschien es indes doch, als wir an einem ärmlichen Häuschen über der Haustür zwischen den Fenstern den heiligen Laurentius auf seinem Roste liegen sahen, zu dessen beiden Seiten ein paar leere Weinflaschen standen, in welche irgendeine fromme Hand weiße Lilienstengel gesteckt hatte.

1

Ich hatte damals sehr den Wunsch, solchen Glasbecher zu erlangen, allein der verehrte Mann sagte mir, dergleichen wären jetzt nicht mehr zu haben, aber versprach mir einen Ersatz dafür. In Wahrheit sendete er mir später einen hübschen kleinen Apparat, in welchem sich über schwarz und weißem Felde schwachfarbige Glasplättchen hin- und herschieben lassen und das Phänomen vortrefflich zeigen. – Ich bewahre diesen kleinen Apparat als teueres Andenken.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 275-289.
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