Berliner Zeit

[143] Mitte September ging meine Frau nach Würzburg zurück, zur Anordnung des Umzugs nach der Berliner Wohnung, die wir im Hause eines Dr. von Dechend, Mitarbeiter von Tiemann bei den Berichten, in der Königin Augustastraße nahe beim Tiergarten für ein Jahr gemietet hatten. Ende September verließ auch ich Berchtesgaden und traf in Berlin meine Frau ganz erschöpft und in Tränen, hervorgerufen durch die Widerwärtigkeiten im Verkehr mit den Berliner Umzugsleuten. Als Süddeutsche war sie mit diesen rohen Menschen nicht fertig geworden, und erst der Hilfe von Dr. Piloty, der durch seine gewaltige Körpergröße und seine Energie auch den Berliner Packern imponierte, hatte sie es verdankt, daß sie mit ihren Wünschen und Anordnungen durchdrang. Dazu kam die gedrückte Stimmung, die damals auf der Reichshauptstadt lastete wegen der großen Choleraepidemie in Hamburg, die eine strenge Beaufsichtigung des Personenverkehrs nötig machte. Die geschickte Bewältigung dieser sanitären Aufgabe, welche Berlin trotz einigen 100 Fällen eingeschleppter Cholera vor der Epidemie bewahrte, hat mir hinterher sehr imponiert. Aber für alle Leute, die damals namentlich aus den einfachen süddeutschen Verhält nissen heraus Berlin zuwanderten, war es eine unbehagliche Zeit. Meine Frau wurde zum zweiten Male davon betroffen, als sie gleich hinterher die Kinder von den Großeltern am Starnberger See abholte; denn die Kinderfrau, die sie mitbrachte, konnte das Eisenbahnfahren nicht vertragen, erkrankte unterwegs und wurde von Leipzig an dauernder Aufsicht unterstellt.

Die Eingewöhnung des Haushaltes und der Familie in die Berliner Verhältnisse ging Dank der Hilfe unserer Freunde rascher und besser von statten, als wir gedacht. Auch die kleinen Umbauten im Laboratorium, die besonders auf eine bessere Ventilation gerichtet waren, wurden rechtzeitig fertig. Und in der letzten Woche des Oktobers konnte das Institut für den regelmäßigen Betrieb wieder eröffnet werden.

Tiemann, der bis dahin die Leitung des Praktikums in Händen gehabt hatte, zog sich davon ganz zurück, blieb aber im Institut als[144] Privatgelehrter zur Fortsetzung seiner erfolgreichen wissenschaftlichen Studien und hielt auch noch eine kleine Spezialvorlesung.

Mit S. Gabriel und den übrigen von Hofmann ererbten Assistenten Dr. Pulvermacher und Dr. Richter konnte ich mich leicht über die Verteilung der Arbeiten einigen. Die von mir mitgebrachten beiden Assistenten Piloty und Fogh übernahmen den Unterricht in dem Hauptsaal, der der analytischen Chemie eingeräumt war, Gabriel blieb in der organischen Abteilung und ich selbst übernahm außer den beiden großen Experimentalvorlesungen die Aufsicht über das Ganze. Als Privatassistent bei meinen eigenen Untersuchungen stand mir Dr. Lorenz Ach, der schon in Würzburg dieselbe Stellung bekleidet hatte, zur Seite. Von den Würzburger Studierenden war nur der Engländer Crossley, der später in London Professor an dem pharmazeutischen Institut wurde, mit übergesiedelt.

Die Wintervorlesung über anorganische Chemie habe ich mit einem kurzen Nachruf auf meinen großen Vorgänger begonnen, aber nach einem ganz anderen, schon in Würzburg benutzten Schema gehalten, weil diese Form für eine vorzugsweise aus Medizinern, Apothekern und Oberlehrern zusammengesetzte Zuhörerschaft nach meiner Erfahrung leichter verständlich und auch dem Entwicklungsgang unserer Wissenschaft mehr angepaßt war. Es machte mir aber besondere Freude, dabei die Hilfe von Dr. C. Harries, der schon bei Hofmann Vorlesungsassistent gewesen war, zu haben; denn ich konnte nun viele der von Hofmann ausgebildeten Experimente zusammen mit den schon von mir gebrauchten dem Vortrag angliedern. So ist das reichhaltige Buch von Vorlesungsversuchen entstanden, das mit zweckmäßigen Ergänzungen seitdem in Berlin gebraucht wird und das auch manchem jüngeren Fachgenossen als Muster gedient hat.

Kaum war der Betrieb des Instituts voll im Gange, so brach eine kleine Revolte bei den Dienern aus. Sie erklärten plötzlich, die Arbeit nicht leisten zu können und zu wollen. Offenbar hatten sie die etwas zu freundliche Umgangsform, die ich von Süddeutschland her gewöhnt war, mißverstanden und hielten nun eine Machtprobe mir gegenüber für angebracht. Zudem waren sie durch das vorangegangene Regiment in bezug auf Arbeitsleistung etwas verwöhnt. Ich mußte nun den Ton wechseln, habe einen Diener, der kündbar war, sofort entlassen, einen anderen, der leider schon festangestellt war, durch den Minister pensionieren lassen, und mir im Handumdrehen andere Aushilfen verschafft. Das war für Berlin die richtige Methode, und ich habe später mit den Dienern, für die ich übrigens auch nach bestem Können sorgte, niemals mehr ernste Zerwürfnisse gehabt. Im Gegenteil, ich muß sagen, daß sie bei richtiger Behandlung brauchbarer und leistungsfähiger als in Süddeutschland waren.[145]

Das nach den Anordnungen von A.W. Hofmann erbaute chemische Laboratorium in der Georgenstraße, das den Beinamen »I. Chemisches Institut der Universität« führte, zum Unterschied von dem durch Rammelsberg geplanten und später von Landolt benutzten »II. Chemischen Institut« in der Bunsenstraße, galt in bezug auf Architektur und Fassade als Sehenswürdigkeit, war aber für chemische Zwecke recht unpraktisch gebaut. Überall fehlte es an Luft und Licht und ein großer Teil des bebauten Raumes bestand aus dunklen und unbenutzbaren Korridoren. Nur die beiden Hauptarbeitssäle im ersten Stock nach der Georgenstraße und das geräumige Privatlaboratorium konnten als normale Arbeitsräume angesehen werden. Dagegen war der große Vorlesungssaal so dunkel, daß selbst mittags von 11 bis 12 meist künstliche Beleuchtung angewandt werden mußte. Ganz ungenügend war auch die Ventilation, und meine erste Sorge war deshalb, gerade so wie im Würzburger Institut, die Anlage einer ganzen Reihe von Kapellen, in der einfachen Form, wie sie früher geschildert wurde. Um ihnen genügenden Zug zu sichern, wurde eine besondere Luftzufuhr durch ein in die Wand geschlagenes Loch und einen im Innern der Säle über Manneshöhe nach aufwärts geführten Holzkanal angelegt.

Selbst die Heizung befand sich in einem traurigen Zustand; denn die dafür vorhandenen Torföfen funktionierten so schlecht, daß ein Teil der Studenten sich Privatgasöfen angeschafft hatte, die natürlich dem Institut durch den Gasverbrauch teuer zu stehen kamen. Sie mußten durch neue Kohlenöfen ersetzt werden.

Der laufende Etat, der vorher etwa 15000 M. betrug, war infolge meiner Forderung auf 20000 M. vom Minister erhöht worden. Auch zwei neue Assistenten wurden bewilligt, aber wie ich später zu meinem Bedauern erfuhr, dem chemischen Institut zu Göttingen abgeknappst.

Für die Ergänzung des Inventars hatte ich ebenfalls eine bescheidene Summe – wenn ich nicht irre, waren es 15000 M. – bei der Berufung ausbedungen. Als ich diese aber in Anspruch nehmen wollte, gab es einen heftigen Zusammenstoß mit Geheimrat Althoff im Kultusministerium. Die Summe schien ihm nachträglich zu hoch, und er verstieg sich sogar zu der Forderung, daß ich diese Anschaffungen aus eigener Tasche machen sollte. Es kam dann zu einer Aussprache, die Herrn Althoff darüber belehrte, daß ich nicht im geringsten gesonnen sei, mich schlecht behandeln zu lassen und auf irgend eine Bedingung der Berufung zu verzichten. Wir haben später noch manche Meinungsdifferenz miteinander gehabt, aber unsere Unterhaltung spielte sich von da ab immer in gemäßigter Form ab. Allmählich gewöhnte er sich auch daran, bei mir in chemischen Dingen Rat zu holen. Er hatte leider die unbequeme Gewohnheit, die Besucher in einem recht unbehaglichen[146] Vorzimmer stundenlang warten zu lassen. Als mir das zum zweiten Mal passierte, bin ich weggegangen und auf seine spätere Anfrage, warum ich das getan, erklärte ich ihm ganz offen, er könne mich wohl warten lassen, wenn ich von ihm etwas erreichen wolle; wenn er aber meine Hilfe beanspruche, so müsse er mich gleich empfangen, denn meine Zeit sei ebenso kostbar und ebenso knapp wie die seine. Das hat er eingesehen, und je länger ich mit ihm in Verkehr stand, umsomehr habe ich ihn schätzen gelernt. Er war ein sehr kluger, ideenreicher Mann, der für jeden noch so verfahrenen Karren ein Mittel der Fortbewegung zu finden wußte. Dazu kam eine außerordentliche Arbeitskraft und Ausdauer in der Verfolgung seiner Pläne. Zudem ließ er sich bei allen wichtigen Entscheidungen nur von sachlichen Rücksichten bestimmen. Mit den äußeren Formen nahm er es nicht genau, und er hat manche Angehörige der preußischen Hochschulen durch sein suburbanes Wesen stark vor den Kopf gestoßen. Trotzdem bin ich der Ansicht, daß seine Tätigkeit für die Blüte der preußischen Hochschulen, insbesondere auch für ihre Ausstattung mit Instituten, Bibliotheken, Seminaren von größter Bedeutung gewesen ist.

Trotz der äußeren rauhen Form war er im Grunde genommen ein gütiger Mann, der überall half, wo er nur konnte. Das bewies seine Fürsorge für Witwen und Waisen, für altersschwache Professoren und Diener und die wenig bekannte Tatsache, daß er einen großen Teil seines Vermögens für solche Zwecke verschenkt hat.

Als meine Frau im jugendlichen Alter starb, hatte er solches Mitleid mit den drei kleinen hinterlassenen Kindern, daß er wohl ein Jahrzehnt hindurch diese alljährlich besuchte und ihnen auch vom Kultusministerium öfter durch Übersendung von hübschen Büchern eine Überraschung bereitete. Die Jungens waren darüber immer hocherfreut, weil sie glaubten, daß der Kultusminister in eigener Person ihnen auf diese Weise seine Anerkennung für gute Leistungen in der Schule aussprechen wollte. In Übereinstimmung mit vielen Kollegen habe ich Althoff damals für die bedeutendste Persönlichkeit im preußischen Kultusministerium gehalten.

Auch mit seiner Frau, einer geb. Ingenohl aus Neuwied, deren Mutter, eine geb. von der Leyen, aus der Gegend von Flamersheim stammte und eine Jugendfreundin meines Vaters war, bin ich genau bekannt geworden, besonders während eines Aufenthaltes in Meran, von dem später noch die Rede sein wird. Sie ist eine liebe, kluge Frau und lebt trotz eines schweren Herzleidens noch jetzt hochbetagt in Steglitz. Das Andenken ihres Mannes hat sie durch eine sehr geschickte Lebensbeschreibung mit vielen interessanten Originalbriefen des Verstorbenen geehrt.[147]

Die Professur der Chemie war schon von meinem Vorgänger her mit vielen Nebenämtern verbunden, die auch mir übertragen wurden. Dahin gehörte zunächst ein Lehrstuhl an der sogen. Pepinière, der jetzigen Kaiser Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen. Sie wird mit einem kleinen Gehalt honoriert und die Studierenden der Akademie besuchen, wie die übrigen Mediziner die regelmäßigen Vorlesungen über Experimentalchemie. Außerdem besteht an der Akademie ein Wissenschaftlicher Senat, in den ich ebenfalls gewählt wurde, und dem ich jetzt noch angehöre. Hier werden unter dem Vorsitz von Exzellenz von Schjerning militärärztliche Fragen verschiedenster Art in akademischer Form besprochen und daran schließt sich ein heiteres, auch von mir stets gerne besuchtes Abendmahl in den prächtigen Kasinoräumen der Akademie.

Das zweite medizinische Nebenamt erhielt ich in der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen, die damals dem Kultusministerium angegliedert war. Die Aufgabe der Deputation war recht mannigfaltig. Sie besorgte die Prüfung der preußischen Kreisärzte und galt für die preußische Zivil- und Gerichtsverwaltung als höchste sachverständige Instanz in allen medizinischen Fragen. Als Mitglieder gehörten ihr an die meisten Kliniker, dann der Hygieniker und der Chemiker der Universität. Für alle medizinischen Fragen war also ein Fachmann vorhanden. Was außerhalb der engeren Medizin lag, fiel dem Chemiker zu, und so habe ich Gutachten der verschiedensten Art erstatten müssen, manchmal über Dinge, die mir recht fern lagen, und für die ich mir erst die richtigen Sachverständigen suchen mußte. Im Gedächtnis geblieben ist mir ein Gutachten über die Königin Louisen-Quelle, den sogen. Gesundbrunnen, der in früherer Zeit weit außerhalb der Stadt lag, und wohin damals die Berliner Bevölkerung bei schönem Wetter in Scharen pilgerte, um das berühmte Wasser zu trinken.

Das Wasser dieser Quelle war um die Mitte der 90er Jahre von einem Apotheker als Tafelwasser unter der Bezeichnung »Natürliches Mineralwasser« auf den Markt gebracht worden. Da er aber dem Wasser Kohlensäure zugeführt hatte, so erfolgte die Anzeige bei der Behörde wegen Betrugs. Der Mann wurde vom Gericht zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt, aber was viel schlimmer war, der Polizeipräsident erließ eine öffentliche Warnung vor dem Tafelwasser, das nichts weiter als gewöhnliches Brunnenwasser sei. Dadurch wurde das Geschäft in kürzester Zeit ruiniert. In seiner Not wandte sich der Besitzer an das Ministerium des Innern. So kam die Sache an die wissenschaftliche Deputation, und ich wurde zum Berichterstatter bestellt. Die Darlegungen des Klägers waren so ungeschickt, daß ich anfänglich glaubte, er sei im Unrecht. Ich entschloß mich aber zu einer lokalen Besichtigung[148] der Quelle und sicherte mir dafür die Hilfe eines Beamten von der geologischen Landesanstalt. Nach langem Suchen fanden wir die ehemals so berühmte Quelle, die einem ganzen Stadtteil Berlins den Namen gegeben hat, die aber sehr wenig Leute noch kannten, in dem Kellergeschoß eines großen Mietshauses. Wir erkannten alsbald, daß es sich hier um eine wirkliche, aus ziemlich großer Tiefe kommende starke Quelle handelte, deren Wasser sehr wohlschmeckend und sicherlich hygienisch ganz unbedenklich war. Auch die Sättigung mit Kohlensäure wurde in sachverständiger und sauberer Weise ausgeführt. Dementsprechend fiel mein Gutachten über die Quelle günstig aus. Der Polizeipräsident mußte sein abfälliges Urteil widerrufen und das Tafelwassergeschäft war gerettet.

Aus diesem Beispiel habe ich ersehen, wie zweckmäßig es ist, sich bei solchen Gutachten nicht auf die Akten zu verlassen, sondern die tatsächlichen Verhältnisse, womöglich durch Augenschein gründlich kennen zu lernen.

In der Regel aber waren meine Gutachten für die Deputation recht langweilig und auf Kleinigkeiten, z.B. Zänkereien zwischen Apothekern und Drogisten beschränkt. Ich zog es deshalb vor, nach Ablauf meiner 5-jährigen Amtszeit aus der Deputation auszutreten. Mein Nachfolger wurde Landolt. Später, als Althoff der Vorsitzende der Deputation geworden war, hat er mich nochmals halb zwangsweise als Mitglied in diese berufen, aber nach einigen Jahren bin ich wieder ausgetreten und die Stelle ist dann dem Pharmakologen aus der medizinischen Fakultät übertragen worden.

Die Einführung in die philosophische Fakultät, die anfangs November 1892 stattfand, vollzog sich in einfachster Form, hatte aber gleich einen Haufen von Geschäften zur Folge; denn die Chemiker werden durch die zahlreichen Promotionsprüfungen besonders stark in Anspruch genommen. Bei der mündlichen Prüfung der Chemiker waren Landolt und ich immer gleichmäßig beteiligt, aber in der schriftlichen Beurteilung der Dissertationen fiel mir meistens das Hauptreferat zu, weil die große Mehrzahl Themata aus der organischen Chemie behandelten.

Von der Schwerfälligkeit der Geschäftsführung war ich in hohem Grade überrascht. Da die Fakultät ungeteilt ist und damals etwa 50, jetzt aber weit mehr als 60 ordentliche Mitglieder hat, so kann man sich denken, welche ausführlichen Debatten entstehen, wenn sogen. prinzipielle Fragen behandelt werden. Dazu kommt noch die Gewohnheit, nicht allein alle kleinen Geschäfte, sondern sogar die Abstimmung über das Resultat jeder einzelnen Doktorprüfung durch die gesamte Korporation vorzunehmen.[149]

Das hängt zusammen mit der Einrichtung der sogen. Sedecim, d.h. mit dem Rechte der 16 ältesten anwesenden Mitglieder, die Promotionsgelder unter sich zu teilen. Für den Eintritt in diesen Kreis der Auserwählten ist aber nicht das Lebensalter, sondern die Zahl der Jahre maßgebend, die der Betreffende als Ordinarius an irgend einer deutschen Universität zugebracht hat. Daß dieser patriarchalische Verteilungsmodus der Billigkeit entspricht, kann niemand behaupten. Ich habe die ganze Einrichtung immer für ein Haupthindernis bei allen Reformvorschlägen in dem Geschäftsgang der Fakultät angesehen. Das Festkleben an Satzungen und Traditionen tritt überhaupt in dieser Körperschaft so stark hervor, daß es häufig an den Zopf erinnert und zuweilen geradezu lächerlich wirkt. Z.B. galten noch bei meinem Eintritt in die Fakultät die deutschen Bundesstaaten als Ausland und dementsprechend konnte ein Angehöriger dieser Staaten ohne Abiturium in Berlin promovieren. Erst ein Jahr später wurde nach einem Antrage des Physikers Kundt dieser Unsinn abgeschafft.

Die Größe der Körperschaft bringt natürlich eine Unmenge von Geschäften mit sich, deren Erledigung viel kostbare Zeit in Anspruch nimmt. Der philosophische Dekan ist deshalb ein viel geplagter Mann, und die Fakultät hält während des Semesters in der Regel jede Woche eine Sitzung ab, die für die Prüfungen 2 Stunden und für die geschäftlichen Dinge ungefähr die gleiche Zeit dauert. Wer vorher an der Sitzung der Akademie der Wissenschaften teilnimmt, und bei den Prüfungen beschäftigt ist, hat das Vergnügen, jeden Donnerstag von 4 bis 10 Uhr sitzen zu müssen. Dazu kamen für mich noch die zahlreichen Prüfungen von Medizinern, Apothekern und Lehramtskandidaten. Ich habe die ersten 12 Jahre meines Berliner Aufenthaltes über nichts so sehr geseufzt, wie über den Verlust an Zeit und Arbeitskraft, der auf diese Weise entstand. Später ist es mir gelungen, von der Mehrzahl dieser lästigen Geschäfte entbunden zu sein.

Wegen der Größe der Fakultät müssen alle wichtigen Angelegenheiten und namentlich die Berufungsgeschäfte besonderen Kommissionen überwiesen werden. Ich habe im Laufe der Zeit vielen angehört und mich immer gefreut über die rein sachliche, von jedem Klickenwesen weit entfernte Art der Verhandlung. Dagegen konnte ich mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, daß die Berufungsgeschäfte nicht mit der sorgfältigen Liebe behandelt werden, wie das an kleinen und mittleren Universitäten geschieht, wo jeder Einzelne an der Person des neuen Kollegen ein direktes Interesse hat. So erklärt sich auch die, nach meiner Auffassung falsche Gewohnheit, nach Berlin Männer zu berufen hauptsächlich nach dem wissenschaftlichen Ansehen, aber in einem Alter, wo man von ihnen keine großen Dienste weder für die Wissenschaft,[150] noch für den Unterricht zu erwarten hat. Das gilt besonders für die Naturforscher, die früher verbraucht sind, als die Vertreter der Geisteswissenschaften, und ich habe mich immer wieder verpflichtet gefühlt, Bedenken gegen die Berufung alter Personen zu erheben.

Im allgemeinen spielen die Naturforscher in der Berliner Fakultät nicht die Rolle, die sie beanspruchen könnten. Die Vertreter der Geisteswissenschaften sind zahlreicher und sicherlich zum Reden mehr geneigt, vielleicht auch in der Form gewandter. Da sie ferner mehr Zeit haben und die Sitzungen regelmäßiger und andauernder besuchen, so führen sie hier das große Wort, und ich habe wiederholt gegen die Verletzung der Interessen der Naturwissenschaften Einspruch erheben müssen. Das hat zuweilen zu ziemlich erregten Debatten geführt und mir wahrscheinlich bei der Gegenpartei einige Antipathie eingetragen.

Quelle:
Fischer, Emil: Aus meinem Leben. Berlin 1922, S. 143-151.
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