IV.

[160] In meinen naturwissenschaftlichen Studien wurden mir einige Jahre später auch noch zwei Freunde von wesentlicher Förderung, Freunde, die, wenig jünger als ich, noch in Leipzig bei meinen Vorträgen über Zootomie mir teilweise Schüler gewesen waren und deren einer im Jahre 1820 ebenfalls eine Professur bei unserer Akademie, nämlich die der Botanik und Zoologie, überkam, während[160] der andere, von einer Reise nach Island zurückgekehrt, sich mit Bekanntmachung der Resultate derselben beschäftigte und im Jahre 1824 ebenfalls hier, erst bei den naturwissenschaftlichen Sammlungen des Zwingers und dann bei der königlichen Bibliothek, eine Anstellung erhielt. Der erstere war Reichenbach, der andere Thienemann, beide durch ihre Werke in der Wissenschaft rühmlichst bekannt geworden und mir viele Jahre hindurch als treue Teilnehmer an Lebensereignissen und Arbeiten bewährt.

Auch die von der Akademie aus gestiftete gelehrte Gesellschaft für Natur- und Heilkunde, mit deren Sekretariat man mich gleich anfangs betraut hatte und welcher ich späterhin auch einige Jahre als Präsident vorgestanden habe, nahm meine Tätigkeit mannigfaltig in Anspruch; ja außerdem hatte sich unter des Bergrats Werner Vorsitz und Mitwirkung eine mineralogische Gesellschaft gebildet, in welcher ebenfalls meine Mitwirkung gewünscht wurde und in deren herausgegebenen Schriften sich noch jetzt eine Abhandlung findet »Überlebende Fossilien«, unter welchem Titel ich nämlich jene sonderbaren Fälle zusammengestellt hatte, in denen tief in Felsen eingeschlossen winterschlafende Amphibien, namentlich Kröten, zuweilen gefunden worden waren.

Übrigens pflegen fast alle diese gelehrten Gesellschaften darin mit vielen menschlichen Dingen das gleiche Schicksal zu haben, daß sie anfangs mit Heftigkeit angestrebt sind, einige Zeit in lebendiger Tätigkeit blühen und dann oft bald an innerer Leerheit und Auskühlung verscheiden. Insbesondere letzterwähnter Verein fiel nach wenigen Jahren diesem Ende anheim, zumal da der Stifter selbst schon 1817 in Dresden, wohin er öfters zu Verwandten zu kommen pflegte, plötzlich erkrankte und nach wenigen Tagen verstarb. Ich hatte diesen merkwürdigen Mann[161] ein Jahr vorher in Freiberg, dem eigentlichen Grund und Boden seines vieljährigen Wirkens, aufgesucht und einen, lehrreichen Tag in seinem Umgange zugebracht. Wir pflegten ihn nur »den alten Berggeist« zu nennen; eine kräftige untersetzte Gestalt mit einem bedeutsamen großen Kopfbau und von rastloser Tätigkeit. Dabei war ihm die Sonderbarkeit eigen, in seinen Unterhaltungen scheinbar für alles andere, und namentlich für Medizin, ein weit größeres Interesse zu zeigen als für sein wahres Fach, die Gebirgskunde. Als ich nach Freiberg ging, und ich machte wirklich diesen ganzen Weg das erstemal zu Fuß an einem schönen Herbsttage – zunächst um meinem alten Freunde Dr. Weiß, dessen getreue Pflege während meines fürchterlichen Nervenfiebers ich früher gerühmt habe und welcher jetzt als Physikus dort angestellt war, einen Besuch abzustatten, sodann aber auch, um das Bergmannsleben kennenzulernen –, da hoffte ich von dem wenn schon nur kurzen Verkehr mit Bergrat Werner manchen Aufschluß über Schichtungsverhältnisse der Gebirgsarten und ähnliche mich interessierende Aufgaben zu erhalten, des Wortes eingedenk, daß der beste Unterricht immer nur von dem erteilt wird, der auf das beste und vollständigste die Sache versteht und überblickt; aber meine Hoffnung wurde durchaus getäuscht.

Wir hatten nämlich, um breiteste Gelegenheit zu Besprechungen zu finden, veranstaltet, zusammen zu speisen, und fanden denn auch den alten Herrn, dessen Bekanntschaft ich bereits gemacht hatte, im besten Humor sich mitzuteilen, indes keineswegs darüber, worüber wir ihn zu sprechen gewünscht hatten, über Bergstruktur und Bergbau, sondern über Krankheiten der Bergleute und Medizin überhaupt. Diese Ausweichungen waren mir damals fast unbegreiflich; gegenwärtig aber legte ich mir sie besser zurecht, indem die Folgezeit bewiesen hat, daß[162] doch in Wahrheit seine ganze damalige Ansicht vom Wesen der Geologie nur ein Scheinbild war, ein Scheinbild, das bei einigermaßen sorgfältigern und tiefer greifenden Untersuchungen in Rauch aufgehen mußte und gegenwärtig nur historisch noch einiges Interesse haben kann, während das, was er für Kennzeichenlehre der Fossilien und Oryktognosie überhaupt geleistet hat, seinen Namen immer in rühmlichem Andenken erhalten wird.

Dabei war es jedoch keineswegs uninteressant, Werner eben auch über Medizin und Bergmannskrankheiten reden zu hören, denn das hat stets der geniale Kopf voraus (und genial war er nicht nur in der Erschaffung seiner Kennzeichenlehre der Fossilien, sondern in seinem ganzen anregenden Wesen für die Schüler in hohem Grade), daß er, was er immer anfaßt, auch auf besondere und eigentüchtige Weise erfaßt, allein freilich war es uns nicht zu verdenken, wenn wir anderes lieber gehört hatten. Übrigens kam es sehr seltsam, daß, als Werner in Dresden gestorben und feierlich nach Freiberg gebracht worden war und nun seine Dresdener Freunde beabsichtigten, ihn irgend durch einen Denkstein zu ehren, diese Angelegenheit sich so wandte, daß gerade durch dieses Monument nicht sowohl seine eigentümlichen Verdienste um die Wissenschaft, sondern nur eigentlich seine Irrtümer verewigt wurden.

Werner nämlich war durchaus Neptunist und hatte bekanntlich die Ansicht, daß der Basalt, dessen Feuernatur die neuern Forschungen bis zur unumstößlichen Evidenz dargetan haben, als Niederschlag aus dem Wasser entstanden und seine Säulenbildung auf ebendiese Weise beim Trocknen geworden sei, wie auf lehmigen Boden etwa, beim Verdunsten zusammengelaufenen Regenwassers, die Oberfläche in unregelmäßigen Rissen, welche fünf- bis sechs- oder siebenseitige Polygone bilden, sich[163] aufzublättern pflegt. So sei denn also auch der Basalt nicht etwa unter dem sogenannten Urgebirge des Granits hervorgekommen, sondern auf diesen oder andern Gesteinen abgesetzt worden. Gerade diese Vorstellung nun wählte der mit Entwerfung und Ausführung des Monuments beauftragte Architekt, dem freilich nur eine sehr kleine Summe disponibel übergeben werden konnte, für Verwirklichung eines Denksteins, welcher im ganzen eine derbe Granitwand darstellte, mit einer Gruppe dicht darüber aufgereihter Basaltsäulen. Da, wo Werners Leiche von Dresdener Verehrern an den Freiberger Zug übergeben worden war, kam dies Monument zur Errichtung und kann jetzt noch von jedem, der die Freiberger Chaussee in der Nähe des Dorfes Gorbitz befährt, bequem gesehen werden.

Nach diesen mannigfaltigen Betrachtungen wissenschaftlicher Richtungen und Begegnungen jener Lebensperiode ist es nun wieder an der Zeit, der künstlerischen Seite zu gedenken und auch in dieser Beziehung noch manches der Vergessenheit zu entreißen. Was meinen verewigten Freund Kaspar. David Friedrich betrifft, so waren wir schon um das Jahr 1818 einander nähergekommen. Er stand damals in den vierziger Jahren, und die Schärfe seiner Individualität war eben um diese Zeit leiblich und geistig am entschiedensten ausgeprägt. Gebürtig vom Strande der Ostsee, eine recht scharfgezeichnete norddeutsche Natur mit blondem Haar und Backenbart, einem bedeutenden Kopfbau und von hagerm, starkknochigem Körper, trug er einen eigenen melancholischen Ausdruck in seinem meist bleichen Gesicht, dessen blaues Augenpaar so tief unter dem stark vorspringenden Orbitalrande und buschigen, ebenfalls blonden Augenbrauen verborgen lag, daß darin schon der Blick des die Lichtwirkung im höchsten Grade konzentrierenden Malers sehr charakteristisch[164] sich erklärt fand. Friedrich erfuhr als Jüngling das Schreckliche, daß beim Schlittschuhlaufen ein besonders geliebter Bruder, mit dem er sich bei Greifswald auf dem Eise befand, vor seinen Augen einbrach und von der Tiefe verschlungen wurde. Kam nun hinzu ein sehr hoher Begriff von der Kunst, ein an sich düsteres Naturell und eine aus beiden hervorgehende tiefe Unzufriedenheit mit seinen eigenen Leistungen, so begriff man leicht, wie er einst wirklich zu einem Versuche des Selbstmords sich verleitet finden konnte. Er hüllte dies immer in ein tiefes Geheimnis, aber man wird fühlen, wie gerade eine solche schon begonnene, obwohl noch zu rechter Zeit gehinderte Tat notwendig eine dumpfe und dunkle Nachwirkung auf eine Individualität dieser Art ausüben mußte. Seine ersten Studien hatte er auf der Akademie zu Kopenhagen gemacht, und im Jahre 1795 kam er nach Dresden, wo er 1817 zum Mitgliede der Akademie und später zum Professor der Landschaftsmalerei erwählt wurde. In Dresden hatte er sich stets sehr abgesondert gehalten, an keinen der damaligen Professoren sich angeschlossen und so allmählich einen eigenen tiefpoetischen, doch oft auch etwas finstern und schroffen Stil der Landschaft sich ausgebildet. Wie in der Kunst, so war er auch im Leben; von strenger Rechtlichkeit, Geradheit und Abgeschlossenheit – deutsch durch und durch –, nie hatte er auch nur versucht, eine der fremden modernen Sprachen zu erlernen, aller Ostentation ebenso fremd wie jeder luxuriösen Geselligkeit. Man sah ihn fast nie unter Menschen, und ich erinnere mich eines einzigen Abends, da es uns gelungen war, ihn in einem kleinen Familienzirkel bei uns festzuhalten. Die Dämmerung war sein Element, früh im ersten Morgenlicht ein einsamer Spaziergang und ebenso ein zweiter abends bei oder nach Sonnenuntergang, wobei er indes die Begleitung eines Freundes gern sah: das[165] waren seine einzigen Zerstreuungen; übrigens brütete er in seinem stark beschatteten Zimmer fast fortwährend über seinen Kunstschöpfungen. Man kann denken, daß diese Natur mich reizte, und ich darf sagen, auch er hatte mich bald liebgewonnen und folgte ebenso meiner Art von Natur- und Kunstanschauung mit aufrichtiger Teilnahme.

Es war mir von großer Wichtigkeit, Friedrichs Verfahren bei Entwerfung seiner Bilder kennenzulernen. Er machte nie Skizzen, Kartons, Farbenentwürfe zu seinen Gemälden, denn er behauptete (und gewiß nicht ganz mit Unrecht), die Phantasie erkalte immer etwas durch diese Hilfsmittel. Er fing das Bild nicht an, bis es lebendig vor seiner Seele stand, dann zeichnete er auf die reinlich aufgespannte Leinwand erst flüchtig mit Kreide und Bleistift, dann sauber und vollständig mit der Rohrfeder und Tusche das Ganze auf und schritt hierauf bald zur Untermalung. Seine Bilder sahen daher in jeder Stufe ihrer Entstehung stets bestimmt und geordnet aus und gaben immer den Abdruck seiner Eigentümlichkeit und der Stimmung, in welcher sie ihm zuerst innerlich erschienen waren.

»Ein Bild soll nicht erfunden, sondern empfunden sein«, war sein Grundsatz, und man darf sagen, alle seine Bilder sind auf diese Weise entstanden. Sehr lehrreich für mich war das entschiedene Gefühl für reine Konzentration des Lichts, welche seine Werke auszeichnete. Er sagte mir einmal, ein Traum habe ihm zuerst darüber die rechte Erkenntnis gegeben, und er hielt diese Erkenntnis, welcher von Künstlern selten die ganz gebührende Rechnung getragen wird, sehr fest. Ist doch überhaupt in dieser Beziehung einer künftigen »Wissenschaft der Kunst« noch viel vorbehalten klar auszusprechen, was jetzt nur einzeln dunkel gefühlt wird.
[166]

Was künstlich ist, verlangt geschloss'nen Raum

Natürlichem, genügt das Weltall kaum,1


ist ein Wort, das man hier als Grundthema betrachten durfte. Das Bild, könnte man sagen, ist ein fixierter Blick, das gewöhnliche Sehen als ein bewegliches und stets besagtes Umschauen in der natürlichen Welt kennt keine Konzentration der Massen und des Lichts, der möglichst festgeheftete Blick dagegen (einen absolut festgehaltenen gibt es nicht wegen der steten innern Erzitterung des Auges) zeigt uns allemal in der Mitte des Sehfeldes, da, wo die beiden Augenachsen sich vereinigen, die größte Deutlichkeit, das heißt also auch die vollkommenste Lichtwirkung; das Bild folglich, welches als solches die Anschauung bieten soll eines nachgeahmten, aber durch Geistesabstraktion wirklich fixierten Sehfeldes oder Blicks, verlangt ebendarum durchaus teils den »geschlossenen Raum«, teils auch objektiv die Konzentration der Lichtwirkung, und unwillkürlich und halb unbewußt fühlt es daher sogleich der Beschauer als einen Mangel, wenn diesen Bedingungen nicht vollständig entsprochen ist. Friedrich empfahl mir einst ein Experiment, welches mich sehr aufklärte und welches ich hier noch erzähle, weil es wohl manchem nützlich werden könnte. Ein Mondscheinbild fand er einst auf meiner Staffelei, was ihm wahrhaft gefiel seiner Empfindung und Anordnung nach, welchem aber eben jene Konzentration noch sehr fehlte. Da bat er mich, eine dunkle Lasur auf die Palette zu nehmen und außerhalb des Mondes und der nächsterleuchteten Stellen alles, und je mehr gegen den Rand des Bildes um so dunkler, damit zu übertuschen und dann auf die veränderte Wirkung achtzugeben. Ich tat es, und das Bild war mit eins ein anderes geworden; nun erst war die Illusion der Mondbeleuchtung deutlich.[167]

Dabei erfreute ihn übrigens sehr ein gewisser freier Naturalismus in meinen Bildern, wie er eben nur aus unzähligen Naturstudien vollkommen hervorzugehen pflegt. Friedrich war es daher namentlich, der mich ermutigte, einige kleine Ölbilder an Goethe zu senden, dem sie gewiß gefallen wurden. Auch dies tat ich, und der alte Meister hat denn auch dieser Dinge in seinen Heften von Kunst und Altertum sehr teilnehmend gedacht, besonders eines Osterabends mit Faust und Wagner, welches späterhin Eigentum der Königin Karoline von Bayern geworden ist.

Mein Freund war dann im Jahre 1818 einmal wieder in seiner Vaterstadt Greifswald gewesen und hatte auch die Insel Rügen wieder durchwandert und mannigfache Studien mitgebracht, welche mich nicht wenig ergriffen und sehr den Wunsch rege machten, diese Gegenden und namentlich das Meer selbst kennenzulernen. Das nächste Jahr daher gelang mir wirklich die Erfüllung dieses Wunsches, und so danke ich Friedrich auch dort Eindrücke, die, selbst nachdem ich späterhin so viel Größeres und Reicheres gesehen, immerfort eine eigentümliche Tiefe und Schönheit bewahrt haben, mich aber zugleich auch immer deutlicher verstehen ließen, was eigentlich bei seinen Bildern der Magnet war, der mehr oder weniger ihrer aller Richtung bestimmte. Ich werde darauf noch kommen, wenn ich ausführlicher meiner Rügenschen Wanderung gedenke.

Sehr überrascht waren Friedrichs Freunde, als er um diese Zeit sich verheiratete, denn dem menschenscheuen melancholischen Künstler hatte niemand diesen Entschluß zugetraut. Er wohnte da an der Elbe, man nennt es den Elbberg, und eine Bürgerstochter aus seiner Nähe – er hatte sie wohl beim Stellen lebender Bilder kennen lernen, welches die jüngern Künstler zuweilen veranstalteten –[168] war seine Wahl; eine einfache stille Frau, die ihm nach und nach einige Kinder gebar, übrigens aber sein Leben und sein Wesen in nichts änderte.

Seine Bilder waren damals sehr gesucht, und er erhielt viele Besuche hoher und geringer Kunstfreunde, wobei es denn zuweilen auch an wunderlichen Begegnungen nicht fehlte, indem manche seiner Werke geradezu von kältern Naturen gar nicht verstanden werden konnten. So führte der weltbekannte gelehrte Hofrat Böttiger, mit dem auch ich damals öfters in Berührung kam und von dessen überall behäbiger Gefälligkeit und (nach Goethes Ausdruck) Ubique-Natur viele Geschichtchen kursierten, einst einige aristokratische Damen bei ihm ein, als eben ein neues Bild, eine weite nebelige Gebirgsferne mit einem einzigen darüber schwebenden Adler, auf der Staffelei stand. Der blinzelnde Archäolog stellte sich alsbald halb mit dem Rücken davor und entwickelte in fließender Rede den etwas erstaunten Beschauerinnen die Schönheit und tiefe Bedeutsamkeit dieses Seestücks, bis Friedrich verdrießlich auf die Gebirge zeigte und das Bild wegnahm. Ein anderer Kunstfreund stellte auch wohl einmal eins der von Friedrich allerdings oft etwas barock genommenen Seebilder, in denen aber doch stets irgendein der Ostseenatur charakteristischer Lichteffekt dem Künstler tief empfunden vorgeschwebt hatte, verkehrt auf die Staffelei und hielt den dunkeln Wolkenhimmel für die Wellen und den Himmel für das Meer und sonst dergleichen!

Doch lassen wir nun vorerst unsern Freund und wenden uns zu dem, was in meinem Geiste aufging durch Betrachtung der großen Kunstsammlungen.

Wenn man bedenkt, daß ich mit eingeborenem Verlangen nach den Wundern der Kunst früher in Leipzig mich völlig von allen Anschauungen dieser Art abgeschnitten fand und daß damals ein einziger Besuch in Dresden diesen[169] Durst nur noch mehr gesteigert hatte, so wird man fühlen, wie mächtig nun hier es mich bewegen mußte, in einzelnen Mußestunden ganz mich in solche Betrachtung zu versenken. Die damalige Anordnung der Gemälde in den beiden ungeheuern Galerien, der innern und äußern, ohne alle Querwände, hatte allerdings viel Unzweckmäßiges im einzelnen, trug aber dazu bei, im ganzen einen großen und feierlichen Eindruck zu machen. Trat man in einen dieser Säle, deren Wände das Beste trugen, was die Künstler mehrerer Jahrhunderte hervorgebracht hatten, so gab es das Gefühl, als eröffnete sich eine Kirche der Kunst. Von allen Seiten blickten bald erhabene, bald reizende Gestalten herab, hier eröffneten sich die weiten Gegenden Italiens, und dort sah man in Intimitäten niederländischen Lebens hinein, und das Auge schweifte eine Zeitlang wie auf Blumenbeeten unstet umher, bis es von irgendeinem besonders hellen Glanzpunkte festgehalten wurde und nun dort tiefer und tiefer sich ansaugte.

Eine allgemeine Bemerkung, die sich als eine der ersten mir aufdrängte, war dann immer die über die ruhige Licht- und Farbenwirkung aller dieser alten Bilder, wenn ich mich dagegen der bunten unruhigen Wirkung erinnerte, welche mir von jeher auf Ausstellungen größere Massen neuere Werke gemacht hatten. Ich fühlte wohl, daß die Patina des Alters hier auch einen Anteil hatte, aber sie war es doch keineswegs allein, was diese Ruhe hervorbrachte. Um dies alles recht zu empfinden, stelle man sich nämlich so weit von einem Bilde, daß schlechterdings nicht mehr erkannt werden könne, was es im einzelnen vorstellt, sondern daß nur die Gesamtheit von Licht und Schatten, nach hellern und dunklern Farben, ins Auge falle. Hier wird man nun bald finden, sehr viele der neuern Bilder, namentlich landschaftliche (doch auch[170] ein großer Teil der historischen), sie wirken dann fast landkartenartig bunt und unruhig auf das Auge, während in den meisten Bildern der alten Zeit, mit Ausnahme mancher altdeutschen und ähnlicher, eine gewisse Bescheidenheit der Farbe herrscht und aus breiten Schatten eine klare harmonische Lichtwirkung hervordringt. Wie sehr fand ich das namentlich an den beiden einzig vortrefflichen hiesigen Bildern des Claude [Lorrain] bestätigt, wenn ich an die Ostentation mancher neuen Landschaftsdarstellungen Italiens dachte, die mir früher vorgekommen waren, und wie sehr fand ich nun auch bei näherer Betrachtung es bestätigt, daß gerade nur durch diese bescheidene Ruhe es jenem in seiner Zeit so wunderbar hervortretenden Künstler gelang, den milden Hauch südlicher Lüfte und Fernen mit ihrer ganzen brusterweiternden Klarheit zur Empfindung zu bringen. Kam ich dann an Ruysdaels und Everdingens Bilder, so wurde mir, obwohl mit sehr veränderten Umständen, doch alsbald der gleiche Grund ihrer tiefen Wirkung bemerkbar, und natürlich verfehlte dies alles nicht, mich über vieles aufzuklären und auch für Förderung meiner eigenen Versuche mir wichtig zu werden.

Ich traf einigemal mit dem alten Klengel auf der Galerie zusammen und verdankte ihm dann über das Technische der ältern Malerei ebenfalls manche interessante Mitteilung. Es war seine Überzeugung, daß uns doch manche Geheimnisse der ältern Farbenbehandlung verlorengegangen seien, denn damals, als jeder Maler sich seine Leinwand selbst bereiten und seine Farben selbst reiben und mischen lassen mußte, habe denn freilich sehr verschiedenerlei Verfahren stattgefunden, das uns jetzt fehle, und wirklich habe ich es später auch noch erlebt, daß eine ganz neue Art zu malen an die Tagesordnung kam, von welcher damals noch niemand einen Begriff[171] hatte. Klengel führte mich unter anderm vor ein Bild von Lilienburg – es ist mäßig groß, auf Holz gemalt und zeigt ein aufgehangenes totes Birkhuhn und eine tote Lachtaube neben ein paar andern kleinen Vögeln liegend, was mit bewundernswerter Weichheit den Flaum des Gefieders und seine Farben wiedergibt – und fragte mich, ob ich glaube, daß durch eins der jetzigen Farbenmittel wohl diese Durchsichtigkeit und zugleich dieses Pastose der Behandlung zu erreichen möglich sei. Ohne Zweifel hätten diese Maler ein Bindemittel der Farbe besessen, welches ihnen verstattete, der feinsten Behandlung bald einer lasurmäßigen Klarheit bei voller Konsistenz der Farbe, bald einer großen Tiefe des Schattens bei immer bewahrter Durchsichtigkeit Herr zu sein, und allerdings fanden wir dann auch namentlich an den Bildern von Berghem noch mehr Beweise für diese Annahme. Überblickt man die breiten Massen seiner mit so großer Routine gemalten Bilder, den fast tuscheartig durchsichtigen Auftrag seiner Schatten bei schärfster Zeichnung des Pinsels und dabei die Weichheit und doch Präzision seiner Plastik in den Lichtern, so kann man kaum anders als glauben, daß er mit einem Stoffe malte, der bei größter Flüssigkeit doch überall die entschiedenste Modellierung und Sicherheit zugelassen habe. Übrigens war der alte Herr mit seinen Künstlertheorien schnell fertig! In seinem Felde, der Landschaft, meinte er, gäbe es doch am Ende nur zweierlei Stil: einmal den des Claude und ein andermal den des Ruysdael, und weiter sei damit nichts anzufangen, man müsse zu einem oder zum andern sich bekennen. Und dabei war doch gerade unmittelbar neben ihm eigentlich schon eine ganz neue Zeit aufgetaucht, und zwar zuerst in Friedrich, von dem späterhin mir einmal mein Freund David d'Angers sagte, als er mit seinen Werken bekannt wurde: »Voilà un homme, qui a découvert[172] la tragédie du paysage!«2 Allein das pflegt ja immer das Sonderbare verjährter Zustände unter den verschiedensten Verhältnissen zu sein, daß dann, wenn nun unmittelbar neben den Menschen eine neue Gestaltung der Dinge aufkeimt, sie nicht eher davon Kenntnis nehmen, als bis oft sie selbst davon sich plötzlich verdrängt finden.

Was die italienischen Schulen betraf, welche damals wesentlich die innere Galerie umschloß, so machten sie mir freilich stets den großen gewaltigen Eindruck, den sie fast nie auf das unbefangene Gemüt verfehlen; allein ich war meinem ganzen Entwicklungsgange nach so sehr dazu gedrängt, überall von der Natur zur Kunst geführt zu werden, daß hier immer noch ein gewisses unsichtbares Band von völligem Verständnis mich zurückhielt; ein Band, welches nicht eher ganz sich löste, bis Italien selbst sich mir erschlossen hatte. Ist es doch fast unglaublich, mit welch tiefen Wurzeln alle jene Darstellungen in der glühenden Atmosphäre, in dem leidenschaftlichen Gemüt, in der Schönheit des Landes und der Generation und im Katholizismus jener Zeiten wurzeln! Ebendarum war ja die neuere deutsche Kunst verloren, solange sie den Spuren jener großen Meister durchaus und unbedingt nachgehen zu müssen glaubte! Es konnte das nur zu Zwittergeburten leiten, und man kann recht eigentlich sagen, daß auch hier lange Zeit Irrtümer herrschten gleich dem obenerwähnten von Klengel in bezug auf den Landschaftsstil von Claude und Ruysdael. Die großen neuern Werke eines Cornelius, Lessing, Kaulbach, Gallait und Paul Delaroche haben erst lebendig gezeigt, daß die Neuzeit eine eigene Kunstrichtung im historischen Stil nicht nur zu fordern das Recht hat, sondern daß sie auch in Wahrheit in freierm, ich möchte sagen mehr kosmopolitischem Sinne[173] (weil weniger vom Boden abhängig) Großes zu schaffen vermag. Wie es demnach nicht leicht war, der neuern Kunst den rechten Weg zu bereiten, so war auch das Verständnis der alten historischen Kunst von jeher mit Schwierigkeiten verknüpft. Ging es doch selbst Goethe so, den auch auf unserer Galerie zuerst die Bilder des Domenico Feti mit ihren Darstellungen unmittelbar praktischer Lebensaufgaben weit stärker anzogen als die wunderbaren Werke der großen römischen und venetianischen Meister.

Was mich betraf, so war mir daher eigentlich ein niederländischer Maler – Schüler des Rembrandt –, von welchem die Galerie drei ganz ausgezeichnete Werke besitzt, Ferdinand Bol, der Führer zum bessern Verständnis höhern historischen Stils überhaupt. Nimmt man es nämlich genau, so darf man wohl sagen, das rechte historische Bild müsse im Wesen stets irgendwie an die alte Tragödie erinnern, indem es, gleich dieser, durch lebensvolle Darstellung bedeutender Persönlichkeiten einen jener unendlich verschiedenen möglichen Konflikte zur Anschauung bringt, in welche Gefühl, Erkenntnis und Wollen menschliche Seelen tausendfältig verwickeln und welche dann zuhöchst wieder in irgendeiner Beziehung zur Förderung der Entwicklung gegen vollendetere Offenbarung des Göttlichen gereichen sollen. Gleich der antiken Tragödie wählt daher das echte historische Bild stets nur wenige seelische Individualitäten in ihrem Aufeinander- oder Zusammenwirken, läßt sie aber mit möglichster Klarheit und Entschiedenheit hervortreten und hat nur das im reinsten Zusammenfassen von Form und Farbe als Moment zu ergreifen und räumlich auszudrücken, was das tragische Kunstwerk, im Zusammenhalten von Bewegung und Handlung in der Zeitfolge, durch Menschen darstellt. Will man wirkliche Werke in dieser Beziehung vergleichen,[174] so wird man, bei allem Weitauseinanderliegen der äußern Verhältnisse, merkwürdige Übereinstimmungen der Wesenheit gar wohl zu erkennen vermögen. Die Heilige Familie zum Beispiel, in deren Mitte jenes wunderbare Kind hervortritt, welches im Opfer seines Blutes als welterlösend sich dereinst erzeigen soll, wenn sie als Bild von drei oder vier Figuren nach der ganzen Tiefe ihrer Bedeutung zur Anschauung gebracht wird, wir können sie einer Euripideischen Tragödie, etwa von der Iphigenia in Aulis, die zum Heil ihres Volks der Opferung verfällt und doch ihrem Wesen nach gerettet bleibt, ganz wohl gegenüberstellen und im Aufsuchen mancher Gleichartigkeiten und Ungleichheiten zwischen beiden unsern Scharfsinn beweisen.

Ich hoffe, nach dem Vorhergehenden wird man daher vollständiger begreifen, wenn ich jetzt darzulegen versuche, inwiefern Bilder jenes neuern Niederländers (Ferdinand Bol starb 1681) für mich bedeutungsvoll und lehrreich gewesen sind. Ich muß jedoch, um mich ganz klar zu machen, zunächst den Inhalt dieser Bilder etwas näher andeuten. Das merkwürdigste derselben ist unter dem Namen des »Uriasbriefes« bekannt.3 David, den edeln, dichterischen Helden, sieht man vom Throne dem Urias den verhängnisvollen Brief empfehlen, den der alte, widrig kalte Schreiber zur Seite des Thrones eben vollendete und dem Opfer übergab. Ein entschiedener Konflikt zwischen dem ehrlich festen Kriegergesicht und dem innern beengenden Herzschlage des Königs tritt merkwürdig hervor, und man ahnt im voraus den Tod des einen und die Buße des andern. Gleichsam in ihrem Mittelpunkte ist also eine ganze Tragödie erfaßt. Das andere Bild, mehr im Sinne eines Familienlebens ergriffen, stellt Joseph dar,[175] wie er seinen Vater dem Pharao entdeckt und empfiehlt. Hier ruht der Akzent ganz auf dem Joseph, in dessen großen, klugen Zügen eine merkwürdige Durchschauung der Weltverhältnisse und so auch das Talent, sie glücklich zu lösen, hervortritt. Das letzte endlich ist eine ganz im niederländischen Sinne alltäglichen Lebens aufgefaßte Flucht nach Ägypten. Von keiner Erhabenheit der mystischen Bestimmung des Christuskindes ist hier die Rede, wohl aber von dem schwer lastenden und endlich doch besiegten Geschick einer mit bitterer Not kämpfenden Familie. Der Mutter Brust entbehrt schon der Nahrung für das Kind, und mit schweren Gedanken innerlich kämpfend, starrt der Mann über die scheinbar Hilflosen hin; während zwischen den Fingern seiner Hand ein Messer halb bewußtlos gewiegt wird.

Indes, wie gesagt, für damals waren jene Bilder mir ungefähr das gewesen, was für Goethe die Parabeln des Domenico Feti, und von da an wurden mir nach und nach nun auch die großen Italiener in ihren Werken verständlicher, doch immer so, daß für die neuern verhältnismäßig früher mir der Sinn aufging als für die ältern. So entsinne ich mich wohl, daß die büßende Magdalena von Franceschini (gestorben 1729) mir damals auch zuerst in einer tiefern Bedeutung aufging. Der nagende Schmerz der ermattet Zusammensinkenden, wie aller Schmuck des Lebens von ihr abfällt und ein inniger aufwärts gerichteter Blick allein ihr Ersatz gewähren darf für vollkommenste Resignation, er gab mir zu vielfältigsten Betrachtungen Anlaß und ließ mich zu dieser Zeit noch übersehen, daß bei alledem eine gewisse Üppigkeit des Stils im ganzen Bilde von dieser höhern Aufgabe im Stoff doch noch bedeutend sich entferne.

Allmählich ging mir dann die Hoheit der ältern Venetianer auf. Giacomo Palma namentlich und dann Tizian[176] selbst, sie zogen mich mehr und mehr an, und insbesondere übte ein Werk des erstern – die drei wunderbaren Frauenbilder – auf mich lange Zeit eine so eigene Anziehung, daß ich vielfach damit umging, alle die Gedanken, die sich mir hierbei zudrängten, in Form einer Novelle, welche diese idealen Gestalten irgendwie verwirklichen sollte, auszusprechen; ein Unternehmen, welches indes nie zur Ausführung gekommen ist. Wie ich denn endlich zu Correggio überging, wie Paul Veronese mich in seinen großen dramatischen Darstellungen beschäftigte und wie zuletzt das nie genug zu preisende Werk Rafaels in seiner ganzen Schönheit mir immer näher rückte, darüber werde ich vielleicht noch in den folgenden Blättern manchmal zu berichten die Gelegenheit finden.

Wie denn also nur durch innere Geistesentwicklung allmählich die Schätze der Galerie sich mehr und mehr mir erschließen konnte, so verdient nun auch das Verhältnis der jungen Seele zu den plastischen Bildwerken des Altertums wohl einer nähern Erwägung. Es verbirgt sich hier viel Seltsames im menschlichen Gemüt! Vermöge des ungemein Naiven, Ursprünglichen und Reinen in der Antike sollte man glauben, es müsse von Haus aus sogleich eine unmittelbare Verwandtschaft zu ihr in uns vorhanden sein, und strenggenommen existiert auch diese Verwandtschaft allemal im ganz Unverdorbenen; aber wie lange dauert es, bevor sie in dem Menschen des Tages wahrhaft zum Bewußtsein zu gelangen vermag! Man könnte dies Verhältnis in Wahrheit fast vergleichen dem des Menschen zu seinem eigenen Innern! Dieses Innere sind wir selbst, wir leben, atmen, denken durch dasselbe, und wieviel Leben vergeht, bevor wir zu einer einigermaßen vollständigen Erkenntnis von demselben gelangen, ja, es kann der Seele anfänglich davor wahrhaft grauen! So nun ungefähr ist es auch mit der Antike! Eben weil[177] der Mensch ihr ursprünglich so sehr nahesteht, bleibt er ihr geistig lange fern, und sie erscheint ihm anfangs in ihrer großartigen Abstraktion mit einer gewissen Starrheit, so daß mir immer geschienen hat, der Mythus von der alles versteinernden Schönheit des Medusenhauptes werde zunächst von der Antike selbst erzählt.

Als ich nach Dresden kam, war eine tiefere Kenntnis der Antike mir noch fast ganz fremd. Ich hatte auf der Leipziger Akademie, wie ich früher erzählte, größere Studien nach dem Borgheseschen Fechter, nach Laokoon und ähnlichem mit Sorgfalt gezeichnet, aber ich hatte diese Werke so hingenommen, wie man die Natur hinnimmt, ohne viel dabei zu denken; und als mir hier das Augusteum seine Schätze öffnete, als die reiche Sammlung der Mengsschen Abgüsse sich auftat und so nun auf einmal ein reicher Blick in jene Kunstwelten selbst gewährt wurde, da fühlte ich innerlich mich erschüttert, und weite neue Gedankenzüge drängten sich mir zu. Ein einziges gab es, das anfänglich störend einwirkte, und das waren die Umstände, unter welchen damals diese Sammlungen allein sichtbar wurden. Nicht, wie jetzt, frei und offen dem Publikum zur Anregung und Bildung anheimgegeben, sondern der eifersüchtigen Bewachung habsüchtiger Inspektoren anvertraut, wurden sie nur unter drückenden Verhältnissen geöffnet, und mancher Aufflug der Gedanken erlahmte sogleich, wenn man der in der Person eines philisterhaften Führers verkörperten Prosa streng zu folgen verpflichtet war. Als ich mit Freund Nasse und den Seinigen zum erstenmal das Erdgeschoß des Japanischen Palais mit seinen Altertümern durchwanderte, führte uns der damalige Aufseher Lipsius, und soll ich von der Art etwas näher berichten, wie ein solcher Führer diese unschätzbaren Überreste betrachtete, so bedarf es nur der Erwähnung, daß dieser Seltsame uns am Schlusse der Wanderung[178] mit großer, ja fast unglaublicher Selbstzufriedenheit versichern konnte: der Katalog, den er über diese Sammlung ausgearbeitet habe, sei von einer solchen Vollständigkeit, daß, wenn ja einmal eins der hier bewahrten Stücke abhanden kommen sollte, dasselbe nach seinen Angaben recht füglich wiederhergestellt und ersetzt werden könne. Nicht viel besser ging es bei des Mengs Abgüssen. Man sah sie häufig bei Fackelbeleuchtung, welcher sie ein gut Teil jener Schwärze danken, womit man sie vielfältig überzogen fand, bevor sie in das neue Museum überwanderten, und in der bunten Gemeinde, die dann dem prosaischen Cicerone nachzog, war ebenfalls wenig innere Sammlung denkbar.

Nach und nach jedoch fand ich Wege, auch allein, in einzelnen Stunden und mit Muße, dem Studium so großer Werke mich hinzugeben, und nun ging auch hier eine eigene Welt mir auf.

Ich hatte früher so oft von der ungeheuern Naturwahrheit und der strengen Nachahmung der Wirklichkeit in der Antike vieles Rühmen gehört, und es überraschte mich daher nicht wenig, als ich bei ruhigerm Erwägen bald zu der Überzeugung gelangte, daß gerade die Freiheit und die Abstraktion in diesen Werken es sei, die die höchste Bewunderung verdiene. Bei Oken hatte ich die etwas paradoxen Worte geschrieben gefunden: »Schön ist, was den Willen der Natur darstellt. Unschön ist, was die Natur durch Kunst darstellt«, und diese Worte wurden in meiner Anschauungsweise und Kunstphilosophie erst zur Gewißheit durch das tiefere Erkennen der Antike.

In Wahrheit, je mehr man die Werke der Griechen von diesem Standpunkte aus erwägt, um so mehr muß man erstaunen, woher dies Volk den Mut nahm, das Gängelband der reinen Naturnachbildung zu verlassen, und woher es die Weisheit nahm, nachdem es dieser doch so[179] sichern Führerin keineswegs mehr so geradezu nachging, mit so magnetisch richtigem Gefühl die Idee selbst zu erfassen und an ihrer Hand Formen zu bilden, die, eben, weil sie die der Idee gemäßen waren, den Namen der idealen wirklich verdienten! Für immer wird das Erschaffen des sogenannten griechischen Profils, welches wir allerdings als den Prototyp dieser ganzen Richtung gelten lassen müssen, das schlagendste Beispiel solcher innern künstlerischen Macht der Nation darbieten. Wie denn kam sie darauf, den Gesichtswinkel, der im wohlgebildeten Menschen selten 80 Grad übersteigt, kühn auf 90 Grad, ja darüber zu steigern und so eine Schönheit zu gestalten, die wir ganz vergeblich in der Natur suchen, wenn nicht unbewußt in ihr eine Ahnung damals noch nirgends ausgesprochener Gesetze gelebt hätte, denen zufolge die Nase als absteigende Antlitzwirbelsäule das parallele Verhalten mit der aufsteigenden Rückenwirbelsäule als ideelle Notwendigkeit unabwendbar fordert! Was aber in diesem Beispiele mit besonderer Deutlichkeit und Unverkennbarkeit hervortritt, geht es nicht durch die ganze Behandlung des Marmors in Darstellung des nach geheimnisvollen Gesetzen gegliederten Baues des Menschen? Ist die Art, wie Brust und Leib, Rücken und Hüften, Gesichtszüge und Gliedmaßen, ja sogar die Gewänder von den Griechen behandelt sind, nicht voll ebensolcher Abstraktion, wenn auch hier dem ungeübten Auge weniger bemerkbar?

Auch ich konnte damals noch keineswegs dieses reiche Feld seiner ganzen Tiefe nach ermessen, allein mit großer Freude ahnte ich doch schon seine Bedeutung, und nachfolgende Dezennien haben dann mir immer mehr und mehr davon verraten! Namentlich förderte es mich späterhin in hohem Grade, als ich imstande war, den Begriff der ägyptischen Kunst, aus wirklich großen Werken derselben,[180] in mir aufzuerbauen und mit dem der griechischen zu vergleichen, denn es war und ist noch jetzt immer ein großer Mangel der Dresdener Sammlungen, daß sie für diesen höchst merkwürdigen Kunststil so sehr wenig enthalten. Wäre doch vielleicht den Griechen selbst die oben besprochene Abstraktion nie möglich geworden, hätten sie nicht das alte Wunderland Ägypten unmittelbar vor sich gehabt und aus seiner strengen Schule den Mut entnommen, in ähnlicher Weise frei der Natur gegenüber sich zu verhalten!

Ganz neuen Forschungen ist es ja erst gelungen, nachzuweisen, daß am Nil einst, und wahrscheinlich zuerst, der Gedanken eines Kanon, einer abstrakten Regel der Plastik entstand, von welchem der nie vollständig zu unserer Kenntnis gekommene Polykletskanon der Griechen nur der Abklang und die vielleicht etwas feinere Durchführung gewesen ist. Man betrachte das kolossale Haupt König Ramses', man erwäge die geradlinige große Bildung eines Sphinxhauptes oder einer Osirisstirn, und man wird fühlen, daß hier eigentlich schon der volle Keim des griechischen Profils vorliegt. Diese Gedanken sollten mir je doch bald noch merkwürdiger werden, indem sie in mancher Beziehung mit einer Aufgabe zusammentrafen, welche mich von der Zeit an, wo ich meine »Vergleichende Anatomie« abgeschlossen hatte, sogleich in Anspruch nahm und zehn Jahre hindurch das wesentliche Ziel blieb, dem ich meine besten Kräfte widmete. Das Typische in den Naturgestalten nämlich, das heißt der äußere entschiedene und strenge Ausdruck einer tiefen innern Gesetzmäßigkeit, ein Ausdruck, der, indem er das Individuelle aufhebt, das Allgemeine um so schärfer hervortreten läßt, ihm möglichst vollständig auf die Spur zu kommen, war überhaupt schon lange mein eifriges Bestreben gewesen. Seit ich nun bei jener Arbeit genötigt worden[181] war, unter andern organischen Bildungen auch das Skelett durch alle seine Hauptformen zu verfolgen, erfaßte es mich um so heftiger, hier nicht zu ruhen, bis ich in diesem Gebilde, welches recht eigentlich der Träger und maßgebende Grundbau jeder höher belebten Gestalt ist, auf das allerentschiedenste und in ganz mathematischer Weise den wahren Urtypus aufgefunden und in den Gesetzen seiner Entwicklung nachgewiesen haben würde. Wo ich daher irgendwie jener Abstraktion der Form begegnete, welche allemal das Einzelne zum Allgemeinen zu vergeistigen strebte, da fand sich meine Aufmerksamkeit besonders angeregt, und von hier aus wird man dann begreifen, wie sehr es mich anziehen mußte, als ich bei aufmerksamer Vergleichung der besten mir nun zugänglich gewordenen griechischen Bildwerke nach und nach auch anfing gewahr zu werden, wie das in all ihrer schönen Mannigfaltigkeit verborgene Gesetz recht eigentlich nur aus der abstrakten Einheit mystischer früherer Kunstperioden der Menschheit hervorgegangen sei. Darf man doch sagen, daß es immer das wahre Ziel und der Gipfelpunkt jeder Wissenschaft und so auch der Wissenschaft der Kunst sei, wenn sie das ganz Allgemeine ihres Feldes als eine göttliche Notwendigkeit erkennt, dann aber auch alles Besondere in diesem Felde als durch jenes Allgemeine begründet und als Verwirklichung desselben nach allen gegebenen Möglichkeiten hin zu erkennen vermag! Halten wir daher diese Gedanken recht fest, so werden wir gewiß nicht verkennen, daß es auch ein ganz ihnen gemäßer Gang in der Entwicklung der Kunst genannt werden müsse, wenn sie stets zuerst im ganz Typischen, Abstrakten, ich möchte sagen im Allgemeinen der Menschheit, sich bewegt und ausspricht, und wenn allemal erst späterhin die Besonderheit, die unendlich verschiedene Möglichkeit der Individualitäten zur Darstellung kommt.

1

Goethe: Faust II, 2. Akt, Laboratorium (Anm. des Herausgebers.)

2

»Hier ist ein Mensch, der die Tragödie der Landschaft entdeckt hat.« (Anmerkung des Herausgebers.)

3

Das Bild wird gegenwärtig dem Govaert Flinck, auch einem Schüler Rembrandts, zugeschrieben.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 160-182.
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