IV.

[327] Faido, 14. August abends


Früh gegen 7 Uhr bestiegen wir heute zwei Pferde, welche uns nach Airolo über den Gotthard bringen sollten. Es war ein heiterer, kalter Morgen, und herrlich spielten leichte Wölkchen um die Schneegipfel. Noch in Andermatt begegneten uns Prozessionen zum morgigen Feste Mariä Himmelfahrt. Voraus alte Fahnen und Knaben mit Klingeln, dann aber eine Menge ziemlich werktägig gekleideter Frauen und Kinder, alles unter Läuten der Dorfglocken fortschreitend. – Hospenthal, an dessen Kirche sich die Straßen nach Gotthard und Furka teilen, stellt durch und durch einen wahren Gebirgsort dar. Grau, schmutzig, unordentlich liegen die Hütten, untermischt mit einigen modernen Gasthöfen, unter- und übereinander; ein hoher alter Wartturm scheint schon in grauen Zeiten die Wacht über diese Bergstraßen gehalten zu haben.

Von hier ritten wir endlich auf allmählich ansteigenden Wegen immer der Reuß entgegen zum wahren Gotthardpaß hinauf. Merklich wird jetzt dies Gebirgswasser kleiner, bildet aber fortwährend die schönsten Wasserfälle. Das Tal flacht sich nach und nach mehr aus; die Vegetation ist auf Gras und Kräuter eingeschränkt, welche letztere im allgemeinen immer noch wenig Neues zeigen.[327]

Höher steigend werden die Bergwände rauher und kahler, herabgestürzte größere und kleinere Granitblöcke liegen an ihren Lehnen und an ihrem Fuße; die weißen Gipfel leuchten schon näher, immer noch zuweilen von Wolken umspielt.

Endlich traten wir hinter einem über gewaltige Felsblöcke sprudelnden Wassersturz, von wo noch ein köstlicher Rückblick in das Reußtal nach der Windgälle hin, in die völlige Schneeregion ein. Der frischgefallene Schnee war schon häufig wieder geschmolzen und lag nun in einzelnen Massen auf Gras und Steinen. Eine göttlich reine heitere Bergluft umgab uns, die lange entbehrte Sonne erwärmte uns, und gleich wie an einem schönen Märztage blühten die Blumen unter dem Schnee hervor.

Nach langem Fortreiten in dem immer flacher werdenden beschneiten Tale, wo uns ganze Züge beladener Maultiere, aber auch manche einzelne Wanderer begegneten, gelangten wir jetzt auf den höchsten Punkt des Gebirgspasses, auf die Wasserscheide des Gotthard, wo es interessant ist, unter ungeheuern Felsblöcken einen klaren Wasserspiegel zu gewahren, aus welchem einerseits die gegen die Nordsee strömende Reuß und andererseits der gegen das Mittelmeer strömende Ticino zugleich ihren Ursprung nehmen. Links und hoch über sich aber sah man nun die eigentliche Gotthardspitze und rechts den gleichfalls mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel des Berges Santa Maria.

Tiefer und tiefer neben dem herrlich schäumenden Tessin stieg nun der Weg abwärts; der Schnee war bald gänzlich verschwunden, Gesträuche und Bäume zeigten sich wieder, lange Züge beladener klingelnder Maultiere zogen zum Gotthard hinauf, und die Täler der italienischen Schweiz öffneten sich immer schöner. Vor Airolo sahen wir schon die längs des Ticino üblichen aufgerichteten[328] Stangen mit Querhölzern (großen Leitern vergleichbar), um das immer noch schwer reifende Korn dieser Täler daran abzutrocknen.

Airolo selbst, wo wir Mittag hielten, ist ein ärmlicher Ort, in dessen Bauart schon Schweizerisch und Italienisch sonderbar zusammenfließen. Die Volkssprache ist ein italienisches Patois. Schon hier war nun im Wirtshause alles anders; italienischer Schmutz fing sich an zu zeigen, auf dem Estrich des Zimmers standen zwei merkwürdige Beteten, jedes fast für drei Personen breit genug, übrigens bloß aus einigen derben Matratzen bestehend, welche auf zwei sägebockartig gekreuzten Fußpaaren ruhten; eine Rolle diente zum Kopfkissen, und etliche buntgewirkte Tiroler Decken stellten das Deckbett vor. Auch fiel ein eiserner Dreifuß, welcher das Waschbecken tragen mußte, in dieser Weise fast noch mehr in die Augen, auch einige bunte Heiligenbilder daneben wurden natürlich nicht vermißt; dem Wirte aber, in luftiger Nankingjacke mit gelbem Strohhut und brennendem Sigaro, sah schon so ziemlich der italienische Beutelschneider aus den Augen.

Mit einem Träger versehen, und nachdem wir unsern vorigen Führer nebst Pferden zurückgesendet hatten, wanderten wir jetzt nachmittags von hier weiter auf einer trefflich gebauten Heerstraße das reizende Tessiner Tal hinab.

Die Straße führte durch mehrere Dörfer, wo die niedliche Tracht der Mädchen mit ihren zierlichen Strohhüten und die freundlichen Kindergesichter uns zu wahrer Ergötzung gereichten; ja hier und da zeigten sich an Wegkapellen und an den Häusern große Heiligenbilder, deren meistens sehr tüchtige Ausführung einen volkstümlich bessern Stand der Kunst schon sichtlich beurkundet.

So führte uns denn dies anmutig begrünte, aber immerfort von ungeheuern Bergwänden eingeschlossene Tal fast[329] unmerklich hierher nach Faido, während von allen Seiten die herrlichsten Wasserfälle zum Ticino herabstürzten; und wir mußten uns fast wundern, daß im allgemeinen doch diese Gegend so wenig genannt wird.

Überschüttet von den so mannigfaltig schönen und großen Erscheinungen der letzten zwei Tage, suche ich jetzt im ersten italienischen Nachtlager endlich das hochbeinige Bett auf, nachdem uns die Magd längst ihr »felice notte« gewünscht hatte, während sie die abendliche Lampe brennend auf den Tisch setzte.


Bellinzona, 15. August mittags


Der Himmel sah gestern abend ziemlich trübe aus, und so hatten wir uns denn unserm Wirt von Faido verdungen, uns in zwei Tagen nach Milano zu schaffen. Gegen 5 Uhr wurden wir also mit dem Zurufe der Magd »E ora!« geweckt und bestiegen nun bald ein leicht fortrollendes Fuhrwerk. Es hatte in der Nacht stark geregnet, und noch war der Himmel leicht umflort. Die köstlichen Talwände des Ticino erschienen im feinsten Duft bis zu den schneebedeckten Häuptern hinauf.

Die herrlichsten, in reizenden Gegensätzen sich gegeneinander senkenden Linien wurden jetzt im Morgenduft sichtbar, und gerade die gewaltige Höhe ist es, welche hier ganzen Kastanienwäldern und Felsmassen nur die Wirkung kleiner Verzierungen eines unendlich Großen zuteilt. Links am Wege lag auf ungeheuer hohen Felsen eine kleine Kirche, rechts spielten die Morgenwolken um eine Schneespitze und sahen fast aus, als glühten sie an einem Vesuv herauf. Alles groß und nie gesehen!

Bald kamen wir an eine nach dem Kanton Chur führende, hier in das Tessiner Tal geöffnete gewaltige Bergschlucht, wo auf dunkelblauen, vierfach hintereinander abgestuften Gebirgsrücken glänzend weiße Wolken auflagen. Die[330] Fernsicht in dieses Tal, der Vorgrund näherer mit Kastanien bedeckter, schräg gegeneinander sich senkender Bergwände, die heitere warme Luft, der lustig am Wege umher sich rankende Wein, es war das erste Bild eines wahrhaft südlichen Himmels, welches mir entgegentrat! – Überhaupt erschien nun der sonnige Himmel merklich in glänzenderm Licht, ja nachdem wir am Morgen noch frischgefallenen Schnee auf den hohen Bergköpfen deutlich bemerkt hatten, erfreuten wir uns mittags dieser südlichen Heiterkeit doppelt. Nun sahen wir Bellinzona, ein auf mehrern Hügeln gelegenes Städtchen von völlig italienischem Ansehen. Mehrere Zitadellen mit zackigen Zinnen werden sichtbar, üppige Weingärten strecken sich mit Landhäusern untermischt an den untern Bergwänden hinauf, und hoch über der Stadt, wie zur Seite des Weges, ragen nackte, aber nicht mehr beschneite Gipfel in die Wolken.

Wir fahren durch das Tor und finden statt eines ärgerlichen Pflasters den Wagen federleicht auf Steinplatten, welche gleich Trottoirs für die Räderspuren gelegt sind, dahinrollen. Auf den Straßen ist es sehr lebhaft; viele Leute kommen zufolge des heutigen Feiertags aus der Kirche, vor deren Tür auf echt italienische Weise ein großer Vorhang die Türflügel ersetzt. Die Frauen, in weißen, zum Teil auch bunten Kleidern, sind meistens mit schwarzen Florschleiern geschmückt. Ihre Physiognomien sind durchgängig interessant und haben meistens etwas von jenen geistreichen eigentümlichen Zügen, die ich bisher nur zuweilen an italienischen Sängerinnen bewundern konnte. Auch der Gasthof, wo wir Mittag halten, ist charakteristisch. Ein großer, mit Backsteinen gepflasterter Saal, mit verzierter Balkendecke und großem, in Stukko reich ausgearbeitetem Kamin wird uns zum Tafelzimmer angewiesen. Man sieht wenig Fenster, und diese wenigen[331] gehen nach dem Hofe und sind noch zur Erhaltung der Kühle mit Jalousien bedeckt. Unsere Stanza ist ganz von gleichem Schlage: überall Steinpflaster, die Öfen gänzlich verschwunden und italienischer Schmutz bereits nicht zu verkennen. Man kann sich schwer überreden, daß man hier noch in der Schweiz sei.

Wir machen vor Tische einen Spaziergang. Zwischen den Weinbergsmauern vor der Stadt überblickten wir das herrliche Tal mit Lust und fühlten uns endlich einmal wieder von der Sonne recht ordentlich durchwärmt. Eidechsen in Menge fuhren pfeilschnell an den Mauern entlang und hinauf, auch wurden so fort einige gefangen und bestens aufbewahrt. Zurückgekehrt, wurden mancherlei uns noch wenig mundende Gerichte aufgetragen. Kartoffeln und Fleisch finden wir hier zuerst in Öl gebraten. Auch der italienische tintenhafte Rotwein will nicht behagen.


Lugano, denselben Tag abends


Gegen 3 Uhr fuhren wir von dem schön gelegenen Bellinzona weiter. Der Weg führt über den Monte Ceneri, und zwar immer auf denselben herrlichen Straßen. Nur hier und da hatten wilde, von den Bergen stürzende Gewässer infolge des letzten heftigen Regens Beschädigungen verursacht. Auch hier sind die Berge mit üppigen Kastanienwäldern bedeckt, deren mit großen Früchten beschwerte Bäume eine reichliche Ernte hoffen lassen. Ebenso trafen wir am Fuße des Berges den ersten Feigenbaum, welcher seine reichbeladenen Zweige breit über die Gartenmauer herüberhing. Weiter hinauf am Berge fand sich dann viel Stechpalmengesträuch, auch sahen wir in der Wirklichkeit, was als Staffage, bald gut, bald schlecht gemalt, man längst auf vielen Bildern gesehen hatte, eine Wegkapelle unter Kastanienbäumen, von andächtigen italienischen Frauen in ihren breiten Strohhüten oder zierlichen Schleiern[332] umgeben; daneben aber wurde durch das dunkelgrüne, in der Sonne blitzende Kastanienlaub der Anfang vom Lago Maggiore sichtbar, in den hier der Ticino sich ergießt, und am Ufer des Sees erscheint Locarno, der Hauptort des Kanton Tessin.

Wie aber doch dieses heiße Sonnenlicht jenseits der Alpen so ganz anders leuchtet als in unserm Norden! Wie dunkelblau die Schatten der schönen fernen Gebirgsmassen; wie scharf die Umrisse der ganzen Ferne von dem so durch und durch leuchtenden Himmel sich absetzen; wie dunkel und schön reflektieren die Schatten selbst auf den nahen Gegenständen, und wie blitzend und sonnig die Lichter!

Hinter dem Monte Ceneri bis in die Nähe von Lugano war der Weg weniger ausgezeichnet. Frauen, auf Eseln dahertrabend, auch ein Geistlicher, auf wohlgeputztem Eselein in Begleitung einiger Weiber des Weges ziehend, wurden nicht unbeachtet gelassen.

Die Dörfer mit ihren Häusern mit ganz offenen Fenstern und fast ganz platten Steindächern haben ein pittoreskes, aber sehr verwildertes Ansehen. Dabei sind die Kirchturmspitzen völlig verschwunden; kleine oder größere platt geendete schlanke Glockentürme sind an ihre Stelle getreten. Besonders gedeiht überall der Wein, dessen Beeren hier schon der Reife ganz nahe sind, man sieht ihn lustig über flach liegende Lattengerüste oder von Baum zu Baum sich ranken, und Winter wie Sommer bleibt er unbedeckt stehen. Auch Maisfelder sind nun schon ganz allgemein geworden und ersetzen die fast verschwundenen Kornfelder.

Endlich, endlich Lugano selbst, herrlich am Lago di Lugano gelegen, von gewaltigen Bergen umgeben! Der spitzige Monte San Salvatore, dicht vom grünen Spiegel des Sees aufsteigend, zeichnet sich vorzüglich aus.

Diese Stadt ist nicht unbedeutend, die Straßen sind wieder[333] mit breiten Steinplatten für Wagenräder belegt, und ein offener Platz am Seeufer, von hübschen Gebäuden umgeben, macht eine sehr gute Wirkung. Die meist lang und flach gebauten Häuser werden schon an vielen Fenstern mit kleinen, von Eisengeländern umfaßten Balkonen verziert. Auch hier finden wir im Gasthof wieder einen ungeheuern Speisesaal mit gewaltigem, arabeskenreichem Kamin und Austritt auf weinumrankten Balkon, übrigens aber immer dieselbe Mischung von vergangener Pracht und von Schmutz.


Milano, 17. August früh


In Capo di Lago, einem kleinen dürftigen Orte, aber gelegen an der Paradiesespforte dieses herrlichen Sees, erhielten wir jetzt einen gebrechlichen Einspänner mit einem Fuhrmann der Art, wie man sie als Mausefallen- und Tintenkrämer wohl in Deutschland umherziehen sieht, nichtsdestoweniger jedoch gelangten wir noch zu rechter Zeit nach Como, sehr anmutig halbzirkelförmig ausgebreitet am südwestlichen Ende des Comer Sees gelegen. Hohe, mit Villen, Gärten, Wäldern und Wiesen gezierte Gebirgsufer geben auch diesem See eine mannigfaltige, wenn auch dem See von Lugano nicht zu vergleichende Schönheit. Bald nach der Ankunft strichen wir etwas durch die Stadt. Die Handwerker arbeiteten hier schon in großen offenen Gewölben an der Straße, und wenn man so an verschiedenen belebten Werkstätten vorüberkommt, fühlt man sich durch dieses frische Heraustreten innerlichen Lebens ans Öffentliche gleichsam mit erheitert. Die Frauen tragen einen fast altrömischen Kopfputz, denn die geflochtenen Zöpfe werden durch eine mächtige, mit zwei Knöpfen versehene Nadel zusammengehalten, und außerdem ist noch eine Menge großer glänzender Nadeln nach Art eines Fächers in diesem Neste zusammengesteckt.[334]

So kommen wir denn auf den Marktplatz und vor die Hauptkirche! Sie ist an ihrer Fassade mit weißem Marmor durchaus belegt und mit viel Bildhauerarbeit halb gotisch, halb italienisch, im ganzen etwas sinnlos, verziert. Vor dem Eingange hing anstatt der Türflügel auch hier nur ein Vorhang. Es wurde Messe gelesen, und wir traten hinein. Man findet nur wenig Bänke in diesen Kirchen, da das Volk am Boden kniet, und das Ganze erhält dadurch immer ein geräumigeres, freieres Ansehen. Auch geben die wenigen, gleichfalls mit Vorhängen verdeckten Fenster ein gewisses mystisches Halblicht, was immer die poetische Wirkung erhöht. Dabei aber hörten wir freilich die Musik eines Opernrezitativs, womit man eben die Messe begleitete; und damit konnten wir uns nun weniger verständigen! – Jetzt führte uns der Weg an die Ufer des weit in die Stadt hinein ausgetretenen Sees! Zwei Gondoliere luden uns ein zu einer Fahrt auf dem See, wir stiegen ein, und unzählige Villen, meistens mailändischen Patriziern gehörig, sahen wir die Ufer verzieren, über welche denn immer die schönen Berge emporsteigen. Auch die Stadt mit ihrer Domkuppel und der über sie herabschauenden Burgruine stellt sich vom See höchst anmutig dar.

Halb vier Uhr fuhren wir aus den Toren von Como. Die Gegend flacht sich nun vollkommen ab, nur die Voralpen bleiben in Nordosten als eine schön geformte Kette mit schneegekrönten Häuptern immerfort sichtbar und schimmern bei voller Abendbeleuchtung in den anmutigsten Farben. Die Straßen sind trefflich, und unser Vetturin jagte immer in vollem Trabe von dannen. Erst nach 9 Uhr, als längst schon der feuriger als bei uns aufgegangene Mond seine Strahlen versendet hatte, fuhren wir zu Mailands Toren hinein und gelangten durch eine Menge meist enger, aber sehr lebhafter, von vielen Gewölben,[335] Cafés und dergleichen hellerleuchteter Straßen in den trefflichen deutschen Gasthof von Reichmann.


[Milano,] denselben Tag abends


Heute früh weckte mich die Helligkeit des heitersten Himmels, dessen tiefdunkles Blau hier nur selten durch Regenwolken getrübt wird. Ich suchte zuerst den Dr. Farnese auf, welcher, über ein mitgebrachtes Diplom der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Dresden höchst erfreut, mir allen Vorschub leisten zu wollen versicherte und mir zunächst die Tafeln der von ihm veranstalteten zweiten Ausgabe von Mascagnis »Anatomie« vorzeigte.

Mein weiterer Weg führte dann am Dome vorbei, und um mich etwas zu erholen von der Hitze dieser Straßen, trat ich hinein. Diese altersgrauen Marmorgewölbe, auf eine vierfache lange Reihe von starken, oben mit Heiligenbildern verzierten Pfeilern gestützt, diese herrlichen sparsam verteilten, aber ganz mit dunkelglühender Glasmalerei ausgefüllten Fenster, der freie, nicht mit Stühlen besetzte Fußboden, die einzeln hier und da knienden Leute, der einförmige Ton des Messelesens, alles machte einen mysteriösen erhabenen Eindruck. Aufmerksam überschritt ich die noch von Galilei gezogene Mittagslinie, welche, von Messing in den Marmorfußboden eingelassen, quer durch das Kirchenschiff nahe an der Hauptpforte hindurchgeht. Eine kleine Maueröffnung im Deckengewölbe wirft hier täglich genau zur Mittagszeit einen Sonnenstrahl auf diese Linie und dient so nicht nur astronomischen Zwecken, sondern zugleich der jedermann zugänglichen Berichtigung bürgerlicher Zeit.

Als ich nun wieder unter dem Vorhange des Haupteingangs der Kathedrale heraustrat, fiel mir freilich der stärkste Kontrast grell ins Auge; denn unmittelbar vor den Kirchenstufen zeigte sich ein in Eile eröffnetes Polichinelltheater,[336] wo der Arlechino im schnarrenden Ton und mit häufigen Pritschenschlägen die gaffende Menge belustigte. Auch sitzen die Leute, welche Vögel, Hunde, Kaninchen usw. feilhaben, unmittelbar um den Dom herum, und zwischen den Pfeilern an den Mauern finden sich wahrhaft überströmende luftverpestende Kloaken.

Um 11 Uhr trat ich in die Galleria Brera. Ein höchst opulenter Palast mit Kolonnaden, Freitreppen, Korridoren und einem großen viereckigen Hofe geziert, war er ehemals [als] Jesuitenkollegium gegründet und ist späterhin von Napoleon der Akademie der Wissenschaften und Künste eingeräumt worden. Außer der ebenfalls neu zusammengebrachten und hier aufgestellten Gemäldesammlung umfaßt die Brera die Studiensäle der Künstler, die physikalische Sammlung der Akademie und den Botanischen Garten.

Gleich beim Eintritt in die Gemäldegalerie hielt mich eine Reihe von Freskogemälden Luinis fest, welche aus den Wänden einiger alten Kirchen mit vieler Sorgfalt herausgenommen und hier gleich Ölbildern in Rahmen aufgestellt worden sind. Vorzüglich ist da ein herrliches Bild der Maria mit dem Kinde, der heiligen Ursula und dem heiligen Antonius zur Seite, welches eine wohlgelungene Tafel der neuern mailändischen Kupferstecherschule mir früher schon bekannt werden ließ; nur daß das Bild selbst unendlich schöner war und daß ihm sogar das halb Verblichene der Freskofarben einen besondern geisterhaften Zauber mitteilte. Ferner war die Verlobung der Maria mit Joseph, von Luini schön in großen Figuren behandelt. Man erblickt Joseph kniend; sein Stab allein vor denen aller andern Freier hat Blüten getrieben, und ergeben in die vom Himmel selbst ausgesprochene Wahl, kniet Maria unter andern Jungfrauen auf einer erhabenen Galerie im Hintergrunde. Die Charakterfigur eines[337] Mannes, rechts am Bilde, welcher gutmütig welterfahren über den seiner Meinung nach zu enthusiastischen Joseph hinschaut, war besonders gelungen.

Unter den übrigen Bildern zeichne ich noch folgende an: Ein Guercino da Cento, Abraham, wie er die Hagar verstößt – halbe Figuren. Die aufgehobene fortweisende Hand Abrahams erscheint sinnvoll als Mittelpunkt des Bildes, dessen eine Seite von der weinenden Hagar, mit ihrem Sohne, dessen andere Seite von der mehr im Rücken gesehenen neuen Sklavin und Abrahams Kopf erfüllt wird. – Auch das reiche Bild des Paolo Veronese, die Hochzeit zu Kanaan, die reizende Kindergruppe von Albani, das in starker Verkürzung trefflich gemalte Brustbild eines toten Mönchs von Velasquez und die Sammlung von Malerbildnissen, durch die Künstler selbst gemalt (worunter auch das Bild des Raphael Mengs), dürfen nicht übergangen werden. Das eigentliche Kleinod dieser Galerie aber bleibt die berühmte Verlobung der Maria und des Joseph von Raffael. Ein so zartes, so in sich vollendetes klares Bild von ihm mag schwerlich weiter gefunden werden! Nur eine reine jungfräuliche Seele konnte ein solches Jungfrauengesicht wie das dieser Maria darstellen. Raffael malte bekanntlich dieses Bild, von welchem Longhi den schönen Kupferstich gegeben hat, als Jüngling von 21 Jahren.

Merkwürdig ist indes doch auch noch ein Bild vom Vater Raffaels, eine Verkündigung Mariä. Neben mancher Unvollkommenheit erscheint hier viel, das wir gar wohl als Hindeutung auf den Sinn des Sohnes ansprechen dürfen.

Drei Hauptsäle der Sammlung sind übrigens von musterhaft schöner Einrichtung. Nicht genug, daß Fußboden und Säulen von Gipsmarmor sie in edler Weise verzieren, es fällt auch ein höchst günstiges Licht von oben durch eine Kuppelöffnung herein, und zwar so, daß eine unter[338] der Glasdecke übergespannte Leinwand das Sonnenlicht auf solche Weise mildert, wie es eben zur Betrachtung am vorteilhaftesten wirkt.


[Milano,] 19. August


Der gestrige Vormittag war der Besichtigung des großen Krankenhauses sowie des Gebär- und Findelhauses gewidmet, wobei Dr. Farnese meinen Führer machte. Später um 6 Uhr wanderte ich nun wieder aus und jetzt zunächst nach der berühmten Kolonnade von sechzehn schönen korinthischen Marmorsäulen, dem einzigen großen antiken Monumente, welches Mailand aus allen gewaltsamen Verheerungen gerettet hat. Sie stehen vor der Kirche San Lorenzo, mit einem langen, schmalen Dache überbaut, durch große Eisenstangen und Reifen zusammengehalten, und beide Enden der Kolonnade werden durch aufgemauerte starke Pfeiler geschützt. Ein großes al fresco gemaltes Marienbild mit davorhängender Laterne an der Seite des zur Linken stehenden Pfeilers macht dabei freilich den sonderbarsten Kontrast. Man glaubt, daß diese Säulen zu den Herkulesbädern gehört haben, welche Maximian (mit dem Zunamen Herkules der Mitregent des Diokletian) erbauen ließ. Andere wollen jedoch den schönen Stil derselben nicht mit dem Zeitalter des Maximian im Einklange finden und setzen sie in frühere Zeiten. Wie dem auch sei, es ist ein herrliches Werk des Altertums und schaut mit seinen schwärzlichen verwitterten Massen recht ernst und tüchtig auf das gemeine tägliche Treiben herab.

Wir besuchten dann einige Kirchen. Ihre Pracht machte mir keinen weitern Eindruck, dagegen ist es in den meisten so schön kühl und still. Hier und da sieht man einzelne Betende. An der mit einem reichen Vorhange verhangenen Haupttür sitzt gewöhnlich eine bejahrte Frau,[339] mit Stricken beschäftigt, als einziger Hüter oft so vieler Schätze. Wenn ich hier lebte, diese Kirchen sollten mir oft das Asyl sein, wenn ich in einsamer Betrachtung mich über mich selbst aufzuklären bestrebt wäre! – Warum will man bei uns nicht fühlen, daß für den einen die einsam stille Betrachtung ebenso reiner, ja vielleicht innigerer Gottesdienst sein könne als für andere das Anschließen an zahlreiche Versammlungen?

Reizend ist doch übrigens der Abend in einer italienischen Stadt! Überall die bis zum Zimmerboden geöffneten Jalousienfenster mit kleinen, von Eisengeländer umgebenen Balkonen! Schöne Frauengestalten daran lehnend oder sitzend, von Blumen umgeben! Auf den Straßen wird zur Vermehrung der Kühlung gesprengt, eine rege Heiterkeit bewegt das Volk, und ein eigentümlicher, goldig rötlicher Glanz belebt als schöneres Abendrot die mild erwärmten Luftwellen. –

Am heutigen Morgen machten wir zuerst einen Gang nach dem Fischmarkte, denn es lag mir daran zu wissen, ob hier aus Seen oder Flüssen etwa ungewöhnliche Arten zu Markte gebracht würden. Bedeutendes fand sich nicht vor; dafür hatten wir aber Gelegenheit, manches Nationale in diesem Markt- und Krämerwesen zu bemerken. So sieht man zum Beispiel das Eis überall als notwendigen Marktartikel. Fische und Fleisch, meist auf grünen Reisern ausgebreitet, werden durchaus mit Stücken Eis belegt, und nur so erhält man unter viel wärmerm Himmel diese Dinge länger als in unserm Klima frisch. – Weiter ergötzt sich das Auge gern an den zu großen Haufen aufgeschütteten Melonen, an den mancherlei Kürbissen, den Pfirsichen, Feigen, Trüffeln usw. Von den letztern nötigte uns ein Kerl, der sein »tuberi belli!« rastlos ausschrie, zu kosten, und wir fanden den Geschmack selbst roh ziemlich angenehm. Unbarmherzig aber werden[340] hier die armen Frösche behandelt; denn es saßen da viele Weiber, ganze Säcke voll lebendiger Frösche zur Seite, und indem sie fortwährend schwatzten oder verkauften, griffen sie einmal ums andere eine Handvoll dieser armen Leibeigenen heraus, um sie jämmerlich zu erwürgen. Denn Stück für Stück wurde einzeln gepackt, die andere Hand schnitt »rasch mit zwei geschickten Griffen« Vorderpfoten, Kehle und halben Kopf weg und zog dann zugleich dem ganzen übrigen Rumpfe nebst den Hinterpfoten die Haut ab, so daß jetzt mit einemmal das Tier für die Küche fertig erschien. Oft versuchte so ein armer Entkleideter, Kopfloser noch einen vergeblichen Sprung, aber umsonst; denn gleichgültig schleuderte ihn die Hand der Tyrannin zu den übrigen Präparierten.

Was weiter den Fremden auffällt, ist die Art des Verkaufs selbst. Nichts wird hier gezählt oder nach der Hand, wie wir sagen, ausgegeben, sondern alles, Gemüse, Salat, Obst, Fische, Fleisch, Trüffeln usw., muß gewogen werden. Da sitzt der ärmlichste Höker mit seiner Schnellwaage, deren einziges Gewicht an dem langen Waagebalken er geschickt hin- und herzuschieben weiß, und so, wirklich sehr schnell, wird das Gewicht bestimmt.

Wir entfernten uns endlich aus diesem Gedränge und wendeten uns wieder zum Dome, diesmal namentlich zur Besteigung des Domdachs, zu welchem man aus dem Kirchenschiff durch eine Seitentür auf schön gehauenen Stufen gelangt.

Die Übersicht des Domgebäudes von oben ist die imposanteste! – Denkt euch einen so gewaltigen Bau, mit nur wenig geneigter Bedachung von weißen Marmorplatten so belegt, daß das Ganze wie auf breiten Treppenstufen an jedem Punkte bequem umgangen werden kann, denkt euch die großen, von den gotischen Pfeilern gebildeten Galerien mit unzähligen Spitzsäulen, Heiligenbildern,[341] durchbrochenen Strebepfeilern und Geländern verziert, denkt euch hinauf und hinab freie Bogentreppen geschwungen, denkt euch alle diese Werke mit größter Nettigkeit aus weißem Marmor gearbeitet und ahnt nun hinter diesem Walde gotischer Architektur die weite herrliche Aussicht über die mächtige Stadt, über die große fruchtbare Ebene der Lombardei, welche gegen Venedig hin sich unabsehlich verliert, während sie westlich und nördlich von den Apenninen und der schneebedeckten Alpenkette begrenzt wird, und ihr werdet fühlen, was hier das Hinabsteigen erschwert!

Wie um Mailand überhaupt, so hat auch um den Dom Napoleons Regierung sich große Verdienste erworben, indem sie die Vollendung der Westseite und der Fassade, den ältern Baurissen gemäß, bewirkte. Auch jetzt wird an diesem im Jahre 1386 zuerst begonnenen Werke noch fortgebaut, leider indes schläfrig genug. Mag jedoch endlich auch einmal, vielleicht nach der Arbeit von sechs Jahrhunderten, der Bau völlig beschlossen werden, ein Ganzes wird er doch nie! Denn schon in den ersten Jahrhunderten seiner Entstehung haben die Ideen von mehr als 60 Architekten sich hier gekreuzt, und römischer, gotischer und modern italienischer Stil erscheinen daher da in wundersamer Vermischung. Es gleicht dieses Werk einem begabten Geiste, unter Verhältnissen und Zeiten auf die Welt getreten, welche ihn hinderten, sich zu dem in der Wirklichkeit zu entfalten, wozu der ideale Keim, mächtig treibend, in seinem Innern gegeben war!

Wir wanderten jetzt zur nächsten Umgebung der Stadt, und ein neues tüchtiges Werk nahm alsbald unsere Teilnahme in Anspruch. Es ist die große Arena, von Napoleon mit kaiserlicher Pracht angelegt, ganz im Stil eines antiken Zirkus, und zu Kampfspielen, Wettrennen, ja selbst zu Naumachien eingerichtet, da durch Verbindung mit[342] dem großen Kanale der gesamte, 400 Ellen lange und 200 Ellen breite Kampfplatz in kurzem unter Wasser gesetzt werden kann. Zehn Stufenreihen und die obern Galerien fassen über 30000 Zuschauer, und das Hauptgebäude über dem großen Eingange prangt auf der inneren Fassade mit acht kolossalen Säulen aus dem schönsten Granit und von korinthischer Ordnung. Der schaffende, immer weitgreifende Geist des Kaisers sieht aus allen Zügen dieses Bauwerks hervor, trotzdem daß die jetzigen Behörden Napoleons und Josephinens Porträt dort in römische Götterbilder umzuwandeln versucht haben.

Zum Kloster Madonna delle Grazie zog uns hierauf Leonardo da Vincis unsterbliche »Cena«. Ein hohes, rundliches, altes Gebäude von unbeworfenen Ziegelsteinen, jetzt mehr und mehr der Verwitterung sich entgegenneigend, birgt dieses wunderbare Werk. Die Kirche allein dient noch ihrem ersten Zwecke, die Klostergebäude sind für Ökonomisches verwendet. Es wird die große Türe des Refektoriums aufgeschlossen, man tritt ein in den langen, hohen, gewölbten Saal und gewahrt sogleich an der rechten Querwand, halb über einer jetzt vermauerten Tür, dieses gewaltige, nun in das vierte Jahrhundert hineinleuchtende Kunstwerk; zwar in seinem allerletzten Verblassen, aber auch so noch schön. Man erkennt erst hier recht deutlich, wie bei der weit übermenschlichen Größe der Figuren Vinci nur durch Einfachheit und Vermeidung alles Verwirrenden die höchste Wirkung hervorgebracht hat. Mit Ehrfurcht berührte ich die Wand, an welcher Vinci einst arbeitete! Nie, ich gestehe es, habe ich ein so eigentlich historisches Bild sonst irgendwo gefunden, nie so tiefe Weisheit des Meisters so schön ausgesprochen gesehen als in diesem, jetzt nur auf fleckiger, vermodernder Wand noch unbestimmt schwebenden Bilde, welches, einem Geiste vergleichbar, der höhern Regionen[343] gereift ist, schon großenteils von diesem irdischen Boden sich gelöst hat. – Ausdrücklich will ich hier jetzt nur noch des Umstandes gedenken (denn über alles andere hat ja Goethe zu vollständige Berichte gegeben), daß auch die räumlichen Verhältnisse des Bildes, namentlich die der Breite zur Höhe, vollkommen rein und bei weitem schöner sind, als man in den unzähligen Nachbildungen zu sehen gewohnt ist, deren ungemäße Ausdehnung in die Breite stets einen unerfreulichen Eindruck hinterläßt. – Es ist übrigens Vincis »Cena« nicht das einzige Gemälde in diesem Refektorium, sondern auf der entgegenstehenden Querwand findet sich noch von Donatus eine Kreuzigung Christi. Fünf Jahre älter als Vincis Bild, nämlich vom Jahre 1495, hat sie sich doch um vieles besser erhalten, welches dem Umstande zuzuschreiben, daß es Fresko gemalt, ja in einzelnen Armaturen und dergleichen sogar als Basrelief behandelt ist, dahingegen Vinci das Seinige leider nur in Ölfarben ausführte.

In der Kirche dieses Klosters, welche wir nun betrachten, wurde uns noch ein zweites Werk als von Leonardo da Vinci herrührend gezeigt. Man sieht auf dem Altare einer Nebenkapelle nämlich hinter Glas eine braune, byzantinische Madonna, welche als Vorhang niedergelassen wird, um nun erst die Madonna Vincis sichtbar zu machen. Ganz geradeaus blickend, im Königsschmuck, den Hals mit reichen Schnuren wirklicher Perlen umgeben, steht sie streng und groß als Himmelskönigin da; zwei Gestalten, ein alter Geistlicher und eine wegen Vertiefung des Bildes schwer sichtbare Frau, blicken andächtig zu ihr auf. Die Kirche selbst ist ein seltsames altes Gebäude, rund gewölbt, mit vielerlei Gitterwerk und Draperien auf das sonderbarste verziert.

Von andern Kirchen will ich nur zwei noch ausführlicher erwähnen. Die erste ist die des heiligen Ambrosius, die[344] älteste Kirche Mailands, wo sonst langobardischen Königen und Kaisern die eiserne Krone aufgesetzt zu werden pflegte und wo noch jetzt mehrere der erstern begraben liegen. Schon von außen zeichnen sie zwei schlanke, flach zugespitzte Türme neben dem flachgiebeligen Hauptgebäude aus. Auch ist sie an der Front mit einer Kolonnade umgeben, in deren Seiten eine Menge römischer Grabsteine eingemauert sind. Die Kirchenwände sind aus weißem Marmor, und der Stil ist roh und massiv, womit denn die neue Kuppel und einige modern verzierte Seitenkapellen wenig übereinstimmen. Rätselhaft erscheint eine einzelne alte Säule, eine eherne Schlange tragend, von welcher das Volk sich erzählt, ihr Zischen werde den Jüngsten Tag einst verkünden.

Die zweite ausgezeichnete Kirche war die eines ehemaligen Nonnenklosters (Monasterio maggiore), deren gesamte Wände mit Freskogemälden Luinis verziert sind. Diesen trefflichen Mann kennenzulernen ist außerhalb Mailand, der Seltenheit seiner Bilder wegen, kaum möglich; hier aber gewinnt man ihn um so lieber, denn in allen seinen Werken ist ein reines, dem Göttlichen innig zugekehrtes Gemüt deutlich durchleuchtend. Vorzüglich schön war die Darstellung der Taufe Christi. Christus kniet, Johannes steht bekleidet und vom himmlischen Strahle beleuchtet über ihm, und links ist eine sehr schöne Gruppe von vier knienden Engeln. Auch die Darstellung des Johannes des Täufers, umgeben von mehrern andern Heiligen, sowie die einzeln auf Pilaster gemalten Figuren mehrerer weiblichen Heiligen, der Apollonia, Barbara, Ursula und anderer, waren durchaus sehenswürdige Bilder.

Den Beschluß unserer Wanderung machten wir in der Ambrosianischen Bibliothek, welche besonders wegen ihres Reichtums an Handschriften (sie zählt deren gegen 20000) berühmt ist. Wir sahen zuerst hiervon manches[345] Seltene, zum Beispiel ein Manuskript auf Papyrus aus dem fünften Jahrhundert, auch den ganzen Virgil, von Petrarca aufs zierlichste auf Pergament geschrieben und mit vielen Randnoten ausgestattet. Napoleon pflegte dieses Exemplar stets auf seinem Arbeitszimmer zu haben, neuerlich erst hat es die Bibliothek zurückbekommen.

Hinter der Bibliothek, welche im Erdgeschoß eines nicht eben imposanten Gebäudes aufgestellt ist, liegt ein kleiner Garten, wo, untermischt mit manchen fremden Gewächsen, schöne Hibiskusgesträuche aus ihren großen violetten Blumen den angenehmsten Duft spenden. Von hier tritt man in die Kunstsammlung. Im ersten Saale finden sich Gipsabgüsse, einige Antiken und Canovas Monument für den Maler Bossi. Am bemerkenswertesten war uns die Büste Dantes mit den scharfen unverkennbaren Zügen. Im andern Saale hängen Gemälde. Vor allen ist hier wichtig der große Karton von Raffael zu seiner Schule von Athen. Eine kolossale, herrliche Zeichnung! Nächst diesem sind schöne Sachen von Vinci und Luini da. Von ersterm mehrere Porträts, auch ein gezeichnetes der neapolitanischen Königin Johanna. Von letzterm ein schöner Johanneskopf, an Zartheit und Empfindung mit Recht das Gegenstück zu der Münchener Cäcilie von Vinci zu nennen. Dann noch eine heilige Familie und viele einzelne Köpfe. Zuletzt fand sich von unserm lieben Dürer ein kleines, historisches Bildchen, der heilige Hubertus vor dem Hirsch, und dann (in seiner ausgebildeten klassischen Art zu malen) das blutende Haupt Johannis des Täufers.

Damit wir nun nicht aus Mailand reisen möchten, ohne seine Theater gesehen zu haben, gingen wir abends zu Teatro alla Scala. Man gab »Cenerentola« mit Musik von Rossini und zwei Balletts. Das Theater fängt um 8 Uhr an.[346]

Die Anlage des Hauses ist durchaus groß und gewaltig; es enthält ein einziges, aber sehr großes und mit höchst bequemen Sitzen versehenes Parterre und sechs Logenreihen übereinander. Über dem Proszenio zeigt auf großem, transparentem Zifferblatt eine Uhr fortwährend Stunde und Minute. Bei Anfang des Stücks war alles noch ziemlich leer, erst nach und nach füllten sich Logen und Zirkel. Man kommt, den Hut auf dem Kopfe, unter dem Stück herein, spricht, lacht, in den Logen schienen hier und da Spielpartien arrangiert zu werden, weshalb denn häufig, um alle von seiten des Stücks mögliche Störung zu vermeiden, die Logenvorhänge dicht zugezogen wurden, und nur eine Bravourarie oder eine neue Tänzerin fesselt dann auf kurze Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit. Kurz, es ist eigentlich auf einen Unterhaltungssaal abgesehen, wobei die guten Musen eben einigen Stoff hergeben müssen, wenn sie geduldet sein wollen. Nur mit dem Technischen der Musik und des Gesanges scheint es schärfer genommen zu werden, denn als in einem Duett ein paar junge Sängerinnen nicht recht genau Takt hielten, rief man gleich ziemlich laut: »A tempo ragazze!« Auf dem Theater ist alles auf Sinnenreiz berechnet: Beleuchtung, Maschinerie, Dekorationen, Kleidung, alles ist höchst glänzend, dabei die Individualität dieser Sänger, ihre Lebendigkeit, ihre Komik namentlich, höchst anregend; an etwas Höheres wird dabei eben nicht gedacht. Mit einem Worte, es geht durchaus nach dem Sinne des Direktors im Vorspiel zum »Faust«.

Nach dem ersten Opernakte folgt das große Ballett, und welches! »Die Jungfrau von Orleans«, völlig nach Schillers Drama; nur daß mancher Spektakel, den Schiller bloß erzählen läßt, hier dem Schaulustigen deutlich vor Augen gestellt ist. Wie denn zum Beispiel die Belagerung Orleans sehr prachtvoll dargestellt, auch das Stück selbst[347] mit der Erscheinung eines Engels bei der Wundereiche eröffnet wird. Dieses Werk so wiederzusehen war hart! Dabei indes wirklich Aufzüge, Schlachten, Erscheinungen, Kleidungen, Waffen, Dekorationen mit einer Pracht eingerichtet, von welcher mir unsere Theater bisher noch keinen Begriff gegeben hatten. Nach diesem Ballett folgte der zweite Opernakt und endlich das zweite Ballett, eine Szene aus »Don Quichote«, welche ausgepfiffen wurde. Erst um ein Uhr nachts war das Ganze geendet, und nur die schöne, reine, italienische Nacht, wo das letzte Viertel des Mondes noch, gleich dem Vollmonde bei uns, den großen Dom auf der Westseite herrlich erleuchtete, konnte wahren Ersatz gewähren für den doch eigentlich meist in Indignation zugebrachten Abend.

Was ließe sich mit solchem Aufwande wahrhaft Großes und Herrliches leisten! Welche reiche Talente zeigten einzelne Sänger, namentlich die beiden Tenoristen! Und wie wird doch alles hier einem falschen Götzen zum Opfer gebracht! Es scheint uns nun einmal nicht möglich, Sinnenreiz und Geistesgewalt in gleich hohem Grade zum Kunstwerk einen zu können; eins muß nachstehen! Und da mag mir es doch keiner verdenken, wenn ich lieber den Leib hart gehalten wissen will, auf daß der Geist desto freier zu seinem Urquell aufstrebe!

Wie anders stand es da noch um dramatische Kunst zu Shakespeares und Cervantes Zeiten, wo in der »Numancia« angeordnet ist, statt des Donners ein Geräusch mit Stöcken unter dem Theater zu machen! Es ist ganz wie mit der trockenen, einfältigen Malerei der Alten! In der Trockenheit liegt's freilich nicht, daß sie groß sind, wohl aber in der menschlichen, die wahre Größe immer nur in einer Richtung gestaltenden Natur.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 327-348.
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