Gymnasialzeit

[36] Begleitet von meinem Vater fuhren Vetter Ernst und ich anfangs Oktober 1865 nach Wetzlar, wo mein Vater uns bei dem Direktor des Gymnasiums anmeldete. Ernst wurde auf Grund seines Abgangszeugnisses von Duisburg ohne Anstand in die Prima aufgenommen. Ich mußte aber eine Prüfung durchmachen, weil die Schule zu Euskirchen nicht als gleichberechtigt angesehen wurde. Ich habe sie ohne Mühe bestanden und wurde in die Untersekunda, die mit der Obersekunda in einer Klasse vereinigt war, aufgenommen. Noch heute klingt mir das Gelächter in den Ohren, das die Mitschüler erhoben, als ich zum ersten Mal in meiner markanten niederrheinischen Mundart in der Klasse sprechen mußte. Natürlich erschien mir der Wetzlarer Dialekt, der stark an das Frankfurter Deutsch anklingt, ebenso ungewöhnlich und komisch. Ich habe mich aber bald in dem Kreise zurechtgefunden und wurde nach 1/2 Jahr sogar Primus der Untersekunda.

Die originellste Persönlichkeit unter den Lehrern war der Mathematiker Elstermann. Die stark mit Kreide beschriebene Tafel pflegte er im Eifer mit seinem langen schwarzen Rock zu reinigen, und die dabei beschmutzten Finger steckte er in das lange buschige Haar. Er war ein guter Mensch und ausgezeichneter Lehrer, der die schwierige Aufgabe, mathematisches Denken in so viel jugendliche Köpfe hineinzubringen, geradezu mit Leidenschaft betrieb.

Wenn er beim Abfragen der einzelnen Schüler auf Mangel an Verständnis oder Interesse stieß, so pflegte er zur eigenen Beruhigung einem gerade in Reichweite befindlichen anderen Schüler eine kleine Ohrfeige zu versetzen. Wenn diese mit steigender Erregung heftiger wurden und der Empfänger unwillig den Lehrer anblickte, dann pflegte er zu sagen: »Gib sie später dem, der sie verdient hat, wieder«. Er hat es aber mit seiner Methode erreicht, daß der mathematische Unterricht an dem Wetzlarer Gymnasium ungewöhnlich gute Resultate brachte.

Das gerade Gegenteil von diesem Mann war der Religionslehrer, den wir fürchteten und haßten, weil er boshaft war und in vielen Dingen den Spion machte. Auch unser Ordinarius, ein klassischer Philologe,[37] genoß wenig Sympathie. Ich habe nur seinen Spitznamen »Specht« behalten. Er war mir anfangs gewogen, entzog mir aber schon im zweiten Semester seine Gunst, weil er mit dem Vetter Ernst in der Prima Differenzen gehabt hatte. Der Zorn meines Vetters auf diesen Lehrer war so groß, daß er sich zu einem dummen Streich hinreißen ließ, der ihm schweren Schaden hätte bringen können. In Verbindung mit einem anderen Primaner warf er nämlich in tiefer Nacht mehrere Fenster in der Wohnung des Lehrers ein. Ich erfuhr von dieser Tat erst, als sie begangen war, und ich bin glücklicherweise der einzige Mitwisser geblieben. Der Streich erregte großen Lärm in der Schule und der Lehrer Specht machte in den Klassen verlockende Versprechungen für einen Verräter, aber das Geheimnis blieb gewahrt.

Wir lebten in Wetzlar, abgesehen von der Schulaufsicht, ähnlich wie Studenten, denn der Hauswirt kümmerte sich um unser Tun und Treiben gar nicht. Der Hausschlüssel lag jede Nacht in einer Rinne im Steinsockel unter der Haustüre, und wenn wir für Schulversäumnis Zeugnisse über Unwohlsein und dergl. nötig hatten, so unterschrieb er alle Schriftstücke, die wir ihm vorlegten. Wir nannten ihn das Kaffeehäubchen, wegen eines runden Käppchens, das er gewöhnlich trug. Sein Bruder trug den Spitznamen »Der Eisbär«.

Vetter Ernst und ich hatten zusammen ein Wohn- und Schlafzimmer. Außerdem waren noch zwei andere Gymnasiasten und ein Einjährig-Freiwilliger in dem Hause einquartiert. Der Pensionspreis war recht billig. Er betrug für Wohnung, Heizung und völlige Verpflegung mit Ausnahme alkoholischer Getränke im Jahre nur 110 Thaler, also pro Tag und Person etwa 1 Mk. Man kann sich denken, daß es dafür keine lukullischen Mahlzeiten gab. Im Gegenteil, die Kohlrübe und Backpflaumen mit Schweinefleisch spielten dabei eine erhebliche Rolle. Ich sehe noch immer den Eisbär in dem Bache, der an unserem Wohnhause vorüber floß, in einer Bütte die Rüben waschen, die für unsere Ernährung bestimmt waren. Ich habe mir damals nicht träumen lassen, daß die Kohlrübe 50 Jahre später ein so viel gebrauchtes und ebenso viel verwünschtes Nahrungsmittel für das deutsche Volk werden würde.

Die Kontrolle unserer Lebensweise von seiten der Schule war nicht allzu streng. Man besuchte sich gegenseitig auf den sogen. »Buden« und unser Haus bildete von je her einen beliebten Versammlungsort. Leider war die Mehrzahl der Mitschüler, mit denen ich verkehren mußte, erheblich älter als ich; denn es befanden sich darunter viele Bauernsöhne, die erst im reiferen Alter zum Studieren bestimmt worden waren. Einer davon, der noch in unserer Klasse saß, zählte schon 21 Jahre. Die Gewohnheiten dieser jungen Männer waren natürlich anders, als[38] sie für einen Knaben von 13 Jahren paßten. Ihre Gesellschaft war deshalb nicht gerade vorteilhaft für mich. Man bemühte sich, mir möglichst bald das Tabakrauchen, Biertrinken und Skatspielen beizubringen und die übliche Unterhaltung war auch in der Regel auf einen rohen und unanständigen Ton abgestimmt. Das alles ist gewiß nicht ohne Einfluß auf meine von Hause aus recht gute Gesundheit gewesen und ich fürchte, daß der Grund zu meiner späteren Magenkrankheit schon damals durch Unmäßigkeit im Rauchen und Trinken gelegt worden ist.

Glücklicherweise bot die Musik ein Gegengewicht gegen die so ungünstigen Einflüsse. Vetter Ernst war musikalisch ungewöhnlich begabt und hatte eine Zeitlang sogar die Absicht, Musiker von Beruf zu werden. Auf dem Klavier war er für unsere Begriffe schon ein halber Virtuose, aber außerdem spielte er Geige, Violoncell und Flöte. Ich selbst war gegen ihn ein Stümper, hatte es aber durch fleißige Übung auf dem Klavier soweit gebracht, daß ich Sonaten von Haydn, Beethoven und Mozart usw. leidlich spielen konnte. Infolgedessen wurde ich vom Vetter Ernst auch beim Zusammenspiel zugelassen, und da sich noch einige Andere musikalische Mitschüler fanden, so haben wir häufig Trio und Quartett auf unserem Zimmer gespielt. Unsere Musik war so gut, daß manche Leute in der Nachbarschaft freudigen Anteil daran nahmen. Den Ansprüchen der Schule konnten Vetter Ernst und ich ohne große Mühe Genüge leisten. Eine für uns ganz erwünschte Unterbrechung erfuhr der Schulbetrieb im Sommer 1866 durch den Krieg Preußens mit Oesterreich und den Süddeutschen Staaten. Der preußische Kreis Wetzlar war da mals ganz umgeben von feindlichen Staaten d.h. von Hessen-Darmstadt und Nassau.

Nachdem die preußischen Truppen ausgerückt waren, blieben wir infolge der Unterbrechung des Eisenbahn- und Postdienstes für mehrere Wochen ganz abgeschnitten, und dann kam noch ein viel wichtigeres Ereignis, die Invasion feindlicher Truppen. Es war, wenn ich nicht irre, eine Badische Division, die aus der Umgegend von Gießen in den Kreis einrückte. Sobald wir davon Kenntnis erhielten, trieb uns die Neugier diesen feindlichen Kriegern entgegen, und ich selbst mit einigen Mitschülern genoß das Vergnügen, von einer Feldwache gefangengenommen zu werden. Wir wurden regelrecht verhört und dann wieder weggeschickt. Zu unserer ungewöhnlichen Freude ging es aber dem unbeliebten Religionslehrer des Gymnasiums viel schlechter. Er hatte sich ebenfalls die fremden Soldaten ansehen wollen, die aber gleich in ihm die Spionnatur, die wir Schüler so fürchteten, erkannten und ihn mehrere Tage festhielten. Einige Tage später rückten die Feinde auch in die Stadt Wetzlar ein und belegten die öffentlichen Gebäude,[39] zu unserer Freude auch das Gymnasium. Wir hatten also etwa 8 Tage unerwartete Schulferien und dadurch Muße genug, uns mit den feindlichen Truppen zu beschäftigen.

Die Kriegführung war damals gemütlicher als heute. Die badischen Soldaten ließen sich zwar gut auf Kosten der Stadt verpflegen, betrugen sich aber sehr anständig, und das Verhältnis zwischen ihnen und den Bürgern der Stadt und namentlich uns Gymnasiasten war recht freundlich. Sie zogen wieder ab, weil inzwischen die preußischen Truppen durch kräftige Schläge bei Kissingen und am Main das Hauptheer der süddeutschen Staaten besiegt hatten. Die nächsten Soldaten, die in die Stadt einzogen, waren leider nur Verwundete, meist Preußen und Bayern, denen wir aufrichtige Teilnahme schenkten; dann kam auch alte preußische Landwehr, die in den benachbarten hessischen und nassauischen Dörfern als sogen. Fresskompagnie zur Beruhigung der etwa rebellischen Bevölkerung verteilt wurde. Durch die siegreichen Schlachten in Böhmen ging der Krieg bald zu Ende und der Schulunterricht wurde nun mit verdoppelter Strenge bis zu den Ferien wieder aufgenommen.

Die Herbstferien dieses Jahres wurden mir völlig verdorben durch die Konfirmation, die in Flamersheim stattfand; denn ich mußte in etwa 4 Wochen den ganzen Heidelberger Katechismus und eine Reihe von Kirchenliedern auswendig lernen, da ich vorher an dem Konfirmandenunterricht nicht teilnehmen konnte. Das gelang mir infolge meines guten Gedächtnisses, aber es trug nicht dazu bei, meinen kirchlichen Glauben, der schon vorher durch den Einfluß meiner älteren Mitschüler in Wetzlar, durch das Lesen des Lebens Jesu von David Strauß größtenteils verloren gegangen war, zu kräftigen. Tatsächlich bin ich als Freigeist, aber doch mit einem gewissen Gefühl der Beschämung an den Tisch des Herrn getreten, und ich habe den positiven Glauben, den ich in der frühen Jugend besaß, niemals wieder gewonnen. Dagegen bin ich in späteren Jahren wieder zu der Überzeugung gekommen, daß die Religion ein wichtiger Teil der menschlichen Kultur ist und daß der christliche Glaube dem einzelnen Menschen großen sittlichen Wert und inneres Glück geben kann. Meine eigene Mutter und manche der katholischen Mitschüler oder Studiengenossen lieferten den Beweis dafür, und ich habe später in Berlin bei meinen eigenen Söhnen bedauert, daß der Einfluß der Großstadt und leider auch die Atmosphäre der Berliner Schulen der Pflege religiösen Gefühls so wenig günstig sind.

Ein zweites Jahr in Wetzlar verlief ohne politische Störung und brachte schließlich dem Vetter Ernst das Zeugnis der Reife und mir die Versetzung nach Prima. Ich hatte aber inzwischen Wetzlar satt[40] bekommen und verließ deshalb mit dem Vetter die Schule. Als Erinnerungen an den Wetzlarer Aufenthalt sind mir geblieben die landschaftlichen Schönheiten, die altertümliche Bauart der alten, an einem Bergabhang gelegenen Stadt und die zahlreichen, auch von uns mit Ehrfurcht gepflegten Goethe'schen Überlieferungen. Werthers Leiden war selbstverständlich ein viel gelesenes Buch, ohne daß wir aber von der krankhaften Stimmung des Helden beeinflußt worden wären. Mit den Schulkameraden aus dieser Zeit bin ich niemals wieder in Berührung gekommen und auch die Stadt habe ich nicht wieder gesehen.

In den Herbstferien, die ich gewöhnlich zu Hause verbrachte, wurde als Schule für mich zunächst das Friedrich Wilhelm-Gymnasium zu Cöln in Aussicht genommen. Mein Vater machte auch die nötige Meldung bei dem Direktor, einem Professor Jäger, der als Verfasser einer Weltgeschichte bekannt geworden ist, und der als ausgezeichneter Schulmann aus Württemberg nach Cöln berufen worden war. Die Schule war wegen der guten Leitung überfüllt. Trotzdem hatte mich der Direktor für die Prima vorgemerkt, weil er meinem Onkel, dem Chirurgen, für die Errettung seiner Frau aus schwerer Lebensgefahr sich zu besonderem Danke verpflichtet fühlte. Aber in der brieflichen Antwort, die er meinem Vater schickte, war meine Aufnahme nicht klar ausgesprochen und die Überfüllung der Schule so stark betont, daß wir das Gefühl der Ablehnung unseres Gesuches hatten.

30 Jahre später habe ich den Direktor auf der zweiten Schulkonferenz im Kultusministerium zu Berlin kennen gelernt. Dabei wurde das Mißverständnis über die vermeintliche Ablehnung meiner Anmeldung aufgeklärt, und der alte joviale Herr knüpfte daran die scherzende Bemerkung: »Was hätte aus Ihnen werden können, wenn Sie unter meinen Bakul gekommen wären«. Durch die Verhandlungen in Cöln war viel Zeit verloren gegangen. Das Schuljahr hatte schon begonnen und ich mußte nun schleunigst sehen, anderswo unterzukommen. Die Wahl fiel auf das Gymnasium zu Bonn, wo ich auch richtig an meinem 15. Geburtstage Aufnahme fand. Mein Einzug in die Schule vollzog sich unter scheinbar wenig erfreulichen Auspizien. Es war gerade die Stunde die Mathematik und als der alte Lehrer, Professor Zirkel, der Vater des bekannten Leipziger Professors der Mineralogie, mich erblickte, frug er mich zornig nach Namen und Herkunft und erklärte dann, meine späte Ankunft wäre eine Rücksichtslosigkeit; denn jetzt sei er genötigt, seine Liste wieder zu ändern. Bald darauf klopfte es an der Klassentür und der Schüler, der zum Nachsehen hinausgeschickt wurde, kam lachend zurück. Draußen sei der Vater des neuen Primaners und lade seinen Sohn ein, heute Mittag um 1 Uhr zum Essen im Gasthof Stern zu erscheinen. Das brachte[41] den Zorn des Lehrers von neuem in Wallung und er wurde zum Jubel der ganzen Klasse in seinen Vorwürfen so heftig, daß ich im Begriff war, die Schule wieder zu verlassen und jede Antwort auf seine weiteren Fragen verweigerte. Da merkte er, daß er zu weit gegangen war. Er änderte den Ton, und um mich zu versöhnen, frug er nach Euskirchen und dem Flamersheimer Walde, den er wohl kannte. Nun wurde mir erst klar, daß er im Grunde ein gütiger Mann war, und da er bald mein Interesse für Mathematik entdeckte, so sind wir die besten Freunde geworden. Wenn er sich über die anderen Primaner, von denen manche nicht sehr ehrerbietig gegen ihn waren, geärgert hatte, so pflegte er den Rest der Stunde mit mir allein mit Rechnungen an der Tafel zu verbringen.

Das Gymnasium war im allgemeinen, was den Unterricht anbetraf, der Schule in Wetzlar nicht ebenbürtig. Das lag zum Teil an dem Übergewicht, das der Religionslehrer, ein katholischer Geistlicher besaß. Er übte eine wahre Tyrannei aus, worunter allerdings wir Protestanten nicht litten, wodurch aber der wissenschaftliche Unterricht sicherlich geschädigt wurde. Der zweite Grund waren das Alter und die Krankheit des Direktors. Er besaß von früher her als Philologe und besonders als Horaz-Übersetzer einen recht guten Ruf. Aber zu meiner Zeit war er kaum mehr arbeitsfähig, und ist bald nachher gestorben. Auch seinem Nachfolger, einem kleinen Geist, gelang es nicht, die Schule zu neuer Blüte zu bringen. Von den Lehrern war der tüchtigste ein Herr Deiters, der später in das Provinzialschulkollegium zu Coblenz berufen wurde; aber wir haben ihn wegen seines Sarkasmus und seiner Strenge gefürchtet. Nächst dem Mathematiker Zirkel war der Lehrer des Deutschen Professor Remacly die originellste Persönlichkeit. In lebhafter Erinnerung ist mir auch der Ordinarius geblieben, ein klassischer Philologe, der infolge seiner außerordentlichen Kurzsichtigkeit große Mühe hatte, die Schuldisziplin aufrecht zu erhalten. Als Liebhaberei betrieb er das Sammeln von alten Münzen und man konnte ihm durch Lieferung römischer Münzen, die damals im Rheinland vielfach gefunden wurden, die größte Freude bereiten. Seine Neigung, alle Stücke, die man ihm zur Prüfung vorzeigte, als Eigentum zu behalten, gab eines Tages Anlaß zu einem übermütigen Schabernack. Zwei Spaßvögel aus unserer Klasse hatten Hosenknöpfe, die den Namen eines Bonner Schneiders »Hannes« trugen, durch geschickte mechanische und chemische Behandlung in einen Zustand versetzt, der sie stark verwitterten römischen Münzen ähnlich machte. Diese Kunstprodukte wurden dann dem Herrn Ordinarius als merkwürdige Fundstücke überliefert. Er war aber Kenner genug, um nach einigen Studien die Fälschung festzustellen und gab dann seiner berechtigten[42] Entrüstung einen sehr energischen Ausdruck. Auch für römische Inschriften besaß er großes Interesse, und er brachte uns die Kunst bei, Abdrücke davon in Pappe zu machen. Es hat mir Freude bereitet, diesen Mann, dessen wissenschaftliche Bemühungen mir Achtung einflößten, Abdrücke von einigen römischen Inschriften aus der Gegend von Zülpich, dem angeblichen Tolbiacum der Merovinger Zeit, und Weingarten bei Euskirchen, wo sich die Überreste eines römischen Kastells befanden, zu liefern.

Auf der Bonner Prima habe ich zum erstenmal einen Religionsunterricht genossen, der mich wirklich interessierte, denn der Lehrer, der gleichzeitig protestantischer Pastor in Bonn war, ließ uns das neue Testament in griechisch lesen und wußte die handelnden Personen so lebendig und im Zusammenhang mit den großen historischen Ereignissen jener Zeit zu schildern, daß ich einen Begriff bekam nicht allein von der großen sittlichen Kraft der christlichen Lehre, sondern auch von der gewaltigen geistigen, sozialen und politischen Bewegung, die sie ausgelöst hat. Aus den Schilderungen dieses Mannes waren mir die alten christlichen Gebräuche, die Katakomben zu Rom und ähnliche Dinge längst bekannt, ehe ich sie im Original gesehen habe.

Außerhalb der Schule war ich in Bonn sehr gut aufgehoben; denn ich wohnte bei einer Familie Kemp in der Bonngasse, wenige Schritte vom Gymnasium entfernt, wo es eine vortreffliche Verpflegung gab. Außer mir wohnte dort noch ein Oberprimaner Fischenich, der Sohn eines Landwirten aus der Nähe von Flamersheim, recht musikalisch und ein guter Kamerad. Es hat mich gefreut, daß mein Sohn Hermann mit dem Sohn dieses alten Schulkameraden an der Schlachtfront in Lothringen bekannt wurde und ihn etwa vor einem Jahre als Gast in Berlin mir zuführte. Dann gab es noch zwei viel jüngere Gymnasiasten der unteren Klassen. Wir alle waren bei den Mahlzeiten mit der Familie und den Angestellten des Geschäfts versammelt. Der Wirt betrieb mit seinem Sohn unter der Firma »Paul Kemp & Sohn« ein einträgliches Geschäft in Galanteriewaren, studentischen Artikeln jeder Art, in Pelzwaren und sogar zur Faschingszeit in Maskenanzügen. Das brachte einen großen Verkehr und viele lustige Ereignisse ins Haus, und ich habe dort zwei wirklich heitere Jahre verlebt. Mein Vetter Ernst Fischer studierte zur selben Zeit in Bonn Medizin, und obschon seine Bude in einem anderen Hause lag, so haben wir doch manchmal zusammen musiziert.

Selbstverständlich wurden wir auch in Bonn mit dem studentischen Leben, seinen berechtigten und unberechtigten Eigentümlichkeiten, vertraut und ich habe schon damals mit Eifer Unterricht im Säbelfechten[43] auf dem Universitätsfechtboden genommen. Die Folge davon war, daß ich später als Angehöriger der Universität an diesen Dingen kein Interesse mehr besaß.

Im August 1869 bestand ich in Bonn das Abiturientenexamen, und das Abgangszeugnis beweist, daß ich kein schlechter Schüler gewesen bin. Trotzdem habe ich zu meinem eigenen Bedauern dem Gymnasium kein freundliches Gedenken bewahren können. Ich halte mich für verpflichtet, das hier auszusprechen, weil ich das Gefühl habe, daß das humanistische Gymnasium die Anforderungen nicht erfüllt, die man an es stellt, und nicht, wie meist behauptet wird, seinen Zöglingen die allgemeine geistige Reife gibt, die zum Besuch der Hochschule nötig ist. Ich spreche hier nicht als Naturforscher, der es immer beklagen mußte, auf der Schule einen ungenügenden mathematischen Unterricht genossen zu haben. Mein Urteil bezieht sich auch auf den sprachlichen Unterricht, der in der jetzigen Form mit der unmäßigen Betonung grammatikalischer Kenntnisse sicherlich verkehrt ist. Wieviel kostbare Zeit haben wir auf das unsinnige Auswendiglernen von Regeln verwenden müssen! Die seltensten Ausnahmen von einer Deklination oder Konjugation, die selbst dem Berufsphilologen in der Praxis kaum vorkommen, mußte man wissen, um ein guter Schüler zu sein. Von den Schönheiten der klassischen Literatur, von ihrem engen Zusammenhang mit der bewundernswerten allgemeinen griechischen Kultur war beim Unterricht fast nie die Rede. Ich bin fest überzeugt, hätten unsere Lehrer auf solche Dinge den Hauptnachdruck gelegt, die meisten von uns wären ihnen mit Begeisterung gefolgt, während wir so den Geschmack am klassischen Altertum geradezu verloren haben und froh waren, mit dem Abiturium diese Studien aufgeben zu können.

Zur Feier des Schlußexamens konnte ich die ganze Klasse in den Garten meines Wirten einladen, denn mein Vater hatte zu diesem Zweck ein stattliches Faß Bier aus der Dortmunder Brauerei gestiftet.

Im Alter von 163/4 Jahren stand ich nun vor der Wahl des Berufes. Nach meinem Geschmack wäre ich am liebsten Mathematiker und Physiker geworden, aber mein Vater hielt diese Wissenschaften für zu abstrakt und die Möglichkeit für zu gering, sich mit ihnen eine materiell gesicherte Existenz zu schaffen. Er pflegte deshalb seinen Rat in die Worte zu kleiden: »Wenn du durchaus studieren willst, so wähle die Chemie«, deren praktisch nützliche Seite ihm von seinen geschäftlichen Unternehmungen her bekannt sei. Im geheimen mag er aber wohl immer noch die Hoffnung gehabt haben, daß ich mich zu einer kaufmännischen Tätigkeit entschließen würde, da ich der einzige Sohn war und er mich begreiflicherweise gern als Nachfolger in seinem Geschäft gehabt hätte. Da ich zudem noch recht jung war[44] und der unmittelbare Besuch einer Universität für mich keinen besonderen Reiz mehr bot, so machte er mir den Vorschlag, auf 1 bis 2 Semester in ein kaufmännisches Geschäft einzutreten. Damit war ich einverstanden und kam deshalb im Oktober 1869 in das Holzgeschäft meines Schwagers Max Friedrichs zu Rheydt und gleichzeitig als Pensionär zu meiner Schwester Fanny, seiner Frau.

Nach den strengen Regeln des Geschäfts wurde ich als unterster Lehrling betrachtet und behandelt. Zu meinen Funktionen gehörte das Abholen der Post, das Zukleben der Briefe und dergl. und zur Übung mußte ich ein kleines Geschäftsjournal, aber nur zu meiner Belehrung ohne Gültigkeit für das Ganze führen. Hier und da wurde ich auch mit einem kleinen Auftrage zu den Kunden, die zum großen Teil kleine Tischler waren, geschickt.

Auf dem Holzplatz hatte ich nichts zu sagen, durfte aber den verschiedenen Arbeiten, Sägen, Hobeln, dem Transport der Stämme, dem Verpassen des Bauholzes usw. zuschauen. Dieses Technische, das damals noch sehr unvollkommen war und meistens mit der Hand gemacht wurde, hat mich mehr interessiert, wie die pedantischen Kontorarbeiten. Aber das Ganze war doch für meinen Geschmack so langweilig, daß ich schon nach wenigen Wochen auf Rat eines Lehrers der höheren Schule zu Rheydt mir Stöckhardts Schule der Chemie mit den dazu gehörigen Apparaten anschaffte und in einem leerstehenden Zimmer des Geschäftsgebäudes ein winziges Laboratorium einrichtete. Die Versuche waren natürlich höchst stümperhaft, endigten mit einigem Gestank oder beschmutzten und verbrannten Fingern, und wurden dem Geschäftsinhaber wegen der Feuersgefahr recht unbequem. Die Abende verbrachte ich mit Klavierspielen oder im Gasthaus mit Biertrinken, Tabakrauchen und Billardspielen.

Der Schwager war mit meinen Leistungen sehr unzufrieden, erklärte mich für den schlechtesten Lehrling, den er je gehabt, und ließ sich einmal im ärgerlichen Unwillen anderen Mitgliedern der Familie gegenüber zu der Bemerkung hinreißen: »Aus dem Jungen wird nie etwas«. Er ist später wegen dieses Urteils viel geneckt worden, aber allmählich kam auch mein Vater zu der Überzeugung, daß die kaufmännische Laufbahn für mich nicht das Richtige sei. Er drückte diese Meinung drastisch aus in dem Satze: »Der Junge ist zum Kaufmann zu dumm, er soll studieren«.

Inzwischen hatte ich bei dem erwähnten Lehrer der Chemie einige Privatstunden genommen, und mir dabei eine ganz oberflächliche Kenntnis der Atomtheorie angeeignet. Ich kann aber nicht sagen, daß ich davon besonders ergriffen worden wäre. In der Form, wie sie mir dargestellt und wie ich sie auch aus einem kurzen Lehrbuch[45] der Chemie kennen gelernt hatte, erschien sie mir gegenüber den abgerundeten Lehren der Physik zu dürftig und unsicher.

Im Frühjahr 1870 hatte ich das Unglück, mir, wahrscheinlich durch Erkältung, einen Magenkatarrh zuzuziehen, der infolge von Vernachlässigung und ungenügender ärztlicher Behandlung in einen chronischen Zustand überging. Vorbereitet war vielleicht das Leiden durch das unsinnige Rauchen und Biertrinken, das ich schon in jungen Jahren in Wetzlar begonnen und seitdem dauernd beibehalten hatte. Der akute Ausbruch der Krankheit erleichterte mir den Abschied von Rheydt und ich kehrte nach Euskirchen zurück, um mich auszukurieren. Aber der chronische Magenkatarrh war in der Familie etwas ganz Unbekanntes, und auch die Ärzte verstanden damals von der Behandlung desselben recht wenig. Mit den schönen Methoden der Jetztzeit hätte ich in 4 bis 6 Wochen meine volle Gesundheit wieder erlangen können. So aber habe ich trotz der Ratschläge meines sonst als Arzt so ausgezeichneten Onkels in Cöln fast 2 Jahre mich mit der Krankheit herumgeschlagen, und der Verdauungstraktus ist niemals wieder so kräftig geworden, wie er zuvor gewesen. Den Sommer 1870 verbrachte ich in Euskirchen, beschäftigte mich viel im Garten und soweit es möglich war, auf der Jagd. Auf Anraten der Ärzte ging ich Mitte Juli, am Tage der preußischen Mobilmachung mit meiner Mutter nach Bad Ems, um das dortige alkalische Wasser als Heilmittel für den Magen zu trinken. Es herrschte damals eine begreifliche Unruhe im Rheinland, da man glaubte, daß Frankreich sich für den Krieg längst vorbereitet habe und seine Truppen alsbald in die preußischen Rheinlande schicken würde. Mein Vater hatte sich schon darauf vorbereitet, meine unverheirateten Schwestern, sowie Geld, Wertpapiere und andere leicht transportable Gegenstände auf das rechte Rheinufer zu bringen. Um so merkwürdiger berührte es meine Mutter und mich, daß wir auf der Fahrt nach Ems, wobei wir die Festung Coblenz passierten, gar keine militärischen Vorbereitungen beobachteten. Der einzige Soldat, den wir von der Eisenbahn aus in der Festung sahen, war ein Offiziersbursche, der einen Kinderwagen schob. Aber im Stillen war der preußische Mobilisierungsapparat schon im vollen Gange, und 8 Tage später sah man überhaupt fast nur noch Soldaten. Dann begannen auch die großen Truppentransporte, von denen wir in Ems viel zu sehen bekamen, da es an einer Haupteisenbahnlinie von Ost nach West gelegen ist. Anfangs August fanden die siegreichen Schlachten bei Weißenburg, Woerth, Saarbrücken statt, und in Deutschland hatte man sofort das Gefühl, daß die Gefahr einer feindlichen Invasion beseitigt sei. Zwei Tage vor meiner Ankunft in Ems war König Wilhelm von dort abgefahren und von den Erinnerungen an ihn, sowie an die Verhandlungen[46] mit dem französischen Botschafter war in der Kurgesellschaft noch viel die Rede. Obschon die Zahl der Gäste stark abgenommen hatte, nahm doch das Kurleben seinen ungestörten Fortgang.

Nach 4 Wochen konnten wir ohne das geringste Hindernis nach Hause zurückkehren, da der Eisenbahnverkehr sich wieder in normalem Zustande befand. Für die aktive Teilnahme am Krieg war ich noch zu jung und auch damals nicht gesund genug, da die Kur in Ems ohne Erfolg geblieben war.

Im Nebenhause waren die 3 ältesten Söhne schon dienstpflichtig und deshalb eingezogen. Von ihnen hat aber nur der eine, Vetter Lorenz, kriegerische Lorbeeren gesammelt. Als Einjährigfreiwilliger in einem Jägerbataillon nahm er teil an den Schlachten bei Metz. Bei Belagerung der Festung erkrankte er an Ruhr, kehrte nach Deutschland zurück, ging aber bald – noch nicht ganz wieder hergestellt – freiwillig von neuem ins Feld, wo er an den Kämpfen des Generals Werder gegen die Armee Bourbaki bei Dijon beteiligt war. Er wurde im Felde zum Offizier ernannt. Aber das kriegerische Leben, das ganz seinen Neigungen entsprach, ist ihm später zum Unglück geworden; denn es hat mit dazu beigetragen, seine Neigung, dem Bachus zu huldigen, ins Übermaß zu steigern, so daß er schon im Alter von etwa 35 Jahren gestorben ist.

Vorsichtiger war der Vetter Heinrich, ein gedienter Artillerist; er kam nicht ins Feld, sondern blieb bei einem Ersatzbataillon in Coblenz.

Vetter Ernst, der bereits das erste medizinische Examen bestanden hatte, trat freiwillig als Unterarzt in das Heer ein und hatte in dieser Eigenschaft, wie er später gern erzählte, besonders in der Umgegend von Orléans ein recht vergnügtes und wenig anstrengendes Feldleben geführt. Kurzum, der Krieg 70 ist nach allen Schilderungen seiner Teilnehmer ein ganz anderer, als der jetzige gewesen. Die Verluste auf deutscher Seite waren verschwindend gering, sind doch nicht mehr als 28000 Mann auf unserer Seite gefallen. Auch die Kriegführung war sehr viel humaner. Ein Teil der Truppen hat sogar mit der französischen Bevölkerung auf ganz gutem, fast freundschaftlichem Fuße gestanden. Dazu kam die rasche Beendigung des Krieges und als schönster Lohn für Deutschland seine politische Einigung im deutschen Reiche.

Den Sieg von Sedan verlebte ich in Euskirchen. Ich erfuhr die Nachricht bei der Rückkehr von der Hühnerjagd. Man meinte damals allgemein, der Krieg sei nun zu Ende. Das war aber ein Irrtum, da die Republik unter Gambetta ihn hartnäckig fortzusetzen suchte. Aber die Widerstandskraft Frankreichs war doch gebrochen, nur dauerte das kriegerische Leben auch bei uns auf dem linken Rheinufer mit Truppenbewegung, Einquartierung fort bis zum Waffenstillstand.[47]

Mein Gesundheitszustand hatte sich inzwischen kaum geändert und mein Onkel in Cöln lud mich deshalb ein, im November zu ihm zu kommen und in seinem Hause einige Zeit zu wohnen, damit er mich dauernd beobachten könne. Seine liebe Frau, die durch besondere Güte ausgezeichnete Tante Mathilde, nahm sich des kranken Neffen in der liebenswürdigsten Weise an. Ich bekam besonders zubereitete Speisen und durfte dazu auf Rat des Onkels so viel guten Bordeaux-Wein trinken, wie ich glaubte vertragen zu können.

Wohltuend wirkte auf mich die gleichmäßige Wärme des Hauses, das schon eine Zentralheizung besaß, was man damals als ungewöhnlichen Luxus ansah. So bin ich den ganzen Winter in Cöln geblieben und nur während des Weihnachtsfestes auf 8 Tage nach Hause zurückgekehrt. Ich habe mich in meinem späteren Leben immer mit großer Dankbarkeit gegen den Onkel und die Tante an diese Zeit erinnert; denn damit trat eine Besserung in meinem Zustande ein.

In Cöln war auch in geistiger Beziehung leichter Anregung zu finden, als in Euskirchen. Ich habe hier Theater und Konzerte besucht. Vor allen Dingen wurde mir aber Gelegenheit geboten, bei einem Engländer Unterricht in der englischen Sprache zu nehmen. Da ich nichts anderes zu tun hatte, so war es mir nicht schwer, in 21/2 Monaten so weit zu kommen, daß ich kleine englische Aufsätze schrieb und mich mündlich leidlich ausdrücken konnte. Leider habe ich diese Übungen später nicht fortgesetzt und auch niemals längeren Aufenthalt in England nehmen können, so daß ich die wichtige Sprache nie vollkommen beherrschen lernte.

Selbstverständlich bin ich in Cöln auch den Kindern meines Onkels näher getreten. Die älteste Marie war schon an Herrn Eugen Coupienne in Mülheim a.d. Ruhr verheiratet, kam aber öfter mit Mann und Kind zum Besuch nach Cöln. Herr Coupienne brachte bei dieser Gelegenheit nicht selten gefangene französische Offiziere, die in Cöln sich frei bewegen durften, als Gäste in das Haus meines Onkels. Es machte dann meinem Onkel besonders Freude, die französische Sprache, die er in Paris recht gut gelernt hatte, wieder zu gebrauchen.

Die zweite Kusine Helene, ein schönes wohlgenährtes Mädchen, die den Beinamen »Dick« trug, und mir von verschiedenen Besuchen in Euskirchen her wohl bekannt war, ist bald nachher ihrer Schwester gefolgt und hat einen Tabakfabrikanten, Carl von Eicken, ebenfalls aus Mülheim, geheiratet. Sie lebt noch jetzt zusammen mit ihrem Gemahl in Hamburg, in sehr glücklichen Verhältnissen, und ist die Stammmutter von 4 blühenden Kindern und einer ganzen Anzahl von Enkeln geworden. Ihr Sohn Karl, jezt ordentlicher Professor der Ohren- und Nasenheilkunde in Gießen, war als Student öfters Gast[48] in meinem Hause zu Berlin, und ich hatte gleich den Eindruck, daß er die Eigenschaften eines guten Arztes vom Großvater Fischer geerbt habe.

Die Tochter Helene lebt mit ihrem Mann Dr. Kroehnke und 4 hoffnungsvollen Söhnen in Zehlendorf und ist eine durch Liebreiz und Güte ausgezeichnete Frau geworden.

Eine zweite Tochter des Ehepaares von Eicken ist in Hamburg verheiratet und der zweite Sohn, ein großer Sportsmann, führt zusammen mit dem Vater das bedeutende Tabakgeschäft. Er ist verheiratet mit der einzigen Tochter meines Vetters Julius Fischer.

Die dritte Cölner Kusine, »Tönn« genannt, war klug und wissbegierig und erhielt in der Schule die besten Zeugnisse. Sie hat später einen Fabrikanten Herrn Vorster aus Mülheim a.d. Ruhr geheiratet und ist Schwiegermutter des bekannten Malers Petersen in Düsseldorf geworden.

Der einzige Sohn Fritz, von den Schwestern nur »der Fischer« genannt, wurde von ihnen viel geneckt, war 4 Jahre jünger wie ich und deshalb noch Gymnasiast. Er war der Liebling des Vaters und pflegte sich sehr viel in dessen Studierstube aufzuhalten. Wie leicht begreiflich, ist er in die Fußstapfen des Vaters getreten, hat Medizin studiert und zwar in Straßburg, wo ich wieder viel mit ihm zusammentraf. Er wurde auch an der dortigen Universität außerordentlicher Professor der Chirurgie, starb aber verhältnismäßig früh im Alter von etwa 50 Jahren. Er war verheiratet mit Anni geb. Stinnes aus Mülheim a.d. Ruhr und hat einen Sohn Otto hinterlassen, der wiederum Medizin studiert und z.Zt. als Unterarzt im Felde steht. Er ist in den letzten Jahren meinem lieben Sohn Alfred näher getreten, der von der Tante in Straßburg viele Freundlichkeiten erfahren hat.

Während meines Aufenthaltes in Cöln hatte der Onkel seinen Kindern den strengen Auftrag gegeben, den kranken Vetter in keiner Weise zu ärgern und ihm womöglich nicht zu widersprechen, selbst wenn er in seiner etwas aufgeblasenen Gelehrsamkeit gewagte Behauptungen aufstelle. So schwer das auch den mundfertigen Kusinen wurde, so haben sie sich doch alle Mühe gegeben, mir den Aufenthalt in Cöln angenehm zu machen. Mit dem Vetter stand ich selbstverständlich als früherer Gymnasiast auch auf gutem Fuße. So steht der Winteraufenthalt in Cöln bei mir in bester Erinnerung und dem trefflichen Onkel, der mir nicht allein in seiner ärztlichen Kunst, sondern auch als vornehmer Charakter und als origineller Mensch stets ein Vorbild geblieben ist, sowie der herzensguten Tante habe ich mich Zeit meines Lebens zu warmem Danke verpflichtet gefühlt.[49]

Im Frühjahr 1871 war meine Gesundheit soweit wieder hergestellt, daß ich die Universität beziehen konnte, um Chemie zu studieren. Das Leben im Gasthause war mir allerdings noch nicht zuträglich, aber ich wurde in freundlicher Weise wieder aufgenommen in meinem alten Gymnasiastenquartier. Dort waren inzwischen einige persönliche Veränderungen vorsichgegangen. Das alte Ehepaar Kemp hatte sich zurückgezogen und das Geschäft dem Sohn übergeben. Der hatte inzwischen die zu meiner Zeit als Verkäuferin im Geschäft tätige Fräulein Marie geheiratet und die junge, liebenswürdige Frau erklärte sich sofort bereit, die Verpflegung für mich ganz nach meinen Wünschen einzurichten. Das ist auch in gewissenhafter Weise geschehen. Ich lebte also so weiter, wie ich es in der Familie meines Onkels gewohnt war, und der Hausherr, der sich bei seinem früheren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Nordamerika infolge von Malaria und übermäßigem Chiningenuß den Magen verdorben hatte, lernte von mir die für solche Zustände angemessene Diät. Er wurde in der Tat auf diese Weise auch wieder gesund und hat mir später wiederholt für die guten Ratschläge gedankt.

Im Sommersemester 71 habe ich mich in Bonn nicht überanstrengt, sondern in aller Behaglichkeit Vorlesungen über Physik, Botanik und nur wenig Chemie gehört. Das botanische Kolleg von Professor Hanstein fand schon morgens um 7 Uhr im Schloß zu Poppelsdorf statt, war sehr populär und nur auf die Bedürfnisse eines Mediziners zugeschnitten. Systematik und Anatomie standen im Vordergrund und die Physiologie, die mich viel mehr interessiert hätte, spielte nur eine geringe Rolle.

Die Physik wurde von dem berühmten Thermodynamiker Clausius gelesen, war recht langweilig und in experimenteller Beziehung geradezu dürftig. Meine alte Vorliebe für die Physik ist dadurch etwas gedämpft worden und erst als ich später in Straßburg den glänzenden Vortrag und das gute Praktikum von Kundt besuchte, wurde mir erst wieder klar, welch herrliche Wissenschaft sie ist.

Das gerade Gegenteil von Clausius war der Chemiker August Kékulé, ein ausgezeichneter Redner, guter Experimentator und eindrucksvolle Persönlichkeit. In dem Sommersemester las er allerdings nur ein zweistündiges Kolleg über organische Chemie, aber in dem darauf folgenden Winter habe ich auch seine große Vorlesung über anorganische Experimentalchemie besucht.

Nachdem ich in den Herbstferien 71 zusammen mit dem Vetter Lorenz, der inzwischen aus Frankreich zurückgekehrt und noch ganz von den Erlebnissen des Feldzuges erfüllt war, das Seebad Blankenberghe bei Ostende besucht hatte, war mein Gesundheitszustand wieder[50] so gut, daß ich im Winter 71/72 mit voller Kraft an das Studium herantreten konnte. Zu den Vorlesungen kamen jetzt auch die praktischen Übungen im Laboratorium. Das Institut lag in Poppelsdorf, war 1864/65 von Hofmann erbaut und machte äußerlich einen pompösen Eindruck. Viel weniger schön waren die inneren Einrichtungen, z.B. Raumverteilung und Beleuchtung. Besonders die Ventilation ließ sehr zu wünschen übrig. Der Direktor hielt die großen Vorlesungen und leitete die praktischen Arbeiten in der organischen Abteilung. Der analytische Unterricht war dem außerordentlichen Professor Engelbach anvertraut. Ohne irgendwelche Vorbereitung in der Anstellung von Experimenten wurde man sofort vor die Aufgabe gestellt, nach den Tafeln von Will eine qualitative Analyse auszuführen. Dazu war ich nicht imstande und hatte gegenüber den anderen Praktikanten, die meistens Apotheker waren, einen schweren Stand, denn diese pflegten meist auf illegitimen Wege die Aufgaben zu lösen, während ich ohne jede Anleitung viele Fehler beging und dann unbarmherzig zur Wiederholung angehalten wurde. Dazu kam, daß die Vorlesung über analytische Chemie, die ich pflichteifrig besuchte, äußerst trocken und langweilig gehalten wurde. Mein Eintritt in die Wissenschaft vollzog sich also unter ziemlich ungünstigen Verhältnissen, die mich sehr niederdrückten. Und als ich im darauffolgenden Sommer an die quantitative Analyse herankam, wurde die Sache noch schlimmer. Engelbach war inzwischen gestorben und Th. Zinke, der bisherige erste Assistent in der organischen Abteilung und gleichzeitig Privatdozent, wurde sein Nachfolger. Er war gewiß ein geschickter und auch schon verdienter Chemiker, aber der Unterricht in der analytischen Chemie lag ihm nicht besonders nahe, und wenn er sich auch große Mühe gab, und mir manchmal einen guten Rat erteilte, so war es doch auch für ihn schwer, die Hindernisse zu beseitigen, die der Ausführung einer guten quantitativen Analyse im Bonner Institut entgegen standen. Schon allein die Ungenauigkeit der Wagen war groß genug, um das Innehalten der üblichen Fehlergrenzen bei den Analysen unmöglich zu machen. Der Gebrauch der Wasserluftpumpe, die schon längst von Bunsen erfunden war, fand in Bonn eine ungünstige Beurteilung und man begnügte sich noch immer mit der alten primitiven Wäsche der Niederschläge auf einem gewöhnlichen Filter. Das waren harte Geduldsproben. Als ich schließlich einen Niederschlag von Aluminium- und Eisenhydroxyd, der wohl nicht unter den richtigen Vorsichtsmaßregeln gefällt war, 8 Tage lang gewaschen hatte, ohne die Mutterlauge ganz verdrängen zu können, war ich so verzweifelt, daß ich die Chemie aufgeben und mich wieder der Physik zuwenden wollte. Daß ich es nicht getan habe, ist wohl hauptsächlich dem Einfluß meines [51] Vetters Ernst zuzuschreiben, der mir riet, es in einem anderen Institut nochmals zu versuchen.

Inzwischen war auch Vetter Otto mit der Schule fertig geworden, hatte ebenfalls das Studium der Chemie in Berlin begonnen und war dann auch nach Bonn gekommen. Er nahm die Schwierigkeiten keineswegs so tragisch wie ich, trotzdem gefiel auch ihm der Gedanke, die Hochschule zu wechseln, nicht allein der Studien halber, sondern um in der Welt sich umsehen zu können. So kam es, daß wir am Ende des Sommersemesters 1872 Bonn verließen und dann halb durch Zufall nach Straßburg i.E. kamen. Das war für uns beide ein rechtes Glück, denn wir sind so mit Adolf Baeyer in Berührung gekommen, und ich wüßte nicht, was mir Besseres hätte passieren können, um die chemische Experimentierkunst zu lernen. Den Aufenthalt im Straßburger Laboratorium habe ich versucht in einem kleinen Aufsatz zu schildern, den Baeyer seiner Selbstbiographie eingefügt hat. Auf diese Art ist er in der Einleitung zu Baeyers gesammelten Abhandlungen zum Druck gelangt. Ich habe ihm nur wenig zuzufügen, um noch ein Bild von unserer Lebensweise und dem Freundeskreise außerhalb des Laboratoriums zu geben.

Im ersten Semester wohnte ich mit Vetter Otto zusammen bei zwei sehr alten Frauen in einem ebenso alten Hause, wie denn überhaupt die ganze Stadt damals einen recht alten und verkommenen Eindruck machte. Verschärft wurde dieser durch die starken Verwüstungen, die von der Belagerung herstammten. So lag das sogen. Steinviertel noch größtenteils in Trümmern.

Mein Magenkatarrh war inzwischen geheilt, aber er hatte doch eine Empfindlichkeit des Organs hinterlassen, die mir eine gewisse Vorsicht in der Diät auferlegte. Die gute Straßburger Küche und der noch bessere, in großen Vorräten vorhandene französische Wein kamen mir zugute, und ich habe im Wintersemester im badischen Hof nach Verabredung mit dem sehr verständigen Wirt ein stattliches Faß ausgezeichneten Burgunder konsumiert, war dadurch in einen recht guten Ernährungszustand gekommen, so daß ich von den Professoren unter dem Titel »der dicke Fischer« von dem Vetter unterschieden wurde.

Bei dem nächsten Besuch während der Osterferien erregte mein Aussehen bei der Mutter große Freude, während der erfahrene Vater mich mit den Worten begrüßte: »Du hast einen ziemlich vertrunkenen Kopf gekriegt.« Infolgedessen habe ich das Burgundertrinken aufgegeben und mich dem guten aber viel unschuldigeren Elsasser Landwein zugewandt. Auch die Mehrzahl der Kollegen, die vielfach aus dem Rheinland stammten, besuchten die Weinhäuser. Zwar gab es auch Bier in mannigfaltiger Qualität, sowohl einheimisches, in dem Orte Schiltigheim[52] gebraut, wie auch bayerisches, aber diese Häuser pflegten wir nur im Sommer zu besuchen, der in Straßburg ungewöhnlich heiß ist und deshalb zum Bierverbrauch anregt.

Das studentische Leben, wie es auf anderen deutschen Hochschulen üblich ist, war zu unserer Zeit wenig entwickelt. Es gab zwar einige Corps, aber sie spielten keine große Rolle, weil ihnen der Resonanzboden in der Bevölkerung und der ganzen Tradition der Stadt fehlte. Dagegen war der zwanglose Verkehr der Studenten in den Gasthäusern und auch in den Vorlesungen sehr angenehm. Die vielen fremdländischen Elemente, Russen, Polen und andere Ausländer störten denselben nicht. Die Elsässer hielten sich anfangs zurück, kamen aber doch in den späteren Semestern in die Institute. Es waren darunter manche fein gebildete junge Männer mit sehr angenehmen Umgangsformen. Mit den gebildeten Familien in Straßburg sind wir nicht in Berührung gekommen, wohl aber habe ich das Volk und speziell auf mancherlei Ausflügen in die Vogesen die Landbevölkerung kennen gelernt und einen recht guten Eindruck erhalten. Mit Ausnahme vom Südelsaß, wo die Tuchindustrie sehr entwickelt und in ihren geschäftlichen Interessen auf das übrige Frankreich angewiesen war, verriet sich in der Bevölkerung durchweg die alte deutsche Abstammung. Die Leute sprachen ihr Elsasser Deutsch, vermischt mit französischen Brocken, waren aber zum erheblichen Teil garnicht imstande, französisch zu sprechen. Sie waren zwar nichts weniger als deutsch-freundlich und schimpften gerne auf die »Schwoben«. Aber wenn man die Politik beiseite ließ, so konnte man mit ihnen recht gut auskommen. Es ist mir ein Rätsel, daß die deutsche Verwaltung es nicht fertiggebracht hat, in 40 Jahren bei dieser im Grunde gutmütigen, allerdings demokratisch gesinnten Bevölkerung mehr Sympathie zu erwerben.

In Straßburg selbst waren noch manche Überreste französischer Einrichtungen und Sitten geblieben. In öffentlichen Tanzlokalen belustigte man sich noch am Cancan, und es war drollig anzusehen, wie selbst auf dem Lande beim sonntäglichen Tanz einzelne Bauernburschen die beim Cancan üblichen Sprünge versuchten, aber selten einen durchschlagenden Erfolg erzielten. Auch im sittlichen Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern herrschte für deutsche Begriffe eine zu freie Form.

Der Verkehr zwischen Studenten und Professoren, die fast alle noch im jugendlichen Alter standen, war behaglicher und anziehender als auf irgendeiner anderen Hochschule. Besonders profitierten davon die Naturforscher und die Mediziner. Da auch die Institute von der deutschen Regierung reichlich mit Geld ausgestattet wurden und die Zahl der Studierenden in den ersten Jahren gering blieb, so war der[53] praktische Unterricht ausgezeichnet und gab sich auch bald in den wissenschaftlichen Leistungen kund. Dieser Vorzug von Straßburg übte allmählich seine Anziehungskraft aus, und wenn nicht die Stadt als so teuer verschrieen gewesen wäre, so würde auch bald die Studentenzahl derjenigen der altdeutschen Universitäten gleichgekommen sein.

Unsere Schilderungen von dem akademischen Leben an der jungen Universität in der alten Reichsstadt haben auch in der eigenen Familie ihre Werbekraft ausgeübt. Schon nach einigen Semestern kam der Vetter Ernst Fischer dorthin, nachdem er das medizinische Staatsexamen bestanden und einige Zeit als Assistent in der chirurgischen Abteilung des Cölner Bürgerhospitals tätig gewesen war. Er besuchte in Straßburg nicht allein die chirurgische Klinik, die unter Leitung von Professor Luecke stand, sondern interessierte sich auch für Studien auf der Anatomie bei Waldeyer und auf der pathologischen Anatomie bei von Recklinghausen. Bei die ser Gelegenheit hat er eine kleine Erfindung gemacht, mit der sein Name wohl dauernd verbunden bleiben wird, und die ich erwähnen will, weil ich dazu die Anregung geben durfte. Damals war das Färben von anatomischen Präparaten, das von meinem Schwiegervater Josef von Gerlach mit der Anwendung des Carminrots in die Wissenschaft eingeführt wurde, schon allgemein üblich. Aber die Zahl der benutzten Farbstoffe war gering. Als ich davon durch den Vetter Ernst hörte, riet ich ihm, das Eosin zu versuchen, das kurz zuvor von Baeyer und Caro entdeckt worden war und das ich bei meiner Doktorarbeit über Fluorescein nicht allein als chemisches Präparat, sondern auch an meinen Händen als prächtiges Färbemittel für tierische Gewebe kennen gelernt hatte. Die Versuche vom Vetter fielen dann auch so gut aus, daß er den Farbstoff in die anatomische Praxis einführen konnte, worin er sich bis jetzt erhalten hat.

Nebenher interessierte er sich besonders für die Antisepsis in der chirurgischen Praxis, die durch den Lister'schen Verband schon eine hohe praktische Bedeutung erlangt hatte. Er bemühte sich, diesen zu verbessern und war schon damals der Ansicht, daß der Antisepsis in der Chirurgie die Asepsis folgen würde. Zunächst bemühte er sich aber, anstelle der Carbolsäure unschuldigere Antiseptica zu finden und so kam er auf das Naphtalin, dessen Giftigkeit für Ungeziefer man schon kannte. Er hat für den medizinischen Gebrauch dieses Kohlenwasserstoffes Propaganda gemacht und es auch bei der damals in Frankreich so stark wütenden Phylloxera (Reblaus) empfohlen, ohne aber in der Praxis durchzudringen.

An diese Bemühungen knüpfte sich eine andere Erfindung, deren Zustandekommen wie eine Anekdote anmutet. Infolge der Empfehlung des Naphtalins als Antiseptikum von Ernst Fischer kamen 2 Assistenten[54] der Klinik für innere Medizin zu Straßburg auf den Gedanken, den Kohlenwasserstoff zur Desinfektion des Darms im krankhaften Zustande zu verwenden. Sie bestellten das Mittel bei einer Straßburger Drogenhandlung mit dem Bemerken, daß es ganz rein sein müsse, und sie erhielten dann auch ein Präparat, von dem das Geschäft behauptete, es sei so rein, daß es keinen Geruch mehr habe. Als sie nun dieses Mittel bei fiebernden Darmkranken anwendeten, beobachteten sie das rasche Sinken der Temperatur. Glücklicherweise war der eine Mediziner, ein Bruder des Chemikers Eduard Hepp, auch chemisch gut gebildet, und er kam bald zu der Überzeugung, daß das von ihnen angewendete Mittel kein Naphtalin sei. Die chemische Untersuchung durch Eduard Hepp ergab dann auch, daß es sich um Acetanilid handelte, welches der Drogist offenbar durch Verwechselung der Flaschen als Naphtalin geliefert hatte. So ist das Acetanilid unter dem Namen Antifebrin ein bekanntes und noch jetzt namentlich in Ostasien viel gebrauchtes Fiebermittel geworden. In Europa wurde es verdrängt durch das Phenazetin, das im wesentlichen ein modifiziertes Antifebrin ist, und die gleiche fieberstillende Atomgruppe besitzt.

Es scheint mir nützlich, solche Zusammenhänge zu schildern, nicht allein aus historischen Gründen, sondern auch als neues Beispiel dafür, daß häufig der Zufall bei Erfindungen mitspielt.

Vetter Ernst hat sich später wieder ausschließlich der Chirurgie zugewandt, ist Privatdozent und außerordentlicher Professor an der Universität geworden und besaß eine chirurgische Privatklinik in der Küfergasse, von der früher schon die Rede war. Er starb während des Krieges an Typhus und Lungenentzündung. Bald nachher ist sein einziger Sohn an der Westfront gefallen. Zwei von seinen Töchtern sind in Frankreich verheiratet. Seiner Frau und seinen Kindern zuliebe ist Ernst zum Katholizismus übergetreten. Daß dabei religiöse Überzeugung mitgewirkt hat, glaube ich nicht; denn ich habe ihn nur als vollkommenen Freigeist gekannt.

Etwas später kam noch ein zweiter Vetter Fritz Fischer, Sohn des Chirurgen in Cöln als Student der Medizin nach Straßburg. Gleich nach Beginn seiner Studien erkrankte er nicht unbedenklich an Scharlachfieber, wahrscheinlich infolge einer Infektion auf der Anatomie. Wie schon erwähnt, ist er ebenfalls dort geblieben und auch als außerordentlicher Professor der Chirurgie gestorben.

Von den sonstigen studentischen Bekannten muß ich noch erwähnen Josef von Mering, mit dem zusammen ich später mehrere chemischmedizinische Arbeiten ausgeführt habe. Er war schon damals ein Original, als echter Sohn Cölns ein Freund des Humors, mit ungewöhnlicher Körperkraft ausgestattet und als gefährlicher Säbelfechter gefürchtet.[55]

Die Sommermonate waren in Straßburg ungewöhnlich heiß und brachten infolge der durch Ill und Rhein stark versumpften Umgebung eine recht lästige Mückenplage. In diesem Sumpf gediehen auch die Frösche ausgezeichnet und diese waren zweifellos wieder die Vorbedingung für die Existens der zahlreichen Störche, die auf den hohen Giebeln der alten Häuser ihre Nester angelegt hatten. Es war ein drolliger Anblick, wenn man von der Plattform des Straßburger Münsters auf die Stadt herabschaute und in das Getriebe von Hunderten von Storchnestern Einblick erhielt. Die warmen Sommer und die Lage der Stadt im Rheintal zwischen Schwarzwald und Vogesen brachten auch ungewöhnlich schwere Gewitter mit sich, und ich habe oft von meiner Wohnung in der Kalbsgasse, die ganz nahe beim Münster lag, das elektrische Wechselspiel zwischen dem Blitzableiter am Münsterturm und den Gewitterwolken bewundert. An solchen heißen Tagen fuhren wir gerne nach Kehl, um dort im Rhein zu baden und später in einem guten Gasthaus badischen Landwein zu trinken. Hier haben wir Chemiker auch im Juli 1875 ein kleines Abschiedsfest für Professor Baeyer veranstaltet, bei dem ich meine erste Tischrede hielt und glücklich stecken blieb. Das erregte großen Jubel, war aber für mich eine Mahnung, bei späteren Gelegenheiten mich besser vorzubereiten.

Das Baden im Rhein war übrigens keine ungefährliche Sache; denn die Strömung betrug in der Mitte des Stromes 3 m in der Sekunde und das Geschiebe der schweren Kieselsteine am Boden war so stark, daß man es im Wasser leicht belauschen konnte.

Im Sommer verlockte die schöne Umgebung Straßburgs verführerisch zu Ausflügen. Wir haben sie meistens nach dem Badischen ausgeführt. Schwarzwald und Odenwald sind mir auf diese Weise früh bekannt geworden. Zweimal führte mich der Weg auch nach der Schweiz. Die eine Reise, die ich mit Vetter Julius unternahm, ist früher geschildert. Ein Jahr zuvor hatte ich aber schon zusammen mit Vetter Otto Fischer und einem Studierenden der Pharmazie aus Bayern eine lustige Tour durch das Berner Oberland gemacht. Den Schluß dieser Rundfahrten in der Süd-Westecke Deutschlands machte ein Besuch der südlichen Vogesen in Gesellschaft von Vetter Ernst Fischer. Wir sind dabei auf dem Kamm des Gebirges, der die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich bildet, marschiert und kamen schließlich in die Schlucht beim großen Belchen, wo sich ein sehr gutes Gasthaus gleichen Namens befand. Hier war eine große, rein französische Gesellschaft versammelt, die einen Ausflug über die Grenze gemacht hatte. Bei Tisch blieben wir ziemlich isoliert. Die Unterhaltung mit der Nachbarschaft beschränkte sich auf einige höfliche Phrasen. Aber plötzlich erkrankte eine Dame der Gesellschaft an einer Unterleibsblutung[56] und man verlangte dringend nach einem Arzt. Da kein anderer in der Gesellschaft zugegen war, so bot Vetter Ernst seine Hilfe an und hatte rasch die Gefahr beseitigt. Von nun an war die Stimmung der Gesellschaft gegen uns wie umgewandelt. Man lud uns ein, an den Spielen teilzunehmen und überbot sich in Liebenswürdigkeiten gegen uns. Aber bald mußten wir uns verabschieden, um unser Ziel, die Stadt Mülhausen, noch am gleichen Tage zu erreichen.

Am nächsten Tage trennte ich mich von Vetter Ernst, der die Krankenhäuser in Mülhausen kennen lernen wollte, und fuhr allein nach Straßburg zurück. Bei der Gelegenheit habe ich auf komische Art die Bekanntschaft von Otto N. Witt gemacht. Er saß in der Eisenbahn mir gegenüber und richtete nach kurzer Zeit an mich die Frage: »Mein Herr, sie sind gewiß Chemiker?« Ich bejahte das und meinte lachend, er habe das wohl an meinen stark gefärbten Händen gesehen, er selbst scheine aber auch nicht weit vom Handwerk entfernt zu sein. Die Diazokörper, mit denen wir beide vorher gearbeitet hatten, waren die Verräter und brachten uns in kollegiale Verbindung. Wir stellten uns vor und erzählten uns gegenseitig von unseren Arbeiten. Ich war mit dem Phenylhydrazin beschäftigt gewesen und Witt hatte damals gerade das Chrysoidin entdeckt. Er kam von Zürich und fuhr nach England, um dort seine Entdeckung praktisch zu verwerten. Ich lud ihn ein, in Straßburg Station zu machen, worauf er auch einging und wir haben dann einen sehr vergnügten Tag zusammen verlebt. Als ich viele Jahre später nach Berlin kam, war es mir ein Vergnügen, diese alte Bekanntschaft zu erneuern. Am nächsten bin ich ihm getreten, als wir beide Kurgäste in Kissingen im Sanatorium von Dapper waren und genug Muße fanden, uns in zwanglosen Gesprächen nicht allein über wissenschaftliche Dinge gegenseitig zu belehren und zu belustigen. Witt war eine Künstlernatur, sehr gewandt in Schrift und Sprache, humoristisch veranlagt und eine impulsive Natur. Nur mußte man sich sehr in acht nehmen, seine Eigenliebe zu verletzen. Begleitet war er damals von seiner ebenso hübschen wie liebenswürdigen Gattin, einer Engländerin.

Einige Wochen nach der Vogesenfahrt habe ich Straßburg verlassen und mit Vetter Ernst eine Fahrt durch Süddeutschland gemacht, wobei wir zuerst Tübingen, Stuttgart und dann München kennen lernten, und viele lustige Erlebnisse hatten. In Tübingen herrschten damals noch patriarchalische Zustände. Als wir in ein Weinhaus eingekehrt waren, setzte sich sofort das Wirtstöchterlein zu uns, um uns über die Stadt und das städtische Treiben Auskunft zu geben. Ebenso ging es uns im chemischen Institut, dessen Leiter Professor R. Fittig schon als Nachfolger von Baeyer nach Straßburg berufen war. Als,[57] wir dort nach einem Assistenten frugen, der uns das Institut zeigen könne, meldete sich eine junge Dame, die im Hause von Fittig tätig war. Sie wußte so gut Bescheid im Institut wie ein Fachchemiker und machte in liebenswürdigster Weise den Führer.

In Stuttgart gab es natürlich sehr viel mehr an Merkwürdigkeiten zu sehen, und in der bayerischen Hauptstadt trafen wir Professor Baeyer, der schon einige Wochen vorher übergesiedelt war. Es machte ihm besonderen Spaß, uns abends in einige originelle Wirtshäuser zu führen, um namentlich mir die Stadt sympathisch zu machen. Ich erinnere mich noch, daß eine der Kneipen den klassischen Namen »Orlando di Lasso« führte und in der Nähe des Hofbräuhauses gelegen war.

Die Kunstschätze Münchens haben wir natürlich gewissenhaft angeschaut, aber ich muß offen gestehen, daß im Gegensatz zu dem großen Eindruck, den ich von den Bildern der Pinakothek hatte, die bemerkenswerten Skulpturen der Glyptothek mich ziemlich kalt ließen. Auch zum Kunstgenuß müssen die meisten Menschen erzogen werden. Die Bedeutung der Antike für Skulptur und Architektur ist mir erst bei späteren Besuchen Italiens klar geworden. Was mich damals am meisten in München interessierte, waren doch das wissenschaftliche und das materielle Leben; denn es handelte sich um die Frage, ob ich meinem Lehrer folgen und mich für längere Zeit dort binden sollte. Meine Eltern und besonders meine Mutter waren entschieden dagegen, weil München damals in gesundheitlicher Beziehung einen recht schlechten Ruf genoß. Der Typhus war so verbreitet, daß junge Leute aus dem Rheinlande, falls sie nicht durch vorherige Erkrankung immunisiert waren, ziemlich sicher darauf rechnen konnten, in München infiziert zu werden. Und zwei Jahre vorher, im Jahre 1873 hatte dort auch die Cholera sehr stark gehaust. Zudem war das Klima der hochgelegenen Stadt mit rasch wechselnden Temperaturen im Rheinland gefürchtet.

Über alle diese Dinge beruhigte mich aber Professor Baeyer und versprach mir den hygienischen Schutz der Pettenkofer'schen Schule. Das ist auch später in ausgiebigem Maße der Fall gewesen. Wir lernten durch Baeyer die Assistenten Pettenkofers kennen, unter ihnen besonders Dr. Forster, einen sehr liebenswürdigen und kenntnisreichen Mann, der später Professor der Hygiene in Amsterdam und zuletzt in Straßburg i. Els. war. Er besaß eine Typhuskarte der Stadt, in der nicht allein die verdächtigen Straßen, sondern die einzelnen Häuser mit Typhuserkrankung bezeichnet waren. Wir haben nach dieser Karte unser Quartier in der gesunden Umgebung des chemischen Instituts gewählt und sind auch sonst immer dem hygienischen Rat von Forster gefolgt.[58]

Als ich damals von München aus weiter reiste, war ich entschlossen, im Spätherbst dorthin zurückzukehren, um im Baeyer'schen Laboratorium meine Studien über Hydrazinverbindungen fortzusetzen.

Zunächst ging ich allein über Salzburg nach Wien, von dessen Vorzügen die österreichischen Studiengenossen in Straßburg so viel erzählt hatten. Meine Erwartungen sind in der Tat nicht enttäuscht worden. Die prächtige Lage in der Nähe des mächtigen Stroms und am Fuße lieblicher, bewaldeter Berge, die an historischen Erinnerungen reiche Altstadt und die prächtigen Neubauten am Ring, die großen Kunstschätze und die ausgezeichneten Theater, dazu das liebenswürdige naive Wesen des Volkes, die vielen schönen Frauen und die gute Natural-Verpflegung waren wohl geeignet, einen jungen Menschen wie mich zu bestechen, und ich würde vielleicht München gegen Wien ausgetauscht haben, wenn nicht der Besuch des chemischen Instituts mich ernüchtert hätte. Es war zwar ein Neubau kostspieliger Art, machte aber in keiner Beziehung den Eindruck der Zweckmäßigkeit. Viel besser gefielen mir die Menschen, die darin auch in den Ferien beschäftigt waren. Zunächst wandte ich mich an einen alten Bekannten, den Straßburger Studiengenossen Dr. O. Zeidler, der mich dann den anderen Assistenten vorstellte. Unter ihnen ragte hervor Dr. Zdenko Skraup, mit dem ich mich sofort befreundete.

Beim Mittagstisch lernte ich noch Professor Weidel kennen, der aber 10 bis 15 Jahre älter war als wir, und im Verkehr mit jungen Leuten sich ziemlich zurückhaltend zeigte. Professor A. Lieben, der die eine Abteilung des Instituts leitete, habe ich nur aus der Ferne gesehen. Erst später bin ich mit diesem fein gebildeten und liebenswürdigen Fachgenossen in nähere Berührung gekommen.

Skraup und Zeidler waren die Führer in denjenigen Teilen des Wiener Lebens, das in die Nachtzeit fällt und nicht in den Reisebüchern beschrieben wird. Wir haben aber auch zwei kleine Ausflüge in die Umgebung Wiens gemacht und mit Skraup zusammen besuchte ich die große Oper. Er war durch seine materielle Lage zu bescheidener Lebensweise gezwungen, und wir gingen deshalb in das billige Stehparkett, was mir auch sehr sympathisch war.

Vernünftigerweise durften auch die Offiziere dorthin gehen, und sie hatten sogar den Vorzug, nur die Hälfte des Eintrittspreises zu bezahlen. Da Skraup Reserveoffizier war, so erklärte er sofort aus Sparsamkeitsgründen die Uniform für diesen Theaterbesuch anlegen zu wollen. Dazu mußte er sich aber rasieren. Da die Zeit sehr knapp war, so erklärte ich mich bereit, ihm diesen Liebesdienst zu erweisen. Zeidler lieh dazu sein Rasiermesser, das, wie er später gestand, von ihm für viel niederere Zwecke benutzt wurde. Als ich nun meine Barbieroperation[59] noch nicht zur Hälfte ausgeführt hatte, erklärte Skraup schimpfend, er wolle sich lieber einen Zahn ausziehen lassen, als solche Tortur länger zu dulden, sprang auf und lief halb rasiert und noch mit Seife beschmiert zum ziemlich weit entfernten nächsten Rasierladen. Seitdem habe ich nie mehr Leibesoperationen an anderen Menschen vollzogen. Nach etwa achttägigem höchst befriedigendem Aufenthalt kam der Abschied von Wien, wohin ich später noch zweimal zum Besuch von Naturforscherversammlungen zurückgekehrt bin. Die Rückreise ging über Nürnberg, Würzburg, Frankfurt a.M. nach Euskirchen, wo ich noch einige Wochen meinen Vater in der Hühner- und Hasenjagd unterstützen konnte. Gleichzeitig suchte ich meinen Eltern klar zu machen, daß ich mit dem Phenylhydrazin eine hübsche Entdeckung gemacht hätte und daß es mein Wunsch wäre, diese weiter zu verfolgen in dem Münchener Laboratorium als freier Privatgelehrter. Obschon mein Vater behauptete, die Sache nicht zu verstehen, und überhaupt die Nützlichkeit dieser Erfindung, die man nicht praktisch verwerten könne, anzweifelte, so ließ er mir doch vollkommen freie Wahl. Zudem hatte er mich schon selbständig gemacht; denn sobald ich mit Vollendung des 21. Lebensjahres mündig geworden war, übergab er mir dieselbe Summe, die meine Schwestern als Heiratsgut erhalten hatten. Die Zinsen reichten bei meinen nicht übertriebenen Ansprüchen zum Lebensunterhalt vollkommen aus. Das Kapital überließ ich gerne meinem Vater zur Verwaltung, und er hat diese auch noch später weiter geführt, bis ich 40 Jahre alt wurde und nach Berlin übersiedelte. Dann meinte er, ich sei nun alt genug, um solche Dinge selber zu besorgen. Die Bedenken meiner Mutter bezüglich der gesundheitlichen Gefahren ließen sich beschwichtigen und so zog ich Mitte Oktober nach München. Das Laboratorium, in dem Baeyer sich provisorisch eingerichtet hatte, war nach den Plänen von Liebig 20 Jahre früher erbaut worden.

Bei seiner Berufung nach München hatte der große Forscher ausdrücklich die Verpflichtung abgelehnt, praktischen Unterricht an Studierende zu erteilen. Er hielt deshalb nur die großen Vorlesungen über Chemie und im Laboratorium widmete er sich ausschließlich seinen eigenen Forschungen. Die Zeit der großen Experimental-Untersuchungen war übrigens bei ihm schon vorüber und die Münchener Zeit hat er mehr literarischen Arbeiten gewidmet. Infolgedessen war das Laboratorium, in dem sich auch die Wohnung Liebigs befand, recht klein. Mit dem Einzug von Baeyer wurde die Dienstwohnung geopfert und im alten Gebäude ein provisorisches Laboratorium eingerichtet. Gleichzeitig begannen die Vorarbeiten für den Neubau des Instituts.[60]

Von Straßburg waren die Assistenten Dr. E. Hepp und Dr. C. Schraube, ferner der Inspektor Kamps und der Diener Gimmig mit übergesiedelt. Als einzigen früheren Insassen des Instituts trafen wir den außerordentlichen Professor an der Universität Jacob Volhard. Er hatte seit vielen Jahren seinem Onkel Liebig sowohl als Vertreter bei den Vorlesungen, als auch bei der Redaktion der Annalen der Chemie Hilfe geleistet. Er war ein kluger, feingebildeter Mann und eine anziehende Persönlichkeit. Durch ungewöhnliche Größe und körperliche Schönheit ausgezeichnet, formgewandt und humoristisch veranlagt, hatte er sich namentlich im Verkehr mit Künstlern einen flotten, von jeder Pedanterie freien Umgangston angeeignet. Seine offene Art, sich auszusprechen, die im allgemeinen Vertrauen erweckte und namentlich uns jungen Leuten sympathisch war, konnte sich aber auch zu heftiger Grobheit steigern. Das geschah, wenn er in Jähzorn geriet, wovon ich selbst eine Probe erfahren sollte. Eines Tages traf er mich nämlich bei der Ausführung einer Elementaranalyse und begann eine gemütliche Plauderei, bis sein Blick auf eine Pipette fiel, die mir von einem Diener als wertloses Stück übergeben und zu niederen Zwecken benutzt worden war. In Wirklichkeit gehörte sie zu einem Satz von Pipetten, die Volhard sich eigens für analytische Zwecke kalibriert hatte. Und nun erfolgte ein so plötzlicher und furchtbarer Zornesausbruch, daß ich fürchten mußte, es würde zu Tätlichkeiten kommen, und mich deshalb in Verteidigungszustand setzte. Glücklicherweise ging der Anfall bald vorüber. Die Heftigkeit tat ihm dann leid, wir haben uns leicht versöhnt und sind von da an immer gute Freunde geblieben. Ich bin sogar zweimal, in München und auch in Erlangen, sein Nachfolger geworden.

Die Vorlesungen, die Professor Baeyer rechtzeitig in München begann, erfreuten sich von Anfang an eines recht guten Besuches. Auch in der kleinen analytischen Abteilung des Instituts, deren Leitung Professor Volhard übernommen hatte, herrschte ziemlich reges Leben. Bescheiden blieb dagegen im ersten Semester der Besuch der organischen Abteilung. Außer mir gab es vielleicht 6 Praktikanten. An die einzelnen Personen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber wenn ich nicht irre, waren Paul Friedländer und Wilhelm Königs darunter. Dieser präsentierte sich gleich als eine originelle Persönlichkeit; denn er erschien im Institut mit einem Schuh und einem Pantoffel bekleidet und blieb auch bei dieser Ausrüstung wochenlang, obschon scheinbar kein zwingender Grund dazu vorhanden war. Leute, die sich so wenig um die Verwunderung anderer Menschen kümmern, haben mir von jeher gefallen und so habe ich denn auch die Bekanntschaft von Königs gerne gesucht, wobei sich noch das erfreuliche[61] Resultat ergab, daß er als Cölner ein Landsmann von mir sei. Die äußere Hülle war bei ihm nicht schön, sie umschloß aber eine um so schönere Seele. Mir sind nicht viele Leute im Leben begegnet, die bei hervorragendem Verstand und ausgesprochener Begabung für Witz eine so vornehme Denkweise und ein so mildes Urteil über die Fehler ihrer Mitmenschen hatten. Die ser Eigenschaft verdankte er auch die allgemeine Beliebtheit und ich selbst habe ihn immer gerne zu meinen Freunden gezählt.

Theodor Curtius hat ihm eine liebenswürdige Biographie gewidmet, aber das kann mich nicht abhalten, auch hier seiner zu gedenken und einige gemeinsame Erlebnisse zu schildern. Königs besaß einen offenen Kopf, hatte für wissenschaftliche Dinge volles Verständnis und war keineswegs arm an guten experimentellen Ideen. Dagegen fehlte ihm die praktische Gewandtheit. Wie er selbst öfter beklagte, war es ihm nicht möglich, verschiedene Versuche zu gleicher Zeit anzustellen oder auch nur zu beaufsichtigen. Dazu kam eine gewisse Langsamkeit in der praktischen Arbeit, an der zum Teil wohl seine frühere chemische Erziehung schuld war. Er kam nämlich von Bonn, wo er auch promoviert hatte und wo das rasche Arbeiten offenbar nicht sehr gepflegt wurde. So erzählte er bei seiner Ankunft, daß er zu einer Elementaranalyse in Bonn gewöhnlich 2 bis 3 Tage gebraucht habe. Als ich ihm darauf lachend erwiderte, daß ich 5 an einem Tage machen könne, wollte er es nicht glauben, bis ich ihm den tatsächlichen Beweis dafür lieferte. Allerdings ist dafür doppelte Apparatur erforderlich. Ohne die Langsamkeit des Experiments hätte Königs bei seiner Begabung und seinem Ideenreichtum der Wissenschaft noch viel größere Dienste leisten können.

In der Geselligkeit junger Leute wurde Königs durch seinen schlagfertigen Witz rasch der Mittelpunkt. Daneben besaß er die Gabe, recht hübsche Gelegenheitsgedichte und kleine Festspiele zu verfassen. Manche davon hätten wohl verdient, im Druck zu erscheinen. Sie würden zweifellos, ähnlich den Werken des Berliner Chemikers Jacobsen eine wertvolle Bereicherung der humoristischen chemischen Literatur bilden.

Dem Inhalt, leider nicht dem Wortlaut nach ist mir ein Gedicht in Erinnerung geblieben, das er zu einem kleinen Feste der chemischen Gesellschaft in München bei meinem Abschied von dort beisteuerte. Es war dem Guanolied von Scheffel nachgebildet und bezog sich auf die von mir aufgefundene Bereitung des Kaffeins aus dem Xanthin und Guanin. Die Kunde davon war durch ein Heft der Berichte zu den Vögeln an der Guanoküste gedrungen. Um nun der deutschen Konkurrenz die Spitze zu bieten, macht ein alter Vogel zur Beruhigung[62] der jungen Kollegen den Vorschlag, »von nun an in homologen Reihen zu scheißen«, und »wenn dann schließlich gelungen, das homologe Produkt, so wird eine besondere Probe Herrn Fischer zu Ehren gedruckt«. Diesem Liedchen fügte der Dichter noch einem Spottvers zu: »So sangen 2 muntere Vögel auf Kosten des Herrn Präsident und tranken dazu von dem Weine, den nie vor Anderen er nennt«. Damit hatte es folgende Bewandnis: Königs und ich wohnten damals bei derselben Wirtin im gleichen Stock und besuchten uns spät abends häufig, um gemeinsam ein Glas Wein zu trinken. Kurz vor dem Feste traf ich Königs bei meiner Heimkehr auf seinem Zimmer in Gesellschaft eines jungen Chemikers, beide offenbar etwas betroffen durch meinen Eintritt. Königs hatte nämlich eben das Guanolied verfaßt und sich dazu aus meinem Weinkeller eine der besten Sorten kommen lassen, die bei meiner Ankunft aber rasch durch Kutscherwein ersetzt worden war. Der junge Fachgenosse war der Conkneipant; denn Königs hatte beim Dichten Wein und Gesellschaft nötig und ließ sich von solchen Assistenten den Versfuß vortreten, um nicht zu entgleisen. Als ich mich dann entfernt hatte, fügte er dem Gedicht noch den oben erwähnten Vers hinzu.

Meine Weinvorräte waren damals nicht ganz gering und es befanden sich darunter einige recht gute Sorten. Beim Umzug nach Erlangen Ostern 1882 hatte ich der Wirtin den Auftrag gegeben, denselben nachzuschicken. Der Wein kam aber nicht und eine Anfrage ergab, daß Königs ihn mit seinen Freunden getrunken hatte. Statt dessen erschien ein großes Faß Münchener Hofbräu als Ersatz für den verschwundenen Wein. Er wußte genau, daß ich über den Spaß ebenso lachen würde, wie er es im gleichen Fall getan haben würde.

Mit Königs bin ich auch wiederholt gereist, das letzte Mal 1902 nach Nervi an der Riviera di Levante. Der dritte in unserem Bunde war S. Gabriel, ebenfalls ein richtiger Witzbold. Wenn wir abends zusammen bei einem Glase Bier saßen, so bemühten die beiden Kollegen sich in Witzen zu überbieten. Es ging wie ein Raketenfeuer und ich hatte stundenlang nichts weiter zu tun, als zu lachen. Fast noch komischer als die Witze war das außerordentliche Vergnügen, das die beiden Herren an ihren gegenseitigen Produkten hatten. Es waren heitere Tage, die wir zu prächtigen Fußwanderungen in dieser herrlichen Landschaft benützten. Auch hierbei passierten komische Dinge. Eines Tages kehrten wir auf einem sehr steilen, gepflasterten Fußweg nach der Stadt zurück und begegneten dabei drei italienischen Knaben im Alter von ungefähr 10 bis 12 Jahren, die sofort ihre Bemerkungen über die Forestiere machten, ohne zu ahnen, daß wir etwas von der Sprache verstanden. »Che banda senile« meinte der erste, »gleich wird[63] er hinfallen« meinte der zweite, und dann schlossen sie sofort eine Wette, wen von den dreien dieses Schicksal treffen würde. Es dauerte auch nur noch wenige Sekunden, da saß Gabriel wirklich auf dem Boden, was der jungen Bande natürlich einen unbändigen Spaß machte. An der Heiterkeit hat sich aber auch die alte Bande gründlich beteiligt.

Eine andere Italienfahrt, die ich mit Königs von München aus machte, führte bis Neapel. Infolge seines roten Haares und seiner doppelten Brille wurde er von Droschkenkutschern, Bettlern und ähnlichem Volk schon aus weiter Ferne als Fremder erkannt und dementsprechend bestürmt. Das führte auch zuweilen zu komischen Auftritten. Die Droschkenkutscher hatten damals in Neapel die üble Angewohnheit, den Fremden nicht allein zur Benutzung ihres Fahrzeuges einzuladen, sondern auf offener Straße zu folgen und überall in den Weg zu fahren, wo man eine Straße kreuzen wollte. Unserem Freund Königs schien das eine Gelegenheit, die Zudringlichkeit mit einer Neckerei zu erwidern. Er stieg also ruhig in das Fahrzeug hinein und auf der anderen Seite ebenso rasch wieder hinaus. Wenn der Kutscher dann los fuhr, war der Wagen leer. Kaum aber hatte er dieses Experiment einige Male ausgeführt, als die Kutscher auch schon eine Gegenlist erfanden. Sobald er nämlich seinen Fuß in den Wagen hineinsetzte, war dieser auch schon in Bewegung, dann gab es ein großes Gelächter und Königs mußte bezahlen.

Über solchen Dummheiten wurde aber doch der Hauptzweck der Reise niemals versäumt, denn Königs war gebildet genug, um für die ungeheuren Kunstschätze Italiens und für die Fundstätten der antiken Kultur Verständnis zu besitzen. Für gute Bilder konnte er sich sogar begeistern. Dazu mag auch wohl das Beispiel seines einen Bruders beigetragen haben, der in Berlin Bankier war und seine stattlichen Einkünfte für den Ankauf von guten Bildern verwendete. Der größte Teil der wertvollen Sammlung ist nach dem frühzeitigen Tode des Bankiers von den Geschwistern der Nationalgalerie geschenkt worden.

In späteren Jahren hat Königs mich in Berlin regelmäßig wenigstens einmal im Jahre besucht und dann manchmal mit seinen Geschwistern, besonders mit seiner klugen und fein gebildeten Schwester Fräulein Elise Königs in Berührung gebracht, die den Berliner Gelehrten als weiblicher Mäcen wohl bekannt ist und von der Akademie der Wissenschaften durch Verleihung der goldenen Leibniz-Medaille geehrt wurde.

Eine ganz andere Natur als Königs war Paul Friedländer, der Sohn eines Universitätsprofessors in Königsberg, mit dessen Persönlichkeit meine Münchener Erinnerungen auch eng verknüpft sind.[64] Er kam als Student in das Baeyer'sche Laboratorium, wurde aber wegen seiner Begabung auch von uns älteren Chemikern als gleichberechtigt angesehen. Nebenher war er sehr musikalisch und konnte recht schwierige klassische Sachen auf dem Klavier aus dem Gedächtnis vortragen. Durch seine späteren Arbeiten über Thio-Indigo und über den antiken Purpur, den er als Dibromindigo erkannte, hat er sich in der Wissenschaft einen geachteten Namen geschaffen. Auch mit ihm habe ich mehrere Reisen nach Italien gemacht, sogar meine erste, die über Verona, Venedig, Padua, Florenz und Mailand ging und bei der er mir wegen seiner besseren Sprachkenntnisse ein wertvoller Führer war. Er ist 6 Jahre jünger wie ich und noch in voller Rüstigkeit an der technischen Hochschule zu Darmstadt tätig. Ich bin durch die Kriegswirtschaft, woran er sich auf Veranlassung von Professor Haber beteiligte, wieder öfter mit ihm in Berührung gekommen.

Im Frühjahr 1876 kehrte auch der Vetter Otto Fischer in Baeyers Laboratorium zurück, nachdem er das Wintersemester bei Liebermann über Methylanthracen gearbeitet hatte, und wir haben bald nachher die gemeinsame Untersuchung über Rosanilin begonnen, wovon später ausführlich die Rede sein wird.

Ungefähr um dieselbe Zeit gesellte sich zu unserem Kreise als älterer Student der Chemie Hans Andreae aus Dresden, dessen Mutter eine geborene Dilthey aus Rheydt und deshalb meine Kusine war. Der Vater, ein Kunstmaler, stammte aus der rheinischen Familie Andreae, die in Mülheim a. Rh. eine große, sehr bekannte Sammetfabrik hatte. Dieser Hans war ein frischer, lustiger Geselle, aber stark verbummelt und dem Gambrinus ergeben. Gearbeitet hat er in München kaum, aber sehr viel Bier getrunken, Skat gespielt und Späße gemacht. Bei seiner unvernünftigen Lebensweise waren Unfälle nicht selten. Schon in Leipzig hatte er bei einer Rauferei einen Messerstich in die Lunge bekommen. In München zog er sich eine langwierige Verrenkung des Fußknöchels zu und ein Semester später erkrankte er an einem schweren Typhus. Da er auch nach dieser Krankheit die alte Lebensweise beibehielt, so riet ich seinem Vater, der sich an mich gewandt hatte, ihn wieder ins Elternhaus zurückzunehmen und auf der technischen Hochschule zu Dresden seine Studien fortsetzen zu lassen. Das war seine Rettung; er wurde nun vernünftig, machte seine Examinas und ist dann wohlbestallter Fabrikant in Burgbrohl in der vulkanischen Eifel geworden, wo er eine natürliche Kohlensäurequelle ausnutzt und hauptsächlich zur Bereitung von Alkalibicarbonat verwendet. Sogar zum kirchlichen Würdenträger hat er es gebracht, denn bei seinem letzten Besuche in Berlin erzählte er mir, daß er als Vertreter der niederrheinischen Synode an einer kirchlichen Versammlung teilnehme.[65]

In dem provisorischen Laboratorium zu München haben wir es trotz mancherlei Mängel der Einrichtungen recht behaglich gehabt; denn die Arbeiten waren von Erfolg begleitet, wie ich in einem besonderen Kapitel noch ausführen werde, und Professor Baeyer tat alles, uns zu fördern und den Aufenthalt angenehm zu machen. Ebenso wie in Straßburg habe ich mich auch hier seiner besonderen Gunst erfreut. Obschon ich nur einfacher Praktikant ohne jede Verpflichtung gegen das Institut war, so räumte er mir doch mancherlei Rechte ein, die sonst nur den Assistenten zustanden. Auch im persönlichen Verkehr sind wir uns näher getreten. Er lud mich öfters zu Gesellschaften in seiner Familie und im Sommer, wo diese frühzeitig auf das Land ging, sind wir auch manchmal zusammen ins Gasthaus gegangen. Aus den hier geführten Gesprächen habe ich manches gelernt, das außerhalb des wissenschaftlichen Ideenkreises lag. Einer Unterhaltung aus dem Sommer 1876 erinnere ich mich noch deutlich, weil ich Baeyer darin meine Absicht kund gab, bei der wissenschaftlichen Laufbahn zu bleiben. Zu dem Zweck wollte ich im nächsten Winter wieder nach Straßburg gehen, um bei Rose den analytischen Unterricht näher kennen zu lernen. Er hielt das für ganz vernünftig, weil Robert Bunsen doch wohl schon zu alt sei, knüpfte daran aber lachend die Bemerkung, daß ich mit großer Überlegung auf mein Ziel lossteuere.

Zunächst habe ich aber die Herbstferien 76 zu einer Reise nach Berlin, Kopenhagen und Hamburg benutzt, die sehr genußreich und zum Schluß belehrend für mich ausfiel. Der erste Teil der Reise ging über Dresden und Leipzig. Mein Begleiter war Vetter Otto. Die sächsische Hauptstadt hat uns durch die schöne Lage, die prächtigen Bauten und die wunderbaren Kunstsammlungen sehr imponiert. Wir hörten auch manches über die Bewohner durch die dort ansäßige und früher erwähnte Familie Andreae, ein Ehepaar mit 10 Kindern, das uns Vettern sehr freundlich aufnahm.

Leipzig hat uns nicht allein als Universität, sondern auch als Handelsstadt gut gefallen. In Berlin, wo wir uns 8 Tage aufhielten und mit Wilhelm Königs zusammentrafen, der sich dann als Reisegefährte anschloß, konnten wir noch viel mehr Interessantes sehen und erleben, da der Bekanntenkreis von Königs dort groß war und wir durch ihn auch in die nächtlichen Geheimnisse der Großstadt rasch eingeweiht wurden. Trotzdem war der Gesamteindruck, den die Stadt mir hinterließ, nicht besonders freundlich. Infolge der Gründerperiode war sie in einem Umwandlungsprozeß begriffen, der sich durch gewaltiges Wachstum und viele häßliche Bauten auszeichnete. Aber auch von den unschönen Einrichtungen des alten Berlins war manches übrig geblieben, und ich erinnere mich noch jetzt mit Schaudern, nächtlicher weile[66] in einen Rinnstein gefallen zu sein, der wenigstens 1/3 m tief und mit keiner angenehmen Flüssigkeit gefüllt war. Auch der Grundzug der Bevölkerung, ihre schnarrende und schnoddrige Redeweise, mit dem befehlshaberischen, an das Militär erinnernden Ton, waren mir recht ungewohnt.

Die chemischen Institute, die wir ansahen, konnten ebenso wenig unseren Beifall erwecken, und wenn mir jemand damals prophezeiht hätte, daß ich einmal nach Berlin berufen würde, so hätte ich sicherlich in Gedanken ein solches Angebot energisch abgelehnt. Von dort ging die Reise weiter über Stettin, wo wir sofort das Schiff nach Kopenhagen bestiegen. Vetter Otto trennte sich für diese Zeit von uns und fuhr in der zweiten Kajüte, weil er annahm, daß hier die Gesellschaft besser sei. Es war meine erste Meerfahrt, und sie ist mir dauernd im Gedächtnis geblieben, weil sie recht stürmisch verlief. Schon auf dem Haff wurden viele Personen seekrank, und als wir auf das offene Meer kamen, geriet das kleine Schiff in bedenkliche Schwankungen. Königs und ich haben uns tapfer gehalten, bis wir am späten Abend, durch die Kälte gezwungen wurden, in die Kajüte zu gehen. Hier haben wir dann ebenfalls Neptun unser Opfer bringen müssen, und als wir am nächsten Morgen in Kopenhagen ankamen, war die ganze Schiffsgesellschaft in ziemlich trostlosem Zustand.

Der Aufenthalt in der prächtig gelegenen und durch die große Kunst Thorwaldsens geweihten dänischen Hauptstadt hat uns für die erlittene Mühsal reichlich entschädigt.

Die Dänen sind ein sehr höfliches Volk und trotz der politischen Abneigung, die sie damals gegen Deutschland hegten, haben sie uns mit großer Zuvorkommenheit behandelt. Nur einmal stießen wir mit ihrem Vorurteil zusammen. In einem Cafehaus, wo wir die einzigen Gäste waren, zog Königs ein Kartenspiel hervor, das er immer auf Reisen mitführte, und wollte ein kleines unschuldiges Skatspiel beginnen. Dagegen erhob aber der Wirt entschiedenen Widerspruch, weil in den besseren Gasthäusern der Stadt das Kartenspiel Anstoß errege.

Natürlich haben wir auch die schöne Umgebung von Kopenhagen, das Seebad Klampenborg, die kleine Stadt Helsingoer, mit dem alten aus Hamlet bekannten Schlosse, und endlich das im Innern gelegene prächtige Schloß Frederiksborg besucht. Ich bin später nicht mehr nach Dänemark gekommen, habe aber dem schönen Seeland eine dauernde freundliche Erinnerung bewahrt.

Die Überfahrt über Korsoer nach Kiel ging ohne Zwischenfall von statten, da die See ruhig war. Kiel machte damals den Eindruck einer kleinen schmutzigen, ziemlich unbedeutenden Seestadt. Von der großen deutschen Marine mit den gewaltigen Werftanlagen der Neuzeit war[67] noch sehr wenig vorhanden, dagegen hatten wir bei der Einfahrt, die früh morgens erfolgte, das Vergnügen, die prächtige Kieler Bucht zu bewundern.

Ebenso gab uns die Eisenbahnfahrt von Kiel nach Hamburg willkommene Gelegenheit, das hübsche und freundliche Holstein'sche Land mit manchen kleinen Seen und prächtigen Waldungen zu sehen. Hamburg war damals noch nicht die gewaltige Handelsstadt wie heute. Aber als Seeplatz nahm es doch schon den ersten Rang in Deutschland ein, und das Leben im Hafen bot für uns Landratten viele Überraschungen. Auch die Stadt selbst mit den schönen Bauten an der Alster, mit der prächtigen Kunsthalle und den guten Theatern war wohl geeignet, die Aufmerksamkeit des Reisenden zu erwecken. Als junge Leute, die den ganzen Tag auf der Schau sein konnten, haben wir das alles in ein paar Tagen gesehen.

Inzwischen hatte die Tagung der deutschen Naturforscher und Ärzte begonnen, an der wir als Mitglieder teilnahmen. Die chemische Sektion war nicht sehr besucht, aber ich habe doch einige für mich interessante Bekanntschaften gemacht. Zunächst A. Ladenburg, damals Professor der Chemie an der Universität Kiel, dann der außerordentliche Professor Michaelis von Karlsruhe, der gerade aus England kam und sich ebenso durch einen ungeheuren Bart wie durch einen altersschwachen Cylinderhut auszeichnete. Endlich Dr. E. Noelting, ein Freund und späterer Schwager von Witt. Er interessierte sich besonders für Farbstoffe und interpellierte mich sofort über das Rosanilin, über das ich mit dem Vetter Otto eine kleine Publikation gemacht hatte. In einer Sitzung der chemischen Abteilung habe ich meinen ersten wissenschaftlichen Vortrag gehalten. Er war ziemlich kurz und handelte von dem asymmetrischen Diphenylhydrazin, das ich kurz vorher gefunden hatte, und dessen Isomerie mit dem Hydrazobenzol interessante Vergleiche gestattete. Der Präsident der Sitzung, Professor Ladenburg, hat mir dazu einige freundliche Worte der Anerkennung gewidmet.

Von den allgemeinen Sitzungen, die wir ebenfalls besuchten, ist mir nur ein Vortrag des Zoologen Moebius aus Kiel in Erinnerung geblieben, weil er ein chemisches Kuriosum brachte. Es war die Identität des mysteriösen Urschleims (Bathybius Haeckelii) mit amorphem Gyps, der beim Vermischen von Seewasser mit Alkohol ausfällt.

Die Stimmung der Naturforscher, die im Hamburger Volksmund »die forschen Naturen« hießen, war die denkbar beste, gehoben durch das prächtige Herbstwetter, die vielen Vergnügungsgelegenheiten der Seestadt und die flotte Gastfreundschaft der Hamburger Bürgerschaft. Von den Festlichkeiten ist mir in Erinnerung geblieben eine Dampferfahrt[68] nach Blankenese. Bei der Rückkehr hatten wir Gelegenheit, die Ausgelassenheit und Rohheit der Hafenbevölkerung kennen zu lernen. Es war schon halb dunkel und Scharen von halbwüchsigen Burschen vergnügten sich nun damit, unserer Gesellschaft und besonders den Damen kleine, aber doch scharf explodierende Feuerwerkskörper unter die Füße zu werfen. Anderwärts hätte man sich über diesen Unfug entrüstet, die Hamburger aber waren daran gewöhnt und blieben ganz gelassen.

Von Hamburg sind wir drei ohne Unterbrechung an den Rhein gefahren, und ich habe mich dann im Oktober von den beiden anderen für ein Semester getrennt, da ich nach Straßburg ging, um bei meinem früheren Lehrer Professor F. Rose in der analytischen Chemie und ganz besonders im Unterricht der Anfänger Erfahrungen zu sammeln. Angemeldet hatte ich mich natürlich schon während des Sommers und dabei den Wunsch ausgesprochen, als Volontärassistent von Rose in der analytischen Abteilung des Laboratoriums zu Straßburg mitwirken zu dürfen. Der Direktor des Instituts Professor Fittig ließ mir aber sagen, er könne meinen Wunsch nur erfüllen, wenn ich die Stelle eines bezahlten Assistenten annehme. Das habe ich auch getan, mußte nun aber nach einigen Monaten die Überraschung erleben, daß mein schon an und für sich recht bescheidenes Gehalt herabgesetzt wurde. Es war eine Maßregel, die aus Verwaltungsgründen vielleicht gerechtfertigt war, aber es hat doch auf die anderen Angestellten des Instituts, besonders die Diener einen merkwürdigen Eindruck gemacht, weil sie es als eine Degradation für mich ansahen. Ich habe natürlich darüber gelacht, aber es passte zu der Persönlichkeit von Fittig, der durch seine Anordnungen, ohne es zu wollen, andere Leute leicht vor den Kopf stieß. Ich hatte vor Fittig wegen seiner ausgezeichneten Arbeiten die größte Hochachtung, aber bei näherem Verkehr mit ihm merkte ich doch den großen Unterschied im Vergleich zu Baeyer. Trotz seiner scharfen Beobachtungsgabe und seiner Geschicklichkeit im Experimentieren sowie seiner gesunden Kritik, entbehrte er der Genialität und war neuen Ideen, z.B. der Stereochemie und den physikalischen Lehren schwer zugänglich. Obschon ein guter Lehrer für Anfänger, besaß er auch nicht die Fähigkeit, ältere Chemiker an sich zu fesseln und dadurch eine größere wissenschaftliche Schule zu bilden. Von Tübingen her war er gewöhnt, auch den Unterricht in der chemischen Analyse zu erteilen. Das hätte er am liebsten auch in Straßburg getan, wenn nicht die von Baeyer schon getroffene Organisation, die den Extraordinarius Rose zum selbständigen Leiter in der Abteilung machte, vorhanden gewesen wäre. Ich war als Assistent nur in dieser Abteilung beschäftigt. Leider blieb mir dabei eine gewisse Enttäuschung auch[69] nicht erspart. Der Unterricht von Rose, dem ich als Student so viel verdankte, erschien mir jetzt mehr wie eine einseitige, allerdings mit den vielen praktischen Erfahrungen des Bunsen'schen Laboratoriums geschmückte Dressur. Neue Methoden, die in der Literatur erschienen, wurden garnicht versucht und die geringste Abweichung von der Schablone galt als Fehler. Trotzdem ist mir das, was ich in bezug auf Unterricht bei Rose lernte, später sehr zustatten gekommen, als ich selbst die analytische Abteilung des Münchener Laboratoriums übernehmen mußte.

Die Zahl der Studierenden im Straßburger Laboratorium war nicht so groß, daß meine Zeit durch den Unterricht ganz in Anspruch genommen worden wäre. Es blieb mir deshalb die Möglichkeit, nebenher andere Dinge zu treiben. So habe ich mich ziemlich regelmäßig an dem physikalischen Kolloquium bei Kundt beteiligt, und vor allen Dingen konnte ich einige Studien über die Morphologie und Physiologie der niederen Pilze machen. Wie früher schon erwähnt, erhielt ich die Anregung dazu von Dr. A. Fitz, der mir von früher her flüchtig bekannt war, und dem ich jetzt auch persönlich näher treten durfte. Er war ein wohlhabender Weingutsbesitzer aus der Pfalz, schon in reiferen Jahren, unverheiratet und führte damals interessante Versuche über Spaltpilzgärung aus, durch die er sich in der Geschichte der Gärungschemie einen geachteten Namen gemacht hat. Durch ihn lernte ich einige Schriften von Pasteur, vor allem das Buch »Etudes sur la bière« kennen. (Welche praktische Folge das für eine Brauerei in Dortmund gehabt hat, ist früher geschildert). Die Pilzchemie hat mich damals so interessiert, daß ich bei längerem Aufenthalt in Straßburg sicherlich eigene Forschungen auf diesem Gebiete angestellt hätte. Zunächst war es aber für mich nötig, morphologische Kenntnisse zu erwerben und Übung in der Handhabung des Mikroskops und der Pilzkulturen zu bekommen. Die Gelegenheit dazu bot das botanische Institut, das unter Leitung von de Bary stand, der einer der besten Kenner der niederen Pilze in Deutschland war. Mit geringer Mühe habe ich dort eine Reihe von Schimmelpilzen und Hefearten kennen gelernt, die meist auf trockenen Nährböden wie Kartoffeln, Rüben, Möhren gezogen wurden. Es ist mir deshalb immer ein Rätsel geblieben, daß erst Jahre nachher für die Kultur der Spaltpilze Robert Koch die festen Nährböden in die Mykologie einführen mußte, und seitdem als Erfinder dieser Methode angesehen wird. Tatsächlich hat Pasteur die Kultur von Mikroben immer nur in Flüssigkeiten, d.h. in seinem bekannten Kolben angestellt und auch seine Nachfolger wie Fitz usw. waren nicht auf den Gedanken gekommen, den festen Nährboden zu benutzen.[70]

Außerhalb der Laboratorien hat es mir an Unterhaltung und Gesellschaft in Straßburg nicht gefehlt, und als junge Leute durften wir uns auch hier und da kleine Streiche erlauben. So erinnere ich mich eines Spaßes, wobei wir Dr. C. Wurster, der damals in Straßburg sein einjährigfreiwilliges Jahr abdiente, und bei einer nächtlichen Kneiperei den Urlaub überschritten hatte, vor der Festnahme durch eine Patrouille schützen mußten, indem wir ihn auf der Straße rasch in einen Zivilisten verwandelten.

Von neuen Bekanntschaften, die ich in ziemlich großer Zahl machte, will ich nur zwei erwähnen. Einmal den Vorstand der Apotheke am Bürgerhospital Dr. Musculus, ein Freund von Mering. Er war erheblich älter wie wir, ein geborener Elsässer, ein liebenswürdiger Gesellschafter und guter Chemiker. Ihm verdankt man die erste Synthese künstlicher Dextrine aus Traubenzucker, mit denen ich mich 15 Jahre später eingehend beschäftigt habe. Noch viel origineller als Mensch war der Physiker Dr. Fuchs, ein Kneipgenie und nebenher ein Mann von umfassender Bildung. Er hatte ursprünglich Philologie studiert und war dann Mediziner geworden. Nach Abschluß aller dazu nötigen Examinas hatte er kurze Zeit als Nervenarzt praktiziert, war dann aber zur Physiologie übergegangen. Als auch diese Wissenschaft ihm noch nicht exakt genug erschien, wurde er Physiker, und infolge der Unterhaltungen, die er öfters mit mir führte, bekam er Lust, auch noch Chemiker zu werden. Dazu ist es aber nicht mehr gekommen, weil inzwischen sein bescheidenes väterliches Erbe zur Neige ging, und er genötigt war, Geld zu verdienen. Er hat sich später in Bonn habilitiert und ist, wie ich zu meinem großen Vergnügen hörte, zum Schluß als Pseudoleibarzt zu Friedrich Krupp in Essen gekommen. Ich kann mir denken, daß es diesem Schöpfer des größten deutschen Industrieunternehmens am Schluß eines arbeitsreichen Lebens Vergnügen bereitet hat, mit dem vielseitig gebildeten, witzigen und kindlichnaiven Gelehrten zu verkehren.

Im Frühjahr 1877 hatte ich meinen Zweck in Straßburg erreicht und kehrte schleunigst nach München zurück, um die liegengebliebenen Arbeiten über die Hydrazinverbindungen und das Rosanilin fortzusetzen. Dort war inzwischen der Neubau des Instituts mächtig gefördert worden und man bereitete sich schon darauf vor, im Herbst desselben Jahres den Umzug aus dem alten Hause zu bewerkstelligen.

Der Sommer verlief wie sein Vorgänger für uns als eine zweckmäßige Kombination von fleißiger Arbeit und heiterem Leben. Die Zahl der Studierenden und der älteren Chemiker war gewachsen und auch unser gesellschaftlicher Kreis hatte sich dementsprechend vergrößert. Wir waren alle inzwischen gute Münchener geworden und[71] hatten uns dem Bierleben ganz angepaßt. Besonders unterhaltend waren die Abende auf den sogen. Bierkellern, d.h. den Ausschanken der großen Brauereien in hübschen Gärten, die zum Teil auf der Theresienwiese, zum Teil auf dem rechten Isarufer lagen. Hier herrschte ein gemütliches Treiben, eine aus allen Teilen der Bevölkerung zusammengesetzte Gesellschaft erfreute sich an dem köstlichen Bier. Das Abendessen dazu brachte man sich mit, indem man unterwegs in einem Fleischer- und Bäckerladen die nötigen Einkäufe machte. Ganze Familien, von kleinen Kindern bis zum Greise konnte man hier versammelt sehen. Das Bierleben bot auch sonst manche Merkwürdigkeiten. So gab es in gewissen Stadtlokalen eine Bierbettelei, d.h. einzelne Leute, die behaupteten, kein Geld zum Ankauf von Bier zu besitzen zogen mit einem leeren Krug umher, um ihn von mildtätigen Menschen in kleinen Beiträgen füllen zu lassen. Der sonderbarste Auswuchs von Biergemütlichkeit entwickelte sich aber beim Ausschank des Salvatorbiers, das von einer einzigen Münchener Brauerei hergestellt wurde und gewöhnlich in 5 bis 6 Wochen auf dem Salvatorkeller ausgetrunken wurde. Meinen ersten Besuch machte ich dort gemeinschaftlich mit Professor Baeyer. Es war ein fürchterlicher Betrieb. Trotz der kalten Jahreszeit lagen die Menschen dutzendweise betrunken im Garten und an den Abhängen des Berges. Das Hereinkommen in den ungeheuren geschlossenen Raum bot erhebliche Schwierigkeiten, weil fortwährend Ruhestörer oder Betrunkene hinausgeworfen wurden. Als wir schließlich drin waren, wurden wir durch eine Persönlichkeit, die Baeyer kannte, aufgefordert, in einem reservierten Zimmer Platz zu nehmen. Dort war eine sonderbare Gesellschaft versammelt, die man für Leute niederen Standes hätte halten können. Auch die Unterhaltung belehrte darüber zunächst nicht. Ich erinnere mich noch, daß einer der Männer einen alten stark riechenden Käse aus der Tasche zog, mit dem dolchartigen Messer, das die Bayern immer tragen, zerlegte und dann seinen Nachbarn zum Konsum anbot. Auf meine Erkundigung nach seiner Person erfuhr ich, daß es ein hoher Offizier sei. Mein Nachbar, den ich nach dem Äußeren auch sehr unterschätzt hatte, war der bekannte, feinfühlige Dichter Lingg. Und so entpuppte sich allmählich die ganze Gesellschaft als hochgeachtete Männer, Künstler, Gelehrte, Offiziere hohe Staatsbeamte, Großkaufleute usw. Ich bin damals zu der Überzeugung gekommen, daß kein Mittel in der Welt existiert, welches ähnlich dem Bier alle Standes-und sozialen Unterschiede verwischt und die Men schen gleich macht.

Ein großer Vorzug von München ist die Nähe des Gebirges. Man konnte schon damals mit der Eisenbahn in einigen Stunden nach Tegernsee oder in die Nähe des Walchensees gelangen, und wir haben die in[72] Bayern recht häufigen katholischen Feiertage des Sommers vielfach zu kleinen Touren in die Berge benutzt. In den Pfingstferien, die länger dauerten, führte uns der Weg in der Regel nach Tirol, weil dort Küche und Wein erheblicher besser waren. Großer Bergsteiger bin weder ich, noch die anderen Mitglieder unseres Kreises gewesen, aber auf mittlere Höhen, wie auf Herzogenstand, Wendelstein haben wir uns öfters hinaufgetraut. Daß auch hier durch ungünstige Umstände Gefahr entstehen kann, hat mich die Besteigung des Kitzbüchlerhorns während eines Pfingstausfluges gelehrt. Die Spitze des Berges war noch mit ziemlich viel Schnee bedeckt. Unsere Gesellschaft bestand aus etwa 5 Personen. Glücklicherweise hatten wir einen Träger, der gleichzeitig als Führer diente. Als wir oben angekommen waren, erkrankte Dr. Boesler, von dem später noch die Rede sein wird, an Bergkrankheit so stark, daß er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Wir haben ihn in unsere Mäntel gewickelt und in den Schnee legen müssen und uns dann selbst in dem eisigkalten Wind durch starke Bewegung, Freiübungen usw. warm halten müssen. Da die Sorge entstand, daß der Patient nicht mehr imstande sein würde, den Heimweg anzutreten, so richteten wir an den Führer die Frage, was nun zu tun sei. Er erwiderte kaltblütig, daß er den Herrn in den Rucksack stecken und bergabwärts tragen werde. Vor dieser sicherlich wenig bequemen Beförderungsweise blieb aber glücklicherweise Dr. Boesler verschont, weil er sich bald wieder so weit erholte, daß er mit unserer Unterstützung den Rückweg machen konnte.

Derartige Ausflüge haben mich im Laufe der 7-jährigen Münchener Periode fast nach allen schönen Punkten von Oberbayern und Südtirol geführt. Manche davon sind mir noch in Erinnerung. Besonders eine Bergfahrt, die ich zusammen mit dem Physiologen Dr. Tappeiner, dem Zoologen Dr. Graf und einem Professor der Anatomie an der tierärztlichen Hochschule zu München Dr. Frank unternahm. Sie ging zunächst per Eisenbahn über den Starnberger See bis Pensberg, wo sich das einzige Kohlenbergwerk in Bayern befindet, und von dort zu Fuß nach Kochel. Hier gerieten wir in die Herbstmanöver bayerischer Truppen, welche die Gegend gänzlich ausgegessen hatten. Es gab schon kein Brot mehr, wohl aber noch reichlich Bier. Quartier mußten wir auf dem Heuboden in Gesellschaft von Soldaten nehmen, wobei es mir passierte, daß ich nachts durch das Heuloch sanft in den darunter gelegenen Kuhstall hinabfiel. Am Abend vorher hatte sich im Gasthause vor unseren Augen eine charakteristische Szene aus dem bayerischen Volksleben abgespielt. In unserer Nähe saß ein Mann, wahrscheinlich Holzfäller, der, wie später bekannt wurde, den Versuch gemacht hatte, die Kellnerin zu betrügen. Diesem Mann flog plötzlich,[73] ohne daß ein Wortwechsel stattgefunden hatte, vom Ausschank her ein leerer Maßkrug an den Kopf. Gleichzeitig trat ein starker Mann aus derselben Ecke hervor – es war der sogen. Zapfbube – prügelte den Getroffenen mit gewaltigen Schlägen und verschwand dann wieder ganz ruhig in die dunkle Ecke des Ausschankes. Der Geprügelte verließ ebenso ruhig die Gaststube und die Sache war erledigt.

Am nächsten Morgen sind wir, nachdem am Brunnen flüchtig Toilette gemacht war, den Kochelberg hinauf, zum Walchensee und von dort immer per pedes bis nach Partenkirchen. Den Führer der kleinen Gesellschaft machte Professor Frank; denn er hatte vor seiner akademischen Laufbahn lange hier als Tierarzt gewirkt und war deshalb mit Land und Leuten auf das Genaueste vertraut. So kamen wir mit der Bevölkerung in enge Fühlung und ich habe damals einen recht guten Eindruck von dieser frischen, tatkräftigen und sich sehr natürlich und frei gebenden Rasse gehabt. Leider ließ die Küche, namentlich in den Gasthäusern zweiten und dritten Ranges, wohin Frank uns führte, viel zu wünschen übrig und die Folge davon war, daß ich mir schon am vierten Tage in Partenkirchen den Magen und Darm gründlich verdarb und allein nach München zurückkehren mußte.

Eine andere Fahrt, die für mich besser verlief, habe ich zusammen mit Dr. Fluegge gemacht, der jetzt Professor der Hygiene an der Universität Berlin ist. Er war vorher praktischer Badearzt gewesen, hatte sich aber dann der frisch aufblühenden Hygiene zugewandt und war nach München gekommen, um bei Pettenkofer zu arbeiten. Wir haben auf der langen Fußtour, die von Tegernsee über den Achensee nach dem Inntal und von dort über Mittenwald, Partenkirchen, Walchensee und Herzogenstand nach Benedictbeuren ging, uns trefflich unterhalten. Er war ein lustiger Gesellschafter, flotter Fußgänger mit offenen Augen für landschaftliche Schönheiten und Eigentümlichkeiten der Bevölkerung. Auch an wissenschaftlichen Gesprächen hat es nicht gefehlt, und ich habe mich damals bemüht, Fluegge von der Wichtigkeit der Pasteur'schen Untersuchungen und von der Bedeutung der Stoffwechselprodukte der pathogenen Mikroben bei den Infektionskrankheiten zu überzeugen.

Im September desselben Jahres fand die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in München statt. Baeyer hatte die Organisation der chemischen Abteilung übernommen und die Folge davon war, daß ich zusammen mit Dr. Wilhelm von Miller von der technischen Hochschule zum Schriftführer ernannt wurde. Die Geschäftsführung geriet aber in einige Schwierigkeiten, weil Frau Baeyer während eines Ferienaufenthaltes im bayerischen Gebirge gerade zu jener Zeit den Herrn Gemahl mit einem Söhnchen, dem jetzigen Professor der[74] Physik zu Berlin Otto von Baeyer beschenkte und infolgedessen der Gatte mit einer kleinen Verspätung bei der Versammlung erschien. Die Tagung war für uns Chemiker recht interessant, weil ungewöhnlich viele Fachgenossen zusammengeströmt waren. Ich wurde hier zuerst bekannt mit: Victor Meyer, C. Liebermann, J. Wislicenus, F. Tiemann, C. Scheibler, C.A. Martius und Peter Gries. Dieser war unstreitig die originellste Persönlichkeit in unserem Kreise, wie man nach dem allerliebsten Nekrolog, den A.W. Hofmann ihm später gewidmet hat, gerne glauben wird. Wegen Überfüllung stieß er in München auf allerlei Unbequemlichkeiten, besonders bei den festlichen Veranstaltungen. Er pflegte dann stumm eine Weile in den Wirrwarr hineinzuschauen und hinterher seinem Gefühl im richtigen kurhessischen Dialekt mit den Worten Luft zu ma chen: »Die Leute verstehen keine Massen zu bewältigen«.

In der chemischen Sektion wurde er mit großer Aufmerksamkeit behandelt und auch zum Vorsitzenden gewählt. Hinterher hat ihm die Münchener Universität noch den Titel eines Dr. phil. h.c. verliehen, denn es war gerade die Blütezeit der Benzolchemie und die von Gries aufgefundenen Reaktionen wurden in ausgiebigster Weise zur Lösung von Stellungsfragen benutzt. Zudem hatte eben die Industrie der Azofarben einen großen Aufschwung genommen. Endlich waren Leute, die wie Gries in einem praktischen Berufe stehen und trotzdem in den Mußestunden vortreffliche wissenschaftliche Untersuchungen anstellen, in Deutschland eine große Seltenheit.

Von den Vorträgen der chemischen Sektion ist mir keiner in Erinnerung geblieben, wie denn überhaupt solche Versammlungen für die Publikation von fachwissenschaftlichen Dingen keine große Rolle spielen. Ihre Bedeutung liegt vielmehr in dem persönlichen Verkehr der Teilnehmer, und in dem Austausch von Erfahrungen, die man der öffentlichen Rede oder Abhandlung nicht anvertraut. Dann geben sie auch den jüngeren Gelehrten eine willkommene Gelegenheit, sich den Alten zu präsentieren und ihre Kunst im Vortrag zu zeigen. Ich bin in späteren Jahren häufig auf die Naturforscherversammlungen gegangen hauptsächlich zu dem Zwecke, jüngere Fachgenossen kennen zu lernen. Bei dem zwanglosen Verkehr wird auch der Grund zu mancher Freundschaft gelegt. Von der Münchener Versammlung her datieren z.B. meine freundschaftlichen Beziehungen zu Victor Meyer und F. Tiemann.

In der ersten allgemeinen Sitzung der Tagung erregte ein Vortrag von Haeckel großes Aufsehen, weil er aus den Fortschritten der Biologie weitgehende Schlüsse für das ganze geistige und sittliche Leben der Welt zog, und mit scharfen Angriffen auf Kirche und staatliche[75] Unterrichtsanstalten verband. Wenige Tage darauf, in der zweiten allgemeinen Sitzung antwortete ihm Virchow und führte in interessanter und geschickter Weise die Theorien und Forderungen Haeckels auf das legitime Maß zurück. Man hatte allgemein den Eindruck, daß nur wenig deutsche Gelehrte in der kurzen Frist von einigen Tagen eine so musterhafte wissenschaftliche Kritik in Form einer populären Rede abfassen könnten.

Natürlich fehlte es bei einer so großen Versammlung in München nicht an mannigfachen Festlichkeiten. Unter anderem hatte der Magistrat der Stadt im alten Rathause eine zwanglose Begrüßung veranstaltet. Dabei wurde auch das politische Gebiet gestreift, was sonst bei diesen Tagungen nicht gerade üblich ist. Ein alter bayerischer Professor hieß nämlich die in ziemlich großer Zahl erschienenen Deutschschweizer herzlich willkommen, knüpfte aber daran die politische Aufforderung, sich von dem Welschtum abzuwenden und dem im neuen Reiche geeinten Deutschtum anzuschließen. Das wurde von den Schweizern höflich, doch recht entschieden abgelehnt mit der zutreffenden Bemerkung, daß die Schweiz nach ihrer politischen und kulturellen Struktur, sowie nach der geschichtlichen Entwicklung es für ihre Pflicht ansehen müsse, mit allen benachbarten Völkern und Staaten in einem freundschaftlichen Verhältnis zu bleiben.

In der chemischen Sektion wurden mein Vetter und ich privatim öfters nach dem Stande unserer Arbeit über das Rosanilin gefragt, mußten aber mit einer gewissen Beschämung gestehen, daß wir darin seit einem Jahre nicht vorwärts gekommen seien. Das mag wohl unsere weiteren Bemühungen in dieser Frage beschleunigt haben; denn im darauffolgenden Wintersemester ist uns tatsächlich ihre Lösung geglückt. Nebenher hatte ich die Untersuchung über die Hydrazinverbindungen zu einem gewissen Ende gebracht, so daß sie als zusammenfassende Abhandlung in Liebigs Annalen erscheinen konnte. Die direkte Veranlassung dazu war meine bevorstehende Habilitation als Privatdozent. Ich wurde dazu von Professor Baeyer geradezu gedrängt, weil inzwischen das neue Institut fertig geworden und bezogen war und deshalb das Bedürfnis nach Privatdozenten deutlicher zutage trat. Zudem hatte ein anderer Kollege, Dr. Aronstein seine Absicht kund getan, Privatdozent in München zu werden. Da er aber ein Mann von nur mittleren Fähigkeiten war, so lag Professor Baeyer viel daran, ihn nicht als ersten Privatdozenten mit dem neuen Institut verbunden zu sehen. Um das zu vermeiden, wurde ich vorgeschoben, obschon ich viel lieber noch eine Weile in meiner unabhängigen Stellung als Privatgelehrter geblieben wäre. Meine Habilitation fand statt am Ende des Wintersemesters im Frühjahr 1878. Da die Universität München den[76] anderwärts erworbenen Doktortitel nicht als vollberechtigt anerkannte, so mußte ich zuvor noch eine Prüfung in Form eines Kolloquiums zur sogen. Nostrifikation des Doktortitels ablegen. Als Examinatoren waren bestellt Baeyer und ein zweiter aus der Liebig'schen Zeit herstammender Professor der Chemie Dr. Vogel, ein sehr unbedeutender Mann.

Da für Baeyer, der mich seit Jahren kannte, die Prüfung nur eine Formfrage war, so stellte er scheinbar in vollem Ernste an mich die Frage: »Herr Doktor, können Sie mir einiges über Hydrazinverbindungen mitteilen?« Für den Entdecker der Hydrazine war die Antwort nicht schwer. Und dann stellte Baeyer mit demselben Ernste an den Kollegen Vogel, der offenbar von den Hydrazinen nie etwas gehört und auch meine Habilitationsschrift nicht gelesen hatte, die Frage: »Sind Sie zufrieden?« Das war der Fall. Vogel ergänzte dieses Geständnis noch durch einige ziemlich törichte Fragen, womit die Prüfung schloß.

Sehr viel schwerer waren die Anforderungen für den Habilitationsakt selbst, denn die Fakultät stellte ein Thema, das nach einer Pause von 3 Tagen in freier etwa 3/4 stündiger Rede behandelt werden mußte. Mein Thema lautete: »Die heutigen Aufgaben der Chemie«. Da ich bis dahin niemals einen größeren öffentlichen Vortrag gehalten hatte, so kann man sich denken, daß ich in der 3-tägigen Frist angestrengt arbeiten mußte, um eine brauchbare Rede zustande zu bringen. Dabei ist mir mein gutes Gedächtnis zustatten gekommen, denn ich konnte den Schriftsatz später in der Aula der Universität fast wörtlich ohne Manuskript vortragen. Außer der Fakultät waren natürlich alle Bekannte aus dem Institut dort versammelt und viele davon haben mich hinterher beglückwünscht, daß ich ohne Stocken den Vortrag zu Ende führen konnte. Diesem folgte noch eine Diskussion über von mir aufgestellte Thesen, an der sich aber nur die Mitglieder der Fakultät beteiligten. Dabei hatte ich einen kleinen Zusammenstoß mit dem Senior der Fakultät, dem Mineralogen Kobell, der aber nach einer kleinen Konzession meinerseits zu einer Einigung führte.

Bei dieser Gelegenheit will ich nicht unterlassen darauf hinzuweisen, daß in München die philosophische Fakultät vernünftigerweise in zwei Sektionen geteilt war, und daß für alle Geschäfte, die uns Naturforscher betrafen, nur die mathematisch-naturwissenschaftliche Sektion in Betracht kam. Ich halte das für einen großen Vorzug gegenüber den preußischen Universitäten, wo die philosophischen Fakultäten nicht geteilt sind und deshalb in toto alle Geschäfte erledigen müssen. Das bringt z.B. in Berlin, wo die Zahl der Ordinarien das halbe Hundert längst überschritten hat, eine recht mühsame Geschäftsführung mit sich, die zahllose, langdauernde Sitzungen nötig macht, und führt von[77] Zeit zu Zeit zu heftigen und sehr überflüssigen Auseinandersetzungen über prinzipielle Fragen zwischen den Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften.

So war ich denn glücklich Privatdozent der Chemie und zwar als Erster der neuen Ära an der Universität München geworden, und im Sommersemester trat die Verpflichtung an mich heran, eine Vorlesung zu halten. Ich wählte als Thema die Teerfarbstoffe und hatte das Glück, eine ziemlich große Anzahl von Zuhörern zu bekommen, weil solche speziellen Vorlesungen damals in München etwas Seltenes waren. Der Vortrag selbst hat mir anfangs rechte Mühe gemacht. Obschon ich an die freie Rede nicht gewöhnt war, habe ich prinzipiell von Anfang an auf die Benutzung eines Manuskripts verzichtet. Das war aber nur möglich, wenn ich vorher den Vortrag vollständig ausarbeitete und ihn dann gut memorierte. Auf diese Weise ist es mir gelungen, schon nach einem Semester eine so große Übung in der freien Rede zu erhalten, daß ich mir später nur noch den Inhalt und die Gedankenverbindung zurecht zu legen brauchte, dagegen die Form in der Vorlesung selbst erfinden konnte. Da man mir häufig gesagt hatte, daß mein Vortrag klar und den Bedürfnissen des Zuhörers angepaßt sei, so glaube ich, das von mir eingeschlagene Verfahren jungen Dozenten empfehlen zu können. Daß man die Materie beherrschen muß, ist ja selbstverständlich, aber das gedankliche Gerippe muß auch dem Redner klar vor Augen stehen. In reiferen Jahren hat es mir auch Freude gemacht, das Mienenspiel der Zuhörer zu beobachten, um herauszufinden, ob der Gegenstand interessiere und ob der Ton richtig gewählt sei. Ferner schien es mir im Eifer der Rede manchmal erlaubt, freie Exkursionen im Nachbargebiete zu unternehmen oder Ideen zu entwickeln, die ich mir selbst von ungelösten Fragen gemacht hatte, und die ich nur als Hypothese darbieten konnte. Wenn der Zuhörer merkt, daß der Redner nicht nur von allgemein anerkannten Dingen, sondern auch von seinen eigenen geistigen Produkten Einiges hergibt, so wird die persönliche Fühlung mit dem Redner enger, die Aufmerksamkeit gespannter und der geistige Gewinn größer.

In der ersten Vorlesung zu München ist mir allerdings der Erfolg dieser Fühlungnahme mit der Zuhörerschaft zunächst nicht beschieden gewesen; denn nach einigen Stunden erschien eine Abordnung bei mir, die in wohlwollendem Ton mir erklärte, daß sie weder den Sinn noch die Worte verstanden hätten wegen allzu starkem Dialekt des Redners. Ich habe über diese Kritik herzlich gelacht und versucht, mich zu bessern, und die Zuhörer haben es mir gelohnt dadurch, daß sie in verhältnismäßig großer Zahl bis zum Ende des Semesters erschienen.[78]

Als zweite Vorlesung habe ich ein viel schwereres Thema gewählt, nämlich ausgewählte Kapitel der theoretischen Chemie. Damals war gerade das bekannte Buch »Moderne Theorien der Chemie« von Lothar Meyer in neuer Auflage erschienen und als glückliche Ergänzung dazu hatte sein Bruder, der Physiker eine ziemlich populäre Darstellung der kinetischen Gastheorie herausgegeben. Diese Bücher habe ich fleißig studiert und versucht, den Inhalt meinen Zuhörern in gedrängterer und noch etwas populärer Form wieder zu geben. Das schien auch zu gelingen, aber in der Folge habe ich einen großen Fehler begangen, indem ich die vorgetragenen Lehren einer Kritik unterzog, um das Bleibende als gesetzmäßig Erkannte zu trennen von allem hypothetischen Beiwerk. Das Ganze lief auf eine Kritik der Atomtheorie nach den damaligen Kenntnissen hinaus. Für mich selbst war dieser Versuch sicherlich sehr belehrend, aber bei meinen Zuhörern habe ich Unheil angerichtet und einige davon konnten bittere Klagen darüber nicht verschweigen: »Wo soll das hin«, sagten sie zu mir, »wenn man nach den Darlegungen eines Professors sich solche theoretischen Kenntnisse mühsam erwirbt, und hinterher erfahren muß, daß vieles doch noch zweifelhaft ist«. Ich habe daraus die Lehre gezogen, daß man in Vorträgen für Studierende mit der Kritik sehr vorsichtig sein muß und am besten nur Dinge bringt, die als sicherer oder vermeintlich sicherer Besitz der Wissenschaft gelten.

Im Frühjahr 1879 wurde Professor Volhard, der Leiter der analytischen Abteilung, als Ordinarius nach Erlangen berufen und auf Vorschlag von Baeyer bot das Kultusministerium in München mir eine außerordentliche Professur an der Universität an, wenn ich gewillt sei, die Funktionen von Volhard im chemischen Institut zu übernehmen. Ich habe mich gerne dazu bereit erklärt und bin am 1. April desselben Jahres zum außerordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät mit einem Gehalt von Mk. 3160. – angestellt worden.

Die Kunde von dieser festen Position und dem er sten Geldverdienst des teuren Sohnes hat in Euskirchen großen Jubel erweckt und mein Vater schrieb sofort einen Glückwunschbrief mit der Bemerkung, daß er mit der Mutter zusammen das Ergebnis mit einer feinen Flasche Wein gefeiert habe. Zugleich erkundigte er sich aber angelegentlich, ob bei der neuen Professur auch auf ein ansehnliches Honorar für Vorlesungen zu rechnen sei, da ihm das Gehalt nicht übermäßig hoch vorkam. Im bayerischen Kultusministerium war man in diesem Punkte allerdings anderer Ansicht; denn der Referent Ministerialdirektor Dr. Voelk hatte mir gesagt, daß man bei diesem glänzenden Gehalt von mir außerordentliche Anstrengung in bezug auf den Unterricht erwarte. Ich habe das alles lachend versprochen, konnte aber die[79] Bemerkung nicht unterdrücken, daß es für den Chemiker Gelegenheit gäbe, sehr viel mehr Geld zu verdienen, als in der akademischen Laufbahn.

Durch die Übernahme der neuen Stellung, die ich natürlich in erster Linie dem Wohlwollen von Baeyer verdankte, erfuhr meine Tätigkeit im Institut eine radikale Änderung. Bis dahin war ich freier Forscher gewesen, ohne jede Verpflichtung für den Unterricht. Dadurch war es mir möglich gewesen, alle für meine wissenschaftlichen Arbeiten nötigen Experimente allein auszuführen. Nur bei der Rosanilinarbeit war ich mit dem Vetter Otto verbunden, und dieses Zusammenarbeiten hatte sich sehr glatt abgespielt. Von nun an konnte ich in dieser Weise nicht mehr wirtschaften, da der größte Teil meiner Zeit durch den praktischen Unterricht in der chemischen Analyse beansprucht war. Die Hilfe von Assistenten auch für die Privatuntersuchungen wurde unentbehrlich. Einen schwachen Versuch dieser Art hatte ich allerdings schon ein Semester vorher gemacht, als ich Dr. Erhardt einlud, mit mir zusammen die gemischten Azoverbindungen, speziell das Phenyl-Azoäthyl zu bearbeiten. Aber von dieser Hilfe habe ich wenig Freude gehabt, da sie in allen entscheidenden Dingen versagte und ich schließlich das Ganze fast allein machen mußte. Ich bin deshalb mit einem gewissen Zagen an die Wahl neuer Mitarbeiter herangegangen und habe auch das Unglück gehabt, bei der Wahl des ersten Privatassistenten einen Mißgriff zu tun; denn ich ließ mich damals durch Empfehlung bewegen, einen Herrn von auswärts, den ich nicht kannte, Dr. Troschke aus Berlin als Assistenten anzunehmen, war aber froh, ihn nach etwa einem Jahre wieder los zu werden, denn er hat mich eher gehindert, als gefördert. Von da an ist mir das Glück hold gewesen. Fast ausnahmslos sind meine Privatassistenten tüchtige, fleißige und gewissenhafte Männer gewesen, deren Hilfe ich mit wärmsten Dank anerkennen muß. Ihre Reihe beginnt mit Magnus Boes ler aus Königsberg, einem vortrefflichen Menschen, der mir zunächst bei der Kaffein-Arbeit geholfen und gleichzeitig seine Doktorarbeit über das Anisoin und Cuminoin unter meiner Leitung ausführte. Bald kam dazu Emil Besthorn aus Frankfurt a.M., ein humoristisch angelegter Herr, den sich deshalb Königs bald für seinen engeren Kneipkreis ausersah. Erheblich größer war die Zahl der Unterrichtsassistenten, die ihren Platz in den großen Arbeitssälen hatten. An ihrer Spitze stand der leider so früh verstorbene Clemens Zimmermann, ein talentvoller und außerordentlich strebsamer Chemiker, auch für den Unterricht in hohem Maße begabt. Er hatte seine Studien unter Volhard absolviert und fing eben mit eigenen Untersuchungen an, als ich in die analytische Abteilung eintrat.

Das periodische System der Elemente kam damals in der anorganischen Chemie immer mehr zur Anerkennung, und so war es natürlich,[80] daß Zimmermann sich Aufgaben zuwandte, die damit im Zusammenhang standen. Dahin gehört die Bestimmung der Dichte des Urantetrachlorids und der spezifischen Wärme des metallischen Urans. Bei besserer Gesundheit hätte er sicherlich die Mineralchemie um viele hübsche Entdeckungen bereichert.

Zwei andere Unterrichtsassistenten, die unter mir ihre Doktorarbeiten anfertigten, waren die Herren Lehnert und Renouf. Der erste hat sich später als Angehöriger des Patentamts in Berlin eine einflußreiche Stellung verschafft und der zweite ist Professor an der John Hopkins Universität in Baltimore geworden. Er war in mancher Beziehung ein Original und durch so große Vergesslichkeit ausgezeichnet, daß ich ihm häufig sagen mußte, welche Präparate in seinen verschiedenen Flaschen und Schalen enthalten seien. Er war einige Jahre älter als ich und mit einer amerikanischen Landsmännin verheiratet, der er alle Sorge um die Behütung der beiden Kinder abnahm, wenn sie Lust bekam, allein einen Ausflug ins Gebirge zu machen. Aber auch er liebte die Berge und hatte einmal das Unglück, bei einer allein unternommenen Besteigung zu stürzen und ein Bein zu brechen. Er blieb 2 Tage dort ohne Hilfe liegen und die Folge war, daß bei der nachträglichen Heilung das Bein eine erhebliche Verkürzung erlitt. Das hat seine Freude am Bergsport aber keineswegs abgekühlt; denn er wurde nun Mitglied des Alpenvereins, schaffte sich Kniehosen an und humpelte eifriger denn je in den Bergen umher.

Zuletzt war auch Krüss, ein Sprosse der bekannten Hamburger Optikerfamilie, in der Abteilung tätig. Er ist ebenso wie Zimmermann frühzeitig zugrunde gegangen und zwar an einer pernitiösen Anämie, die bei jungen Männern in Deutschland außer ordentlich selten vorkommt. Ich vermute deshalb, daß es sich mehr um eine chronische Vergiftung handelte, wahrscheinlich durch Schwefelwasserstoff; denn die Ventilation im Institut ließ zu wünschen übrig und bei der großen Zahl von Praktikanten herrschte in der analytischen Abteilung recht häufig eine schlimme Atmosphäre.

Da an der Universität München nur ein einziges chemisches Institut bestand, so wurde dasselbe nicht allein von Chemikern, sondern noch viel mehr von Apothekern und Medizinern in Anspruch genommen. Das galt namentlich für den anorganischen Teil. Zu meiner Zeit betrug die Zahl der Praktikanten, die allerdings meistens nur halbtägig arbeiteten, in dieser Abteilung etwa 150. Da mir die Aufsicht über das Ganze anvertraut war, so konnte ich dem einzelnen Studierenden immer nur einige Minuten widmen und selbst mit dieser Einschränkung dauerte der Rundgang durch beide Säle etwa zwei Tage. Mein Hauptaugenmerk mußte darauf gerichtet sein, die Assistenten zu einer verständigen[81] Tätigkeit anzuhalten. Außerdem habe ich nicht selten einen größeren Kreis von Studierenden um mich versammelt und ihnen einen kleinen Vortrag gehalten, oder eine Prüfung improvisiert. Besonders die Mediziner waren dafür sehr dankbar. Zimmermann hat dieses System angenommen und mit großer Geschicklichkeit weiter aus geführt.

Nur eine kleine Zahl der damaligen Schüler ist mir dauernd im Gedächtnis geblieben. Dazu gehören in erster Linie Ludwig Knorr und Reisenegger, von denen noch die Rede sein wird, dann ein Herr Ehrensberger, den ich einige Versuche über die Bestimmung von Arsen in Nahrungsmitteln nach der von mir ausgearbeiteten Methode und über die Bestimmung der Salpetersäure als Stickoxyd anstellen ließ. Der junge Mann hatte durch Verstand, Frische und lebhaftes Interesse für wissenschaftliche Dinge auf mich einen besonders guten Eindruck gemacht, und als er die Absicht kund gab, Gymnasiallehrer zu werden, entgegnete ich ihm lachend: Dafür sei er zu schade, er solle bei der Chemie bleiben, und wenn er zu frühzeitigem Verdienst gezwungen sei, so möge er in die Industrie gehen.

Er ist diesem Rate gefolgt und kam durch Vermittlung eines Onkels in den Dienst der Firma Friedrich Krupp. Hier hat er eine rühmliche Laufbahn gemacht; denn er war später ein sehr einflußreiches Mitglied des Direktoriums und hat wesentlich mit dazu beigetragen, die Stahlfabrikation bei Krupp zur höchsten Leistungsfähigkeit zu bringen. Als ich ihn 30 Jahre nach der Münchener Studienzeit in Essen besuchte, konnte er mir mit aufrichtigem Stolze einen Teil der Fabrikation und vor allen Dingen das imposante wissenschaftliche Laboratorium für chemische und physikalische Untersuchungen zeigen. Ich war ihm schon vorher bei den Vorbereitungen zur Errichtung einer chemischen Reichsanstalt begegnet, wo er nicht allein sein persönliches, sondern auch das Interesse seiner Firma an der Förderung der wissenschaftlichen Chemie stets betonte. Er selbst hat sich jetzt von der industriellen Arbeit zurückgezogen und will auf seinem Landsitz in Traunstein (Oberbayern) die Muße des Alters für astronomische Beobachtungen benutzen. Als Student kam er eines Tages von einer kleinen Reise nach seinem Heimatsorte Berchtesgaden stark zerschunden in München wieder an, und als ich ihn scherzhaft frug, ob er sich an einer Rauferei beteiligt habe, erwiderte er, daß er beim Blumensuchen mit einer jungen Dame einen nicht ganz ungefährlichen Absturz erlitten habe. Als ich bei der Wiedererneuerung unserer Bekanntschaft mich nach dem Schicksal dieser jungen Dame erkundigte, erwiderte er lachend, sie sei seine Frau geworden und habe ihn mit einer großen Anzahl prächtiger Kinder beschenkt.

Ein anderer Lehramtskandidat, G. Brandl, ersuchte mich um ein Thema für eine kleine Arbeit, die er beim Lehrerexamen einreichen[82] wollte. Da ich damals gerade von dem Professor der Mineralogie zu Bonn G. vom Rath ersucht worden war, einige von ihm gesammelte Fluormineralien zu analysieren, so ließ ich durch Brandl das alte Wöhler'sche Verfahren für die Bestimmung des Fluors durch Umwandlung in Siliciumfluorid und dessen Absorption in gewogenen Gefäßen vervollkommnen, und wir konnten dann mit gutem Erfolge die gewünschten Analysen durchführen. Das Resultat ist in einer Abhandlung der bayerischen Akademie der Wissenschaften publiziert. Dieser Herr Brandl hat mir später, ohne daß ich es wußte, einen wertvollen Gegendienst geleistet, indem er mich dem Führer der ultramontanen Landtagsmehrheit in München Dr. Daller bestens empfahl und dadurch die Bewilligung eines Neubaues für das chemische Institut zu Würzburg stark beeinflußte.

Auch unter den Medizinern, die ich damals unterrichtete, war einer, der durch Begabung und Interesse für chemische Arbeiten meine besondere Aufmerksamkeit erregte. Er hat sein Verständnis für chemische Probleme später durch eine beachtenswerte Untersuchung über die Mucine bewiesen und ist jetzt der berühmte Professor der inneren Medizin an der Universität München, Friedrich Müller. Für die eigenen Untersuchungen stand mir ein sehr schönes Privatlaboratorium mit Nebenräumen zur Verfügung, in der Größe genau entsprechend den Räumen, die Baeyer benutzte. Hier habe ich alle freie Zeit, die mir der Unterricht ließ, zugebracht, nicht selten auch die Sonntage, wo man im Winter wegen Stillstand der Zentralheizung tüchtig frieren mußte. Dagegen waren die Abende meistens der Erholung gewidmet; denn wer den ganzen Tag über experimentell tätig gewesen ist, pflegt abends zu müde zu sein, um literarische Studien zu treiben.

Die Stadt und die mit ihr eng verknüpfte Behaglichkeit des Lebens lud auch gebieterisch zu Geselligkeit und lustiger Unterhaltung ein. Eine Zeitlang hatten wir sogar im kleinen Kreise die englische Tischzeit angenommen und speisten als Quartett, d.h. Dr. Königs, Dr. Tappeiner, mein Vetter und ich, in dem als vornehm verschrieenen Restaurant Schleich. Die Gesellschaft außer uns bestand aus zwei serbischen Prinzen und dem Präsidenten der bayerischen Reichsratskammer. Wir wurden wegen dieser Gewohnheit als Protzen angesehen. In Wirklichkeit aber war es eine Maßnahme der Zeitersparung; denn wir blieben den ganzen Tag meistens von morgens 8 Uhr bis 51/2 Uhr im Institut, und ich half mir über den Hunger mit einem Butterbrot oder durch vermehrten Tabakgenuß hinweg. Auf die Dauer war aber diese Zeiteinteilung doch zu anstrengend, und wir sind zu der in Deutschland üblichen Mittagsstunde zurückgekehrt. Ja, ich habe diese Gewohnheit sogar in Berlin beibehalten; denn wer mit anstrengender[83] Experimentalarbeit, die meist im Stehen verrichtet wird, Morgens zwischen 8 und 9 Uhr beginnt, hat um 1 oder 2 Uhr das Bedürfnis, eine Ruhepause zu machen, die am besten mit der Hauptmahlzeit verbunden wird. Dann kann man von neuem 4 bis 5 Stunden arbeiten, und das ist nach meiner Erfahrung für den Chemiker die beste Ausnutzung des Tages, da man in der Mittagszeit eine Reihe von Operationen gehen lassen kann, die lange dauern und keine besonders sorgfältige Beaufsichtigung verlangen.

Der Wechsel der Tischzeit brachte für mich auch einen Wechsel der Tischgesellschaft mit sich. In dem Verein der Privatdozenten, der sich von Zeit zu Zeit in behaglichen Zusammenkünften betätigte, hatte ich zahlreiche Vertreter anderer Wissenschaften kennen gelernt und so bin ich zu einer neuen Gesellschaft im Künstlerhause gekommen. Zu ihr gehörten der Philosoph Jodl, der später Professor in Wien war und sich einen guten Ruf in seiner Wissenschaft verschafft hat, dann die beiden Historiker Stieve und von Druffel, beide Westfalen. Auch diese waren wohl unterrichtete und wissenschaftlich verdiente Männer, deren Anschauungen und Ziele mich in mancher Beziehung interessiert haben. Zudem besaß Stieve ein wunderbares Talent, humoristische Reden (sogen. Bierreden) in beliebiger Länge zu halten. Sein sarkastischer Witz und seine Neigung, den alten Professo ren etwas am Zeuge zu flicken, trugen viel zur Belustigung unseres jungen Kreises bei. Wir waren alle unverheiratet, bis Stieve sich eines Tages mit einer Bonnerin verlobte und uns dann zuweilen einlud. Durch die beiden Historiker bin ich auch mit der Malerfamilie Kaulbach in Berührung gekommen, wo es höchst lustig zuging. Als ich mich später in Würzburg verheiratet hatte, war der erste, der auf dem Plan erschien, Freund Stieve, um einmal nach dem Rechten zu sehen, wie er sich ausdrückte. Sie sind jetzt alle drei tot.

Zeitweise habe ich auch, um ganz einfache zuträgliche Nahrung zu bekommen, wieder in einem Bierhaus gegessen, dem sogen. Abentum, wo es gut und billig war, und wo Hunderte von jungen Leuten, besonders viele Künstler, verkehrten. An unserem Tisch war eine kunterbunte Gesellschaft versammelt, Künstler, Gelehrte, Techniker, junge Kaufleute, ja es befand sich sogar ein echter deutscher Prinz darunter. Hier bin ich in nähere Berührung mit zwei Kunstgelehrten gekommen. Der eine war der Privatdozent der Archäologie Dr. Julius. Sein Eifer, die Chemiker in kunstverständige Männer zu verwandeln, steigerte sich soweit, daß er für einen kleinen Kreis von uns in der Glyptothek eine Privatvorlesung hielt. Das hatte sogar praktische Folgen. Ein Künstler, der dazu gehörte, entschloß sich, eine berühmte, aber stark beschädigte Nike zu restaurieren, und ich selbst bin indirekt dadurch[84] mit dem Gipsformator der Museen in Berührung gekommen. Er bat mich um ein Mittel, schwarze Flecke, die spontan beim Aufbewahren seiner Gipsfiguren entstanden, zu beseitigen. Ein Mittel dafür fand ich in der Wirkung des Chlorgases, welches die Flecken, die von Pilzen herrührten, zerstörte, ohne die Figuren sonst zu beschädigen. Der Formator hat das Verfahren im großen Maßstabe angewandt, wozu er sich eine kleine Bude für die Operationen mit dem Chlorgas errichten mußte. Wie lange das Verfahren im Gebrauch geblieben ist oder ob es später von einem besseren ersetzt wurde, vermag ich nicht zu sagen.

Der zweite Kunstgelehrte an dem Biertisch war Dr. Dehio, ein Balte aus Reval. Er ist später durch seine großen und prächtig ausgestatteten Werke über die Geschichte der Architektur ein berühmter Mann geworden, war zuletzt Professor in Straßburg, lebt aber seit einigen Jahren im Ruhestand. Es hat mich sehr gefreut, ihn im letzten Herbst 1917 in Baden-Baden nach langer Pause wiederzusehen und zu erfahren, daß seine Gemahlin eine Schwester von Paul Friedländer sei. Die kriegerischen Ereignisse im Osten hatten ihn so stark bewegt, daß er sich gerade damit beschäftigte, eine öffentliche Propaganda für die Loslösung des Baltenlandes von Rußland und seinen Anschluß an Deutschland ins Werk zu setzen.

Durch den vielfachen Verkehr mit Künstlern und Kunstgelehrten habe ich mehr und mehr Verständnis für die bildende Kunst gewonnen, und mehrfache Reisen nach Italien waren wohl geeignet, diese Einflüsse zu verstärken. Äußerlich gab sich das kund sowohl bei mir, wie auch bei anderen Mitgliedern unseres chemischen Kreises durch fleißigen Besuch der Kunstausstellungen, die im Glaspalast, der direkt neben unserem Institut lag, veranstaltet wurden, und in den letzten Jahren des Münchener Aufenthaltes bin ich auch ziemlich regelmäßig Sonntags nachmittags in den Ausstellungsraum des Künstlervereins unter den Arkaden des Hofgartens gegangen. Man wurde dort recht gewahr, welch' günstige Atmosphäre in München für die Künstler herrschte. Der größte Teil der gebildeten Einwohnerschaft interessierte sich für ihre Werke, nahm teil an ihrer Entwicklung und ihren persönlichen Schicksalen, vermied es aber, sie durch übertriebene Lobhudelei oder durch protzenhafte Heranziehung zu Diners und dergl. zu verderben. Auch das Leben, das die Künstler untereinander führten, bot mannigfache Vorteile. Im allgemeinen hörte man die Lehrer loben, wenn auch die Ansichten der Jungen in bezug auf die Ziele und Mittel der Kunst nicht selten ganz andere waren. Die realistische und in der Freilichtmalerei häufig bis zur Karrikatur übertriebene Malweise, die, wenn ich nicht irre, von Frankreich herkam, begann gerade in München Fuß zu fassen, und ich erinnere mich noch des Aufsehens, das ein Bild[85] des jugendlichen Max Liebermann, »Christus im Tempel«, auf einer Ausstellung in München erregte. Bei denjenigen Leuten, die am alten System festhielten, galt es für eine Verirrung, und von kirchlich gesinnten Organen wurde es als eine Blasphemie bezeichnet. Aber eine große Zahl der jungen Künstler und von ihnen wohl nicht unbeeinflußt auch wir jungen Chemiker sahen darin das ernste Bestreben, die Malerei mehr der Wirklichkeit anzupassen und die geistige Durchdringung des Gegenstandes nicht in einer übertriebenen Idealisierung der Figuren zu suchen.

Mit Recht berühmt waren in München die öffentlichen, von der gesamten Künstlerschaft veranstalteten Festlichkeiten. Ich habe zwei davon besucht, ein Feldlager aus der Zeit des 30-jährigen Krieges, das in dem Walde von Großhesselohe sich abspielte und ein köstliches Bild der bewaffneten Macht vor 400 Jahren gab. Das zweite war ein Maskenfest in München, das leider infolge eines Brandunglücks einen tragischen Abschluß erfuhr. Einer der größten Säle Münchens war durch außerordentlich geschickte Ausbauten in eine Art Jahrmarkt verwandelt, wo man alles genießen konnte, was an Sehenswürdigkeiten bei solcher Gelegenheit geboten zu werden pflegt. Da der Zutritt nur Herren gestattet wurde, die natürlich zum großen Teil durch Masken in Frauen jeden Kalibers verwandelt waren, so hatte die künstlerische Phantasie sich ohne jede Einschränkung bis in die wunderlichsten Auswüchse austoben können. Ich habe nicht einmal in Cöln solche tolle karnevalistische Ausgelassenheit gesehen wie bei diesem Feste, an dem die Künstler bis ins höchste Alter hinein ziemlich vollständig versammelt waren. Eine köstliche Maskenidee in vortrefflicher Ausführung ist mir in Erinnerung geblieben. Der bekannte Maler Piglheim machte einen Prinzen natürlich mit Gefolge und ließ sich von dem Komitee rundführen, selbstverständlich ganz in der Form, wie sie bei solchen prinzlichen Besuchen üblich ist. Kurze Zeit darauf erschien ein wirklicher bayerischer Prinz, der genau ebenso empfangen wurde. Zum großen Spaß der ganzen Versammlung stießen nun die beiden Züge zusammen. Der wirkliche Prinz hatte aber Humor genug, den Pseudokollegen freundlich zu begrüßen und sie setzten zusammen die Besichtigung fort. Leider wurde das Fest in ziemlich später Stunde durch ein furchtbares Unglück gestört. Etwa ein Dutzend Schüler der Akademie der Künste machten eine Eskimogruppe. Sie hatten sich für den Zweck eine besondere Hütte gebaut und Eskimoanzüge angelegt, die ganz aus Werg hergestellt waren. Leichtsinnigerweise hatte man versäumt, diesen Stoff chemisch zu imprägnieren und dadurch unbrennbar zu machen. Auch die Hütte selbst war mit brennbaren Stoffen jeder Art erfüllt. Mit ähnlichem Leichtsinn war übrigens die Mehrzahl der[86] Bauten errichtet und da überall geraucht wurde, so hatten wir Chemiker sofort das Gefühl der höchsten Feuersgefahr, und ich erinnere mich, daß wir uns ziemlich frühzeitig in einen geschützten Bierkeller zurückzogen und nur von Zeit zu Zeit wieder das Treiben im Hauptsaale uns anschauten. Plötzlich hieß es, die Eskimos sind am Brennen, und in der Tat sahen wir diese armen Menschen brennend herumlaufen. Sie wurden zwar außerhalb ihrer Hütte ziemlich rasch gelöscht, und einige davon glaubten sich nach der überstandenen Gefahr durch einen reichlichen Trunk Bier entschädigen zu sollen, aber die Verwundungen waren doch so schwer, daß sie meines Wissens in den nächsten Tagen alle gestorben sind. Glücklicherweise konnte das Feuer in der Eskimohütte gelöscht werden. Hätte es um sich gegriffen und die benachbarten sehr brennbaren Gegenstände erfaßt, so wären viele Hunderte von Menschen umgekommen; denn die Zugänge zum Saal waren sämtlich durch die Ausbauten so beengt, daß die große Menschenzahl unmöglich sich hätte retten können.

Bei allen solchen Festlichkeiten sollten die Aufsichtsbehörden in rigoroser Weise stets verlangen, daß alle zur Bekämpfung einer etwaigen Feuersgefahr nötigen Maßregeln getroffen sind. Das Publikum ist geneigt, in derartigen Anordnungen der Behörde Willkür und kleinliche Belästigung zu erblicken; aber wer einmal ein Brandunglück wie damals auf dem Maskenfest in München erlebt hat, und wer wie wir Chemiker die rasche Entwicklung eines Brandes kennt, der wird meiner Ansicht gerne beipflichten.

Neben der bildenden Kunst spielten in München auch Musik und Theater eine große Rolle, und ich muß gestehen, daß ich viel Genuß von beiden gehabt habe.

Das Klavierspiel hatte ich leider schon in Straßburg vernachlässigt, und in München wagte ich nicht, wieder anzufangen, weil in unserem Hause ein Professor der Musik wohnte, der als Virtuose galt. Dazu kam das Bewußtsein, daß man in großen Mietshäusern durch mittelmäßiges Spiel vielen Leuten zur rechten Plage werden kann. Ich zog es deshalb vor, gute Musik von Zeit zu Zeit anzuhören durch den Besuch der ausgezeichneten Odeonkonzerte oder der königlichen Oper. Diese verfügte damals über vorzügliche Kräfte. Besonders gepflegt wurde die Wagnersche Musik, und obschon die alten klassischen Werke von Mozart, Beethoven, Maria von Weber, Lortzing usw. meinem Verständnis näher lagen, so haben mir doch die großen Opern Wagners z.B. der Ring der Nibelungen in der vortrefflichen Münchener Darstellung gewaltigen Eindruck gemacht. Dieser steigerte sich noch bei einem Besuch in Bayreuth, den ich mit mehreren Freunden später von Erlangen aus unternahm, und wo wir einer Aufführung des Parsival beiwohnten.[87]

In München glänzte damals in den Wagner-Opern das Ehepaar Vogel am meisten, aber auch den alten Kindermann mit seinem unverwüstlichen kräftigen Bariton, der mit dem Münchener Publikum wie mit alten Bekannten verkehrte, wird kein Zuhörer vergessen haben.

Noch mehr Genuß als von der Oper habe ich gehabt vom guten Schauspiel, wie es ebenfalls in München gepflegt wurde. Es bestand an der Münchener Bühne die gute Gewohnheit, von Zeit zu Zeit eine Reihe von Dichtungen desselben Meisters zu ermäßigten Preisen aufzuführen. Eine solche Serie, welche die Königsdramen Shakespeares umfaßte, war in ihrer Wirkung so gewaltig für uns junge Leute, daß darüber die Experimentalarbeit im Laboratorium für mehrere Wochen eine ernstere Störung erhielt. Ich wurde von manchen Szenen so ergriffen, daß mir die hellen Tränen über das Gesicht flossen, und daß ich die Umgebung gänzlich vergaß. Diese starke Empfindung für dramatische Reize ist mir bis ins reifere Alter geblieben, und meine spätere Frau hat mir mehr als einmal gesagt, mein Mangel an Selbstbeherrschung im Theater sei für sie direkt unbequem.

Bei den Besuchen von Theater, Konzerten und ähnlichen Lokalen, wo die Menschen dicht zusammen sitzen, kann es dem Chemiker leicht passieren, daß er Anstoß erregt durch die schlechten Gerüche, die sich in seinen Kleidern oder auch in Haar und Haut festgesetzt haben. Auf den billigen Plätzen, die wir als junge Leute besuchten, ist mir das nie verübelt worden, aber einen Parkettplatz in der Münchener Oper habe ich einmal aufgeben müssen, weil die Nachbarschaft zu stark durch die von mir ausströmenden Dünste belästigt wurde. Auch in Privatgesellschaft sollte der Chemiker auf diese Möglichkeit achten und falls er gerade mit starkriechenden Stoffen zu tun hat, auf die Reinigung des Körpers und des Anzugs besondere Sorgfalt verwenden.

Leider kam der Sport bei der Münchener Lebensweise zu kurz. Wir hatten dazu keine Zeit und waren auch abends zu müde. Einen gewissen Ausgleich boten allerdings die Herbstferien, die ich teilweise stets in Euskirchen zubrachte und zusammen mit meinem Vater fleißig für die Feldjagd ausnutzte.

Im geselligen Verkehr, soweit er sich in der Familie abspielte, habe ich niemals viel geleistet, teils aus Bequemlichkeit, teils wegen einer gewissen Ungeschicklichkeit im Verkehr mit Damen. Gelegenheit dazu war übrigens in München genug gegeben; denn Frau Baeyer führte ein großes Haus, veranstaltete von Zeit zu Zeit hübsche Feste und gab sich die größte Mühe, uns junge Chemiker dazu heranzuziehen. Sie spielte bis zu gewissem Grade überhaupt die Mutter des Laboratoriums und war stets zur Hilfe bereit, wenn jemand von uns durch Krankheit oder andere Ursachen in Not geriet. Im Hause bei ihr habe ich auch[88] eine große Anzahl interessanter Menschen kennen gelernt. Vor allen Dingen lud sie uns immer zu Tisch, wenn auswärtige Chemiker zu Besuch kamen. Nach Art hilfreicher und tatkräftiger Damen hätte Frau Baeyer uns auch gar zu gerne verheiratet, worauf sie um so mehr glaubte rechnen zu dürfen, als sie einen Kreis von hübschen und liebenswürdigen jungen Damen um sich zu versammeln wußte. Soweit ich unterrichtet bin, ist es ihr aber nicht gelungen, außer der eigenen Tochter eine dieser Fräuleins an einen chemischen Mann zu bringen. Die junge um Frau Baeyer versammelte Chemie war damals durchgängig unbeweibt, und es sind auch auffallend viele von ihnen in diesem Zustand geblieben, nicht zum Nutzen ihrer eigenen Person oder der Wissenschaft.

Meine Arbeiten über die Hydrazine und das Rosanilin hatten auswärts Anerkennung gefunden. Das zeigte sich zuerst in einem Ruf, den ich im Frühjahr 1880 an das Polytechnikum zu Aachen erhielt. Landolt war von dort an die Landwirtschaftliche Hochschule in Berlin berufen worden und an seiner Stelle sollten zwei Ordinarien für anorganische und organische Chemie ernannt werden.

Die anorganische Lehrstelle mit der großen Experimentalvorlesung hatte man nach dem Beschlusse des Aachener Lehrerkollegiums dem langjährigen Assistenten des Instituts Professor Classen zugedacht und die Professur für organische wurde mir vom Kultusministerium in Berlin angeboten. Um mich genau über die Stelle zu unterrichten, reiste ich nach Aachen hin und verhandelte mit den Fachgenossen Professor Stahlschmidt und Professor Classen, sowie mit dem Direktor des Polytechnikums Herrn von Kaven. Selbstverständlich besuchte ich auch Landolt, der mich im Bett empfing, weil er an starkem Podagra litt. Für das chemische Institut war gerade ein prächtiger Neubau errichtet worden, weil die Aachen-Münchener Feuerversicherungsgesellschaft große Mittel zur Verfügung gestellt hatte. Aber die Betriebsmittel waren verhältnismäßig gering. Man wollte mir in dieser Beziehung in Aachen keine Sicherheit gewähren, und die ganze Atmosphäre an dem Polytechnikum erschien mir so wenig anziehend, daß ich trotz des lebhaften Wunsches meiner Mutter, mich wieder in der Nähe zu haben, den Ruf kurzweg ablehnte. Nun erlebte ich das Höchstsonderbare, daß nach etwa sechs Wochen der Ruf von Berlin aus erneuert wurde und daß der betreffende Referent im Kultusministerium Dr. Wehrenpfennig mir schrieb, ich habe gewiß die Absicht des Ministeriums nicht richtig verstanden. Wie ich später erfuhr, hatte er inzwischen mit seinem Freunde Dr. von Brüning aus Frankfurt a.M. über meine Berufung gesprochen und sich beklagt, daß ich den schönen Ruf in so kühler Weise abgelehnt habe. Als dieser ihm aber erwiderte, daß ich größere Ansprüche machen könne, als man mir geboten habe,[89] entschloß man sich zu einem zweiten Versuch, mich zu gewinnen. Ich wurde dann auch in Berlin sowohl von Wehrenpfennig wie von Landolt, der inzwischen übergesiedelt war, in der liebenswürdigsten Weise empfangen und man versprach, allen meinen Wünschen entgegenzukommen. Aber die Abneigung gegen Aachen war bei mir einmal vorhanden, und da auch Baeyer mir nicht im geringsten zur Übersiedlung au das Polytechnikum riet, so habe ich zum zweiten Male abgelehnt und diesen Entschluß auch keinen Tag bereut. Statt meiner ist dann Professor Michaelis dorthin gekommen.

Zwei Jahre später wurde die chemische Professur an der Universität Erlangen wieder frei, weil Vol hard als Nachfolger von Heinz nach Halle ging. Ich erhielt den Ruf und nahm ihn an. Der Ort hatte zwar wenig Anziehendes, aber es handelte sich doch um ein Ordinariat an einer Universität und das Institut war durch einen Neubau verhältnismäßig gut ausgestattet.

Ich bin bei einem Erkundigungsbesuch in Erlangen auch von den Kollegen sehr freundlich empfangen worden, und Volhard gab sich alle Mühe, mir die Vorteile der neuen Stellung klar zu machen.

Bevor man mich in München entließ, mußte ich natürlich einige Festlichkeiten über mich ergehen lassen. So veranstaltete die Chemische Gesellschaft, deren Präsident ich war, einen schlichten Abschiedsabend, für den Königs das früher erwähnte Guanolied dichtete. Aber auch die Studierenden wollten sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, einen Kommers abzuhalten. Nach den Erfahrungen gelegentlich des Rufes nach Aachen, wo ich von betrunkenen Chemikern beinahe Prügel erhalten hatte, war ich nicht sehr geneigt, mich dieser Möglichkeit nochmals auszusetzen und erst die Drohung, daß ich durch Ablehnung die chemische Jugend, mit der ich auf sehr gutem Fuße stand, vor den Kopf stoßen würde, machte mich williger. So fand denn wirklich ein Kommers auf einem Bierkeller statt, der für mich ohne unbequemen Zwischenfall verlief, weil ich mich frühzeitig empfahl. Aber am nächsten Morgen mußte ich doch erfahren, daß man einige junge Leute, die mit mir nach Erlangen gehen wollten, feierlich aus dem Lokal hinausgeworfen hatte.

Ich zog nun anfangs April an die fränkische Hochschule und der Zufall wollte, daß in Nürnberg in dasselbe Abteil des Schnellzuges, wo ich saß, Fräulein Agnes Gerlach, meine spätere Frau, mit ihrem Vater einstieg, und wir also zusammen in Erlangen ankamen.

Die Einquartierung in Erlangen war nicht ganz leicht. Zunächst fehlte es an einer passenden Wohnung, und auch die Gasthäuser der armen Stadt boten kein bequemes Unterkommen. Ich habe mich deshalb zuerst in dem geräumigen Sprechzimmer des chemischen Instituts[90] niedergelassen, wo ein sehr brauchbarer Laboratoriumsdiener namens Griesinger für meine Sachen sorgte. Mit der Beköstigung war ich allerdings auf das Gasthaus angewiesen, wo ein größerer Kreis von Professoren und Privatdozenten sich zu einer Tischrunde vereinigt hatte. Da ich inzwischen aber zehn Jahre Gasthausleben hinter mir hatte, so fühlte ich das Bedürfnis, einen eigenen Haushalt zu beginnen. Zu dem Zweck hatte ich mir schon in München die Möbel bestellt. Um mich dabei vor Übervorteilung zu schützen, war meine Schwester Emma mit ihrer Tochter Hedwig eigens von Rheydt nach München gekommen und von Frau Baeyer, bei der sie Besuch machten, sofort als Logiergäste aufgenommen worden. Das Wohnungsprovisorium in Erlangen dauerte nicht allzu lange. Nach etwa zwei Monaten trafen alle Möbel ein und mit ihnen auch meine erste Haushälterin, eine Witwe aus Westfalen, die von meiner Schwester Bertha und meiner Mutter ausgesucht worden war. So zog ich denn in die erste mit einem selbständigen Haushalt eingerichtete Wohnung in eines der wenigen vornehmen Häuser Erlangens, die früher den Beamten des markgräflichen Hofes gedient hatten. Die Wohnung enthielt einen großen Saal mit Marmorfußboden und Stuckwerk im Rococostil. Er wird später noch bei der Besprechung meiner Arbeiten zu Ehren kommen; denn ich habe darin die Riechversuche mit Mercaptan ausgeführt.

Inzwischen hatten die Arbeiten im Laboratorium und die Vorlesungen begonnen. Zum Glück waren mir von München zwei prächtige junge Männer, Knorr und Reisenegger, gefolgt, die zwar noch nicht promoviert hatten, denen ich aber ohne Bedenken Assistentenstellen übertragen konnte. Wir sind rasch Freunde geworden, und da es mir zu langweilig war, allein zuhause zu essen, so habe ich diese beiden jungen Herren eingeladen, wenigstens mittags meine Tischgenossen zu sein. Sie haben das gerne getan, weil meine Haushälterin als Köchin Vortreffliches leistete und auch an gutem Wein kein Mangel herrschte.

Beide hatten ihre analytische Ausbildung unter meiner Leitung in München erhalten, und Knorr war auch schon mit der Anfertigung einer Dissertation über das Piperylhydrazin beschäftigt, als wir in Erlangen einzogen. Reisenegger hat bald nachher von mir als Thema für die Dissertation »Die Reaktion zwischen Phenylhydrazin und den Ketonen« erhalten. Beide wurden in Erlangen mit gutem Erfolg promoviert. Reisenegger ist noch einige Zeit als Assistent geblieben, ging aber dann in die Industrie und zwar zu Meister Lucius & Brüning in Höchst a.M. Er stammt aus Oberbayern, wenn ich mich recht erinnere, aus Murnau, wollte ursprünglich Offizier werden und hatte das Kadettenhaus in München absolviert. Infolge eines körperlichen Schadens war er aber zur Chemie übergegangen. Er ist in Höchst[91] durch alle Stufen des technischen Chemikers bis zum Mitglied des Direktoriums hindurchgegangen und jetzt im reiferen Alter vor einigen Jahren als Professor der Technologie an der technischen Hochschule zu Charlottenburg der Nachfolger von Witt geworden.

Länger ist Ludwig Knorr bei mir geblieben, da er von vornherein sich für die akademische Laufbahn entschied. Er entstammt einer Münchener wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus dem bekannten Geschäft von Angelo Sabadini in der Kaufingerstraße und war schon in der Jugend nicht allein durch Klugheit, experimentelle Geschicklichkeit und Redegewandtheit, sondern auch durch besondere persönliche Liebenswürdigkeit ausgezeichnet. Nebenher huldigte er allem möglichen Sport, tanzte vorzüglich und spielte schon während der Münchener Zeit in der dortigen Gesellschaft z.B. auch im Hause Baeyers eine bedeutende Rolle. Unter anderem gelang es ihm trotz seiner Jugend und seiner noch unfertigen Laufbahn, das hübsche, viel umworbene Fräulein Elisabeth Piloty, Tochter des großen Historienmalers in München zu gewinnen. Diese wurde schon im Frühjahr 1884 seine Gattin. Das Ehepaar ist dann später mit mir nach Würzburg übergesiedelt, und da ich von ihnen bis heute viel herzliche Freundschaft erfahren habe, so werde ich später auf sie zurückkommen.

In Erlangen trafen wir im Laboratorium den Privatdozenten der Chemie Dr. Vongerichten, einen geborenen Pfälzer, der vorher eine Zeitlang im Baeyer'schen Laboratorium gearbeitet hatte und mir deshalb gut bekannt war. Es hat mich gefreut, ihm einen Platz in dem hübsch eingerichteten Privatlaboratorium überlassen zu können, wo er seine wichtigen Versuche über die Verwandlung des Morphins in Phenanthren ausführte und damit für die Chemie des Alkaloids eine neue Periode eröffnete. Auch zu ihm bin ich in ein recht freundschaftliches Verhältnis getreten. Aber nach etwa drei Semestern verließ er die Universität und trat gleichfalls in die chemische Fabrik von Meister Lucius & Brüning in Höchst a.M. ein, wo er zunächst im wissenschaftlichen Laboratorium Verwendung fand. Seine Anstellung hat sich für die Fabrik sehr gelohnt, denn sie ist dadurch indirekt in den Besitz des Antipyrinpatentes gelangt.

Studierende aus der früheren Zeit waren sehr wenig im Institut vorhanden, da Volhard, dem man allzu große Strenge in den Examinas nachsagte, nicht anziehend gewirkt hatte.

Die Abhaltung der großen Experimentalvorlesungen hat mir zuerst ziemlich viel Mühe gemacht; denn die zahlreichen Versuche, die dabei unentbehrlich sind, erfordern sehr genaue Vorübung, sowohl für den Professor wie für den Assistenten, und obschon das gute Buch von K. Heumann über Vorlesungsexperimente schon existierte, so habe[92] ich es doch für nötig gehalten, noch ein besonderes derartiges Buch für meine Vorlesungen mit allen Einzelheiten anzulegen. Das ist dann mitgezogen nach Würzburg und Berlin und selbstverständlich im Laufe der Zeit immer reichhaltiger geworden. Auch im Laboratorium lag der ganze Unterricht auf meinen Schultern, da mir nur junge und wenig geübte Assistenten zur Verfügung standen. Dazu kamen noch die Prüfungen und die Fakultätsgeschäfte und außerdem selbstverständlich die eigenen Untersuchungen.

Leider waren die technischen Einrichtungen des Instituts, vor allen Dingen die Ventilation ungenügend und sowohl ich, wie meine Assistenten haben besonders bei den häufigen Arbeiten mit Chlorphosphor darunter sehr gelitten. Ich werde auf diese Ventilationsfrage bei der Besprechung des Würzburger und Berliner Neubaues ausführlich zurückkommen.

Im Laufe von einigen Semestern wurde der Besuch des Laboratoriums wieder befriedigend. In der analytischen Abteilung hatten sich ziemlich viele Apotheker, einige Mediziner und auch Chemiker eingefunden und die kleine organische Abteilung war schon nach zwei Semestern so überfüllt, daß ich einen außer Betrieb gesetzten Teil des alten Gebäudes wieder in Benutzung nehmen mußte.

Von den neu hinzugekommenen Chemikern verdienen drei besondere Erwähnung, Dr. Ernst Täuber, ein Schlesier, der mir als Privatassistent bei der Bearbeitung der Acetonbasen geholfen hat; dann Kužel, der zuletzt Unterrichtsassistent in der analytischen Abteilung war, und mit dem ich über die Hydrazine der Zimtsäure, das Indazol und Benzoylaceton gearbeitet habe; endlich Julius Tafel, der erst die Isomerie von Indazol und Isindazol untersuchte und in Würzburg an meinen Zuckerarbeiten teilnahm.

Täuber kam später an das technologische Institut zu Berlin und ist auch Mitglied des Patentamtes geworden. Kužel, ein sowohl körperlich wie geistig bevorzugter Mann, hat in der Fabrik von Meister Lucius & Brüning eine recht erfolgreiche Tätigkeit ausgeübt, ist aber später nach seiner Heimatstadt Wien zurückgekehrt und hat sich in der Elektrotechnik durch die Darstellung von Metallfäden aus kolloidalem Metall einen Namen gemacht.

Julius Tafel ist der akademischen Laufbahn treu geblieben. Er wurde in Würzburg Privatdozent und später als Nachfolger von Hantzsch ordentlicher Professor und Direktor des Instituts. Leider zwang ein Lungenleiden ihn frühzeitig, seine erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeiten, besonders die elektrolytische Reduktion organischer Verbindungen, aufzugeben und ausschließlich seiner Gesundheit zu leben.

Von sonstigen Mitarbeitern erwähne ich noch O. Bülow, den Vorlesungsassistenten Koch, der das Trimethylendiamin und die Synthese[93] von Harnstoffen aus solchen Diaminen bearbeitete, ferner Elbers, der die ersten Hydrazinosäuren darstellte und Hess, der an der Synthese von Indolderivaten aus Hydrazin teilnahm, dann Hegel, einen Enkel des Philosophen, jetzt Mitglied des Patentamtes, Roese und endlich Antrick, z. Zt. Direktor der chemischen Fabrik auf Aktien vormals Schering Berlin. Ein gewisse Ausnahmestellung nahmen ein C. Paal und O. Hinsberg, weil sie über Thematas arbeiteten, die nicht von mir gestellt waren, aber dabei gerne theoretischen und experimentellen Rat und Hilfe von mir annahmen. Der erste hat damals seine interessanten Versuche über das Acetonyl-Aceton und seine Verwandlung in Furanderivate ausgeführt, ist später in Erlangen und dann auch in Leipzig als Nachfolger von E. Beckmann Professor für pharmazeutische und angewandte Chemie geworden. Hinsberg kam von Göttingen und hat in Erlangen die Chinoxaline entdeckt. Seine Publikation, die aus dem Erlanger Institut datiert war, hat mir einen Angriff von G. Körner in den Abhandlungen der römischen Akademie eingetragen. Körner behauptete dort, er habe das Chinoxalin vor Hinsberg dargestellt und mir bei einem Besuche in Mailand davon mündliche Mitteilung gemacht. Ich habe auf den Vorwurf Körners, der viel zu spät zu meiner Kenntnis kam, öffentlich nicht geantwortet, wohl aber habe ich an ihn privatim geschrieben und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß seine Klage durchaus unberechtigt sei. Ich selbst konnte mich in keiner Weise an eine solche Mitteilung Körners erinnern; aber selbst wenn diese wirklich geschehen ist, so hätte Körner mehrere Jahre Zeit gehabt, seine Beobachtungen zu publizieren. Nach einer so langen Frist aber auf eine angeblich private Äußerung hin, die sich in keiner Weise prüfen läßt, einen Prioritätsanspruch zu gründen und auch noch eine Anklage wegen Indiskretion gegen einen Fachgenossen zu erheben, ist eine sehr bedenkliche Art der Polemik, die gewiß kein vernünftiger Naturforscher anerkennen wird. Ich kann hier nur bezeugen, daß die Arbeit von Hinsberg auch nicht im geringsten durch die angebliche Körner'sche Beobachtung beeinflußt war.

Wenn ich noch zufüge, daß ich in Erlangen die Osazone der Zucker auffand und damit die Grundlage für meine weiteren Zuckerarbeiten schuf, daß ich ferner durch Behandlung der Methylharnsäuren mit Chlorphosphor die ersten Oxypurine erhielt, daß ferner L. Knorr das Antipyrin entdeckte, wobei er die schon von mir flüchtig beschriebene Reaktion zwischen Phenylhydrazin und Acetessigäther in sehr sinnreicher Weise benutzte, so wird man den Eindruck bekommen, daß wir fleißig bei der Arbeit waren. Nur die Abende blieben der Geselligkeit vorbehalten.

Die Stadt bot wenig, hier und da ein Konzert, das von musikliebenden Männern veranstaltet wurde. Wir hatten einmal bei solcher Gelegenheit[94] das Vergnügen, Bülow mit seinem vortrefflichen Orchester in Erlangen zu hören. Dann gab es zuweilen auch eine Vorstellung in dem alten markgräflichen Theater, das jetzt der Stadt gehörte und wo eine Nürnberger Truppe zu gastieren pflegte. Wollte man mehr von diesen Genüssen haben, so mußte man nach dem nahe gelegenen Nürnberg fahren.

Die Enge der kleinen Stadt führte die Angehörigen der Universität zu innigem Zusammenschluß. Der Familienverkehr wurde eifrig gepflegt. Ich selber habe bei meinem Freunde Wilhelm Leube und seiner Gemahlin Natalie, einer Tochter des ausgezeichneten Chemikers Adolf Strecker, viel davon profitiert. Selbstverständlich verlangte Frau Leube von ihren Freunden auch, wenn es nötig war, tätige Hilfe bei geselligen Veranstaltungen, und so mußte ich bei einem Ball, den Leube als Prorektor der Universität gab, die Herstellung einer Riesenbowle übernehmen. Ich habe die Gelegenheit benutzt, um einen karnevalistischen Aufzug zu veranstalten, der auf eine Verherrlichung des Weines hinauslief. Die Hauptfigur war dabei der starke, blühende Diener des Instituts Griesinger, der als Küfermeister auftrat und die Bowle in einem stattlichen Faß auf geschmücktem Handwagen in den Ballsaal hineinfuhr. Auf dem Faß saß als Bacchus verkleidet ein hübscher zehnjähriger Knabe, der Sohn des Chirurgen Heinecke, und um das Faß verteilt saßen die drei Töchter Leubes als Nymphen. Beim Umzug der Gruppe stimmte die ganze Gesellschaft das bekannte Rheinweinlied an: »Bekränzt mit Laub den lieben, vollen Becher ....« Die Bowle, die ich aus 150 Flaschen Wein komponiert hatte, fand Beifall und war in wenigen Stunden ausgetrunken.

Am häufigsten trafen wir Unverheirateten uns natürlich im Gasthaus, wo ein sehr behaglicher Ton herrschte.

Von den jungen Medizinern sind mir am nächsten getreten die beiden Assistenten Leubes Penzoldt und Fleischer. Mit dem ersten habe ich auch einige Versuche ausgeführt, besonders diejenigen über die Empfindlichkeit des Geruchsinns. Er ist jetzt ordentlicher Professor der inneren Medizin in Erlangen. Weniger glücklich hat sich das Schicksal von Fleischer gestaltet.

Unter den älteren Medizinern war Leube wohl die hervorragendste Persönlichkeit. Sein Ruf als Arzt bei Krankheiten des Verdauungstraktus führte zahlreiche Patienten, darunter manche interessante Menschen, in die Erlanger Klinik.

Gerne erinnere ich mich auch an die anderen Mediziner, den pathologischen Anatomen Zenker, den Physiologen Rosenthal, den Chirurgen Heinecke, den Frauenarzt Zweifel und vor allem an den Senior der Fakultät, den Anatom J.v. Ger lach, meinen späteren lieben Schwiegervater. Er spielte in der medizinischen Fakultät eine[95] große Rolle nicht allein wegen seines wissenschaftlichen Ansehens und seiner Verdienste als Lehrer, sondern auch wegen seiner liebenswürdigen Persönlichkeit und seiner Bemühungen um das Wohl und Ansehen der Fakultät.

Uns Chemikern recht nahe stand der außerordentliche Professor der Pharmakologie Filehne, der die fieberstillende Wirkung des Antipyrins zuerst feststellte und seine Einführung in die praktische Medizin besorgte.

Von den Juristen ist Professor Marquardsen als Politiker in der Öffentlichkeit am bekanntesten geworden. Er gehörte viele Jahre sowohl zum Reichstag, wie zum bayerischen Landtag. Ich habe später wiederholt in Berlin die Ehre und das Vergnügen gehabt, den alten erfahrenen, klugen und lebenslustigen Herrn in meinem Hause zu sehen. Solange meine Frau lebte, brachte er auch zuweilen seine Familie mit, die in Erlangen mit Gerlachs sehr befreundet war. Der zweite Jurist, mit dem ich öfter in Berührung kam, war der Schwabe Hoelder, der später nach Leipzig gekommen ist.

Die Theologie war in Erlangen nur durch eine evangelische Fakultät vertreten, und diese betonte mit größter Entschiedenheit ihren rein lutherischen Charakter, so daß sie einem Vertreter der pfälzischen reformierten Gemeinden die Mitgliedschaft versagte. Die Fakultät genoß in der kirchlichen Welt einen guten Ruf. Zeugnis davon gab die große Anzahl junger Theologen aus Norddeutschland, die hier wenigstens einen Teil ihrer Studien absolvierten und gleichzeitig von der sehr billigen, aber auch sehr einfachen Lebensweise in der süddeutschen kleinen Stadt Nutzen zogen. Die Gewohnheit junger Theologen, sich frühzeitig zu verloben, wirkte anziehend auf heiratslustige Mädchen, und so war Erlangen das Refugium von mehr als 100 Pfarrerswitwen geworden, die hofften hier ihre Töchter an den Mann zu bringen. Um sich darüber lustig zu machen, hatte eine lose Verbindung von alten, etwas verbummelten Korpsstudenten, die glaubten in Erlangen leichter das Examen bestehen zu können, sich den Namen »Pfarrerstöchter« zugelegt.

Die philosophische Fakultät war im Gegensatz zu Würzburg und München nicht geteilt und ließ sich ohne sichtbares Widerstreben von ihrem Senior, dem Historiker Hegel, Sohn des Philosophen, in wichtigen Dingen gerne leiten. Von den Naturforschern erwähne ich den Physiker Lommel, einen verständigen und behaglich veranlagten Pfälzer, ferner den Botaniker Rees, der unter de Bary eine vortreffliche Arbeit über die Hefen ausgeführt hatte, aber in Erlangen sich auf die Lehrtätigkeit und auf gesellige Bemühungen beschränkte, dann den talentvollen und witzigen Zoologen Selenka, der später mit seiner[96] Frau große Reisen auf Java ausführte, den sehr verdienten Mathematiker Noether, seinen äußerst komischen Spezialkollegen Jordan und endlich den Professor der Pharmazie und angewandten Chemie Albert Hilger. Dieser stand mir natürlich am nächsten, und wir haben auch zusammen ein chemisches Kolloquium eingerichtet. Hilger besaß damals den Ehrgeiz, sich mit rein chemischen Problemen zu befassen und hatte für den Zweck auch eine neue Auflage des bekannten Werkes von Husemann über Pflanzenstoffe herausgegeben. Da ich aber bald zu der Überzeugung kam, daß für diese Dinge seine Begabung und Ausbildung nicht ausreichten, so riet ich ihm, sich mehr auf praktische Dinge, namentlich auf die Nahrungsmittelanalysen zu werfen. Er hat das auch getan und besten Erfolg gehabt; denn seinen Bemühungen ist es wohl mit zuzuschreiben, daß in Bayern die Nahrungsmitteluntersuchung den Instituten für angewandte Chemie an den drei Landesuniversitäten übertragen wurde und daß dadurch die Kontrolle der Nahrungsmittel in Bayern viel früher und besser geordnet war, als in Norddeutschland, besonders in Preußen. Hilger war musikalisch und sorgte mit seiner klugen Frau, einer Holländerin, für die Pflege des musikalischen Lebens in Erlangen. Er ist später an die Universität München gekommen, wo er in der Nähe des Baeyer'schen Laboratoriums einen Neubau für pharmazeutische und angewandte Chemie errichtete.

Die Studenten spielten in Erlangen natürlich die Hauptrolle, weil ein erheblicher Teil der Einwohner von ihnen lebte. Auch das Verbindungswesen blühte in ungewöhnlicher Weise, und damit im Zusammenhang stand das Duellwesen, das trotz des gesetzlichen Verbots von jedermann als etwas Selbstverständliches und Nötiges angesehen wurde. Ja, ich selbst habe mich mit Penzoldt, Knorr und einigen anderen jungen Leuten noch an einem Kursus von Säbelfechten beteiligt, natürlich nur aus Freude an körperlicher Übung, während wir später zu unserer Überraschung hörten, daß es für Knorr eine Vorübung zu einer Säbelmensur war, die er mit Dr. Friedländer in München auszufechten hatte. Da ich außerdem wegen der Freude am Schwimmen die Universitätsbadeanstalt öfters besuchte, so widerfuhr mir die unerwartete Ehre, daß ich vom Senat zum Mitglied der Fecht- und Badekommission ernannt wurde und als solches tätigen Anteil an der Auswahl eines neuen Fechtmeisters nehmen konnte.

Im Jahre 1883 fand in der Direktion der Badischen Anilin- und Sodafabrik eine Personalveränderung statt. Vor allen Dingen wollte Dr. Heinrich Caro, der damalige Leiter des wissenschaftlichen Laboratoriums, in den Ruhestand bzw. Aufsichtsrat der Fabrik eintreten. Seinem Enfluß war es wohl zuzuschreiben, daß der Hauptaktionär[97] der Fabrik und Vorsitzender des Aufsichtsrates Herr Sigl aus Stuttgart mir den Vorschlag machte, Nachfolger von Caro zu werden. Obschon diese Stellung materiell sehr viel mehr einbrachte, wie jede Professur in Deutschland, so war mir doch die akademische Tätigkeit mit der vollen Freiheit wissenschaftlicher Arbeit sympathischer. Ich lehnte deshalb ab, nahm aber eine Einladung zu mehrwöchentlichem Besuch der Fabrik gerne an, teils aus Interesse für die Industrie der Teerfarben, teils in der Hoffnung, mir Rohmaterialien für meine Untersuchungen in großer Menge bereiten zu können. So bin ich denn im August 1883 nach Ludwigshafen-Mannheim gezogen. Der 14-tägige Aufenthalt war eine glückliche Kombination von eifriger Arbeit und fröhlicher Unterhaltung. Zunächst wurde ich durch die ganze Fabrik geführt und in jeder Abteilung von dem betreffenden Leiter in vertraulicher, aber sehr weitgehender Weise über die Einzelheiten der Betriebe unterrichtet. Das war eine Begünstigung, die nur selten wissenschaftlichen Chemikern zuteil wird, und ich verdankte sie wohl dem Wunsche der Direktion, dauernd mit mir in Verbindung zu bleiben. Gleichzeitig begannen im technischen Laboratorium größere Versuche zur Methylierung von Harnsäure nach der Vorschrift, die ich dafür in Erlangen ausgearbeitet hatte.

Als Rohmaterial hatte ich mir mehrere Kilo Schlangenexcremente aus Amsterdam durch Vermittlung von Professor Forster verschafft. Auf meine Erkundigung, weshalb das Material so teuer sei, erhielt ich die überraschende Antwort, daß es in Holland für die Herstellung von medizinischen Geheimmitteln verwendet werde und deshalb einen richtigen Marktpreis besitze. Die Überwachung der Methylierungsversuche, die wohl 10 Tage in Anspruch nahmen, hatte mein früherer Privatassistent Dr. Boesler übernommen, so daß ich mich darum kaum zu kümmern brauchte. Anders war es mit einem zweiten Präparat, der Orthoaminozimtsäure, die ich aus einem in der Fabrik vorrätigen Material, der Orthonitrozimtsäure, durch Reduktion mit Eisenvitriol und Ammoniak nach Tiemann darstellte. Die Operation mußte in stark verdünnter Lösung vorgenommen werden und erforderte die Filtration eines dicken Schlammes von Eisenhydroxyd. Zu dem Zweck wurde mir eine richtige Betriebsapparatur der Azofarbenfabrik zur Verfügung gestellt. Bei dieser Arbeit, die ich selbst übernehmen mußte, war mir das strenge Rauchverbot innerhalb des Fabrikgebäudes recht schmerzlich, aber wenn der alte Engelhorn, Mitglied der Direktion, zum Plaudern mich besuchte, dann zündeten wir uns beide heimlich eine Zigarre an. Einmal erwischte uns dabei der Betriebsführer Dr. Burkhardt, ein alter Münchener Bekannter von mir. Es gab nun ein großes Donnerwetter und wir wurden mit unseren Zigarren rücksichtslos vor die Türe gesetzt.[98]

Den Nachmittag benutzte ich entweder zu kleinen Ausflügen oder zur Ausübung der Hühnerjagd in der frucht- und wildreichen Umgebung von Ludwigshafen, wohin mich das Direktionsmitglied Dr. Karl Klemm in freundschaftlicher Weise mitnahm. Die Abende verbrachte ich regelmäßig im großen chemischen Kreise im Pfälzerhof zu Mannheim, der sich durch den Ausschank vortrefflichen Pfälzer Weines auszeichnete. Die Herren aus der Technik waren dankbar dafür, daß ich ihnen neben mancherlei Schnurren auch über die Fortschritte der Wissenschaft in breiterer Form als sie sonst es erfahren konnten, Auskunft gab, und es wurde scherzhaft der Vorschlag gemacht, mich dauernd als »Vortragenden Rat« der Fabrik anzugliedern. In der Tat machte mir zum Schluß meines Aufenthaltes das Direktorium den Vorschlag, gegen ein mittleres Jahresgehalt in ein Vertragsverhältnis zur Fabrik zu treten, wobei ich nur die Verpflichtung übernehmen sollte, bei Erfindungen auf dem Gebiete der Teerfarben und Heilmittel der Fabrik das Verkaufsrecht einzuräumen. Dasselbe Angebot richtete man an Victor Meyer und Adolf von Baeyer. Es ist aber nicht verwirklicht worden, weil bald nachher ein großer Personenwechsel in der Direktion der Fabrik stattfand.

Nach Erledigung meiner Arbeiten reiste ich von Mannheim nach Euskirchen, um meinem Vater bei der Hühnerjagd zu helfen. Hier hatte ich das Vergnügen, den Besuch von Victor Meyer zu empfangen. Er hatte etwa 1/2 Jahr vorher im Baeyer'schen Hause den Wunsch geäußert, auch die Jagd kennen zu lernen, da dieser Sport ihm bisher fremd geblieben sei. Daraufhin lud ich ihn ein, während der Herbstferien zu uns an den Niederrhein zu kommen. Seine Zusage löste er nun ein. Leider hatte er kurz vorher anstrengende Hochgebirgstouren im Gebiete des Bernina gemacht und kam nun direkt aus dieser frischen Höhe ziemlich abgehetzt nach der warmen Ebene. Infolgedessen reichten seine körperlichen Kräfte nicht mehr aus, mit Genuß an der immerhin etwas anstrengenden Hühnerjagd teilzunehmen. Während mein Vater und ich ohne Ermüdung 6 bis 8 Stunden durch die Kartoffeläcker stiefeln konnten, lag er gewöhnlich nach 2 Stunden ermüdet hinter einem Busche. Leichter und interessanter war ihm deshalb eine kleine Jagd, die ich für ihn im Flamersheimer Walde veranstaltete. Er hatte dabei das auffallende Glück, im Laufe von etwa 2 Stunden von einem Rehbock und 5 Wildsauen angelaufen zu werden. Allerdings fehlte ihm die Übung, um eins der Tiere zu erlegen. Bei der Rüstung des Mittagsmahles, das unser Förster besorgte, mußten sich alle Mitglieder des kleinen Kreises am Kartoffelschälen beteiligen mit der Maßgabe, daß jeder so viel zu schälen habe, als er beabsichtige zu essen. Über diese eigenartige Sitte hat Meyer besonders gelacht und dazu das[99] Geständnis abgelegt, daß er bisher nie in seinem Leben eine Kartoffel geschält habe.

Der Tag war wenig anstrengend, und diese Art der Jagd hat ihm besser gefallen, als das Ablaufen des freien Feldes. Da er aber offenbar jetzt seine Erfahrungen auf der Jagd für ausreichend hielt, so schlug ich ihm einen Ausflug nach der vulkanischen Eifel vor. Er war damit gerne einverstanden, und wir sind nun teils zu Wagen, teils zu Fuß über Rheinbach nach dem Ahrthal, von dort abwärts an den Rhein und dann durch das landschaftlich hübsche und geologisch sehr interessante Brohlthal nach dem lieblichen Laacher See, einem der schönsten Maare der vulkanischen Eifel gereist. Das hat Meyer natürlich in hohem Grade interessiert, und um ihm noch eine der charakteristischen Kohlensäurequellen dieser Gegend zu zeigen, führte ich ihn am nächsten Tage nach Burgbrohl zu dem aus der Münchener Zeit mir wohl bekannten Vetter Dr. Hans Andreae, der hier nach einer stürmischen Studienzeit als Fabrikant und Familienvater gelandet war. Er erzeugte hauptsächlich reine Alkalibicarbonate und benutzte dafür die natürliche Kohlensäure, die als sogen. Mofette in mächtigem Gasstrom aus der Erde kam und für die Zwecke der Fabrik durch ein Metallrohr gefaßt war. Die Quelle dient jetzt zur Herstellung von flüssiger Kohlensäure, die seitdem ein bedeutender Handelsartikel geworden ist.

Selbstverständlich statteten wir auch dem am See gelegenen schönen Jesuitenkloster Marialaach unseren Besuch ab und kehrten dann, immer bei herrlichstem Wetter, wieder nach Euskirchen zurück, wo Meyer von meinem Vater, mit dem er sich rasch angefreundet hatte, Abschied nehmen wollte.

Inzwischen war von Wilhelm Königs eine Einladung an uns eingelaufen, ihn in Cöln zu besuchen, wo er Meyer die vielen Schönheiten der alten Handelsstadt zeigen wollte. Sie wurde angenommen. Auf der Fahrt empfing uns Königs schon in Kierberg bei Brühl mit der Einladung, Station in dem Landhaus seines Bruders, des Cölner Bankiers zu machen. Den Auftrag dazu hatte er von seiner Schwägerin, einer geistig sehr angeregten Frau, erhalten, weil sie die beiden Professoren kennen lernen wollte. Mit der Lebendigkeit der Rheinländerin wußte sie uns bei einem lustigen Frühstück ziemlich ausführlich über unsere wissenschaftlichen Ziele auszufragen. Sie belohnte uns dafür durch reichliche Bewirtung und durch das Vorzeigen ihrer eigenen Kunstwerke, einer Reihe von leidlich gemalten Ölbildern. Bei dieser Gelegenheit habe ich zum ersten Mal meinen späteren Schüler Ernst Königs, der jetzt Privatdozent in Breslau ist, als Knaben gesehen.

Meyer und ich haben uns dann getrennt, und er ist über Cöln nach Berlin zum Besuch seiner Eltern gefahren.[100]

Zuvor hatten wir in Euskirchen auf seinen Vorschlag Duzbrüderschaft geschlossen, und ich muß gestehen, daß er mir dauernd ein lieber Freund geblieben ist. Bei Meyer war körperliche Anmut mit ungewöhnlicher geistiger Begabung in glücklicher Weise vereinigt. Dazu kam eine natürliche Liebenswürdigkeit des Wesens und eine große Geschicklichkeit, sich der Umgebung anzupassen, so daß ihm die Sympathien der Menschen rasch zuteil wurden.

Sein Bruder Richard hat ihm eine ausführliche Lebensbeschreibung gewidmet und ein weiteres Denkmal durch die Herausgabe seines Briefwechsels gesetzt. Aber trotzdem erscheint es mir nicht allein gerechtfertigt, sondern wie eine Art von Freundespflicht, auch hier eine kurze Charakteristik von ihm zu geben. Er war ein rascher Denker und verfügte in folge seiner Belesenheit und seines ausgezeichneten Gedächtnisses über ebenso gründliche wie ausgedehnte Kenntnisse. Drum schossen bei ihm die Ideen wie ein frischer und unversiegbarer Sprudel hervor, ohne daß er dabei die gesunde Kritik verloren hätte. So erklären sich auch seine außerordentlichen Erfolge in der Experimentalchemie, wo schöpferische Phantasie mit nüchterner Auswahl der lösbaren Probleme und der einfachsten Versuchsbedingungen verbunden sein muß. Sehr interessant war es, ihn über Fachgenossen reden zu hören, deren Vorzüge er gerne anerkannte und deren Schwächen er mit Freimut, aber ohne jede Bosheit, mehr im humoristischen Sinne beleuchtete.

Nebenher steckte in ihm ein gutes Stück Künstler mit aufrichtiger Freude an Musik, Deklamation, Schauspiel und Dichtkunst im weitesten Sinne. Das alles brach bei ihm spontan und mit natürlicher Anmut von Zeit zu Zeit hervor, so daß es, chemisch gesprochen, wie eine Transmutation vom Naturforscher zum Künstler aussah. Leider war damals sein Nervensystem schon durch übermäßige Arbeit, vielleicht auch durch zu reichlichen Genuß der Lebensfreuden, erschüttert, so daß er 1 Jahr später in Zürich zusammenbrach und Urlaub nehmen mußte. Es war um dieselbe Zeit, als ich aus anderen Gründen die Laboratoriumstätigkeit aufgeben mußte. Glücklicherweise haben wir beide eine Art von Renaissance erlebt, die allerdings bei Meyer nur etwa 12 Jahre dauerte.

Im Oktober 83 trafen wir für kurze Zeit in München bei Baeyer zusammen und erfuhren hier die freudige Überraschung, daß uns Baeyer in einer behaglichen Plauderstunde gleichfalls die Duzbrüderschaft anbot. Wir beide verehrten in ihm den ausgezeichneten und lieben Lehrer und hatten nun das Recht erhalten, ihn in besonders trauter Weise »Freund« nennen zu dürfen. Soviel ich weiß, sind wir die einzigen Chemiker geblieben, die sich dieses Vorrechts rühmen durften.[101]

In unserem Junggesellenkreise zu Erlangen gab es kein interessanteres Ereignis als die Verlobung einzelner Mitglieder. Im Winter 1883/84 erlebten wir das dreimal, bei Ludwig Knorr, Leo Gerlach und dem schon 40-jährigen Mediziner Kieselbach. Sie wurden natürlich feierlich aus unserem Kreise entlassen und dafür haben wir an den Hochzeiten teilgenommen. Die erste von Leo Gerlach fand in den Osterferien 84 in Nürnberg statt, weil die Braut der dort altangesessenen Familie Seitz angehörte. Sie wurde mit dem großen, etwas steifen Pomp der alten Kunststadt abgehalten. Die zweite Hochzeit war in den äußeren Verhältnissen, besonders in der Zahl der Teilnehmer, bescheidener, aber mit feinem künstlerischen Geschmack hergerichtet. Sie fand statt in dem Hause des Direktors der Akademie der Künste Piloty zu München. Bei dem Festmahl war die Braut so gesetzt, daß das prächtige blonde Haar, welches dem Vater als Modell bei der Idealfigur der Thusnelda in dem bekannten Bild »Der Triumphzug des Germanikus« gedient hatte, allein von der Sonne beleuchtet und deshalb von einer Art Glorienschein umgeben war. Meine Nachbarinnen bei dieser Hochzeit waren die durch Schönheit ausgezeichnete Schwester der Braut Johanna, die spätere Frau von Hefner-Alteneck, und die gewandte redefertige Baroneß L. von Hörnstein, die spätere zweite Frau von Lenbach.

Wegen meiner freundschaftlichen Beziehungen zu Knorr mußte ich eine Rede auf das Brautpaar halten und die Glückwünsche der jungen Erlanger Gesellschaft mit einem stattlichen Album von Photographien überbringen. Ich hatte mir die Rede natürlich vorher überlegt und eine Einleitung ausgedacht, die an die Namen Knorr und Piloty anknüpfte. Es war ein Schiffsvergleich, und nun wollte es der Zufall, daß gerade vor mir auf der Tafel ein prächtiges, in Silber gehaltenes Segelschiff stand, von dem ich jetzt natürlich ausging. Dadurch bekam die Rede einen ganz improvisierten Zug und am Schluß erklärte mir der Hochzeitsvater, dem seine Rede recht sauer geworden war, daß wir Professoren den Künstlern im Schwätzen doch über seien.

Von diesen beiden Hochzeiten kam ich mit einem Katarrh, der durch das 2-jährige Arbeiten mit Chlorphosphor in dem schlecht ventilierten Privatlaboratorium vorbereitet und durch eine akute Erkältung verstärkt war, nach Hause zurück, reiste dann aber bald, ohne mich darum zu kümmern, zum Besuch meines Vaters und Schwagers nach Uerdingen. Hier habe ich mir wahrscheinlich auf der Jagd eine kleine Verletzung des Darms zugezogen, zu deren Beseitigung ich mich an den Chirurgen Professor Bardenheuer im Cölner Bürgerhospital wandte. Ich wurde dort operiert und mußte 14 Tage zu Bett liegen. Leider stellte sich ziemlich hohes Fieber ein und infolge dieser ungünstigen[102] Umstände entwickelte sich mein Bronchialkatarrh zu einem tüchtigen Husten. Aus dem Spital entlassen, bin ich statt nach dem Süden törichterweise nach Euskirchen gegangen, habe dort an der Jagd teilgenommen und mich neuen Erkältungen ausgesetzt. Jetzt nutzte auch ein 14-tägiger Aufenthalt in Wiesbaden, wo abends immer ziemlich stark gekneipt wurde, nichts und so hat der Katarrh allmählich eine chronische Form angenommen. Am meisten beschädigt waren Nase, Hals und Trachea, und über den Nasenkatarrh war ich besonders unglücklich, weil mein sonst so feiner Geruchssinn völlig aufgehoben war und ich fast 1/2 Jahr kein Geruchsempfinden gehabt habe. Daran mögen zum Teil auch die Riechversuche, auf die ich später zurückkommen werde, schuld gewesen sein. Trotz des Katarrhs habe ich im Sommer Vorlesungen und Praktikum in Erlangen abgehalten, weil ich glaubte, daß in den Herbstferien die Krankheit geheilt werden könnte. Aber ich hatte noch immer nicht die richtige Lebensweise angenommen, denn das Rauchen, dem ich leidenschaftlich ergeben war, konnte ich nicht lassen, und im Weintrinken habe ich auch vielleicht damals mehr geleistet als gut war. Zudem ließ ich mich im August von Fleischer und Penzoldt überreden, mit nach Pontresina im Engadin zu gehen. Die Reise dahin fing schon mit einem Wagenunglück an, das recht böse Folgen hätte haben können. Fleischer und ich hatten nämlich, um die überfüllte Post zu vermeiden, in Chur einen Privatwagen gemietet, ohne über die Eigenschaften der Pferde und des Kutschers uns zu unterrichten. Nach einigen Stunden leidlicher Fahrt begegneten wir einem italienischen Orgeldreher, der seinen Leierkasten mit einer buntgefärbten Decke überzogen hatte. Davor scheute das eine Pferd, der Kutscher verlor die Herrschaft über die Tiere, und wir stürzten, nachdem das schlechte Geländer durchbrochen war, von der Straße etwa 5 m bergab, glücklicherweise auf eine Wiese. Ich hatte das Unglück kommen sehen, war aufgestanden und wollte aus dem Wagen herausspringen. Es war aber zu spät und ich flog in weitem Bogen aus dem Gefährt heraus in die Wiese hinein. Ich bin niemals in meinem Leben vom Boden so rasch wieder aufgesprungen, weil ich fürchtete, daß der Wagen nachkommen würde. Der war aber inzwischen ganz umgeschlagen und stark beschädigt liegen geblieben. Auch Fleischer war herausgeflogen und hatte sich einen Arm ziemlich stark verstaucht. Merkwürdigerweise blieben die Schuldigen, d.h. der Kutscher und die Pferde, ganz unverletzt. Der Absturz war auf etwa 500 m Entfernung von den Gästen eines kleinen Schwefelbades Alvaneu beobachtet worden, und als wir dort einkehrten, um uns durch ein Mittagsmahl von dem Schrecken zu erholen, wollte die Tischgesellschaft es nicht glauben, daß Männer, die soeben einer wirklichen Lebensgefahr[103] entgangen waren, Lust zum Essen haben könnten. Ich hatte nun die Freude am Wagenfahren verloren. Wir gaben deshalb unsere Koffer auf die Post und machten den Rest des Weges nach Pontresina zu Fuß. Hier bin ich nur einige Wochen geblieben, weil der Aufenthalt in der trockenen und abends kalten Luft, das Unternehmen verschiedener kleiner Gletschertouren und das abendliche stundenlange Verweilen in einer rauchigen Bierkneipe meinem Katarrh nur schädlich waren. Ich zog es deshalb vor, nach dem niedriger gelegenen Kurort Flims in Graubünden zu gehen, wo ich mit Freund Königs zusammentraf und einige vergnügte Wochen verbrachte. Hier habe ich auf eigentümliche Art den Präsidenten des Schweizer Schulrats Kappler kennen gelernt. In dem mit dem Hotel verbundenen Bierhause war nämlich allabendlich eine Gesellschaft von älteren Schweizer Herren versammelt, die sich mit dem in der Schweiz üblichen Kartenspiel »Jas« vergnügten. In diesem kleinen Kreise zeichnete sich durch Lebhaftigkeit, originelles Äußere und kräftige Witze ein alter Herr so sehr aus, daß wir uns nach seinem Namen erkundigten. Es war Herr Kappler, den alle jungen Dozenten der Naturwissenschaften in Deutschland dem Ruf nach kannten. Unsere Neugierde war dem alten Herrn verraten worden. Er hat sich dann auch erkundigt, und als wir am nächsten Tage bei Tisch saßen, schickte er den Kellner zu mir mit der Frage, ob ich der Otto oder der Emil wäre; denn er war über die jungen Naturforscher in Deutschland ausgezeichnet unterrichtet. Wir sind dann in persönliche Berührung gekommen, und er sprach sofort den Wunsch aus, daß ich die Professur der Chemie am Polytechnikum in Zürich übernehmen möchte, da Victor Meyer am Ende des nächsten Wintersemesters nach Göttingen übersiedeln werde. Als ich ihm erwiderte, daß ich augenblicklich leidend sei und erst meinen Katarrh kurieren müsse, wollte er mit Rücksicht auf mein gesundes Aussehen nichts davon wissen und wiederholte mehrere Wochen später das Angebot brieflich, nachdem er seinen Kollegen im Schulrat Bericht erstattet hatte. Der Ruf war sehr verlockend, da ein prächtiges neues Institut für Chemie gebaut werden sollte, wozu die Pläne von Victor Meyer und Lunge in Verbindung mit einem ausgezeichneten Baumeister schon fertiggestellt waren. Auch hätte es für mich einen Reiz gehabt, der Nachfolger Meyers zu werden, aber ich war doch zu unsicher, ob ich bei meinem Gesundheitszustand den Anstrengungen der Züricher Professur gewachsen sein würde, denn Meyer war doch zuletzt auch zusammengebrochen und hatte lebhafte Klage über das aufreibende Leben und Treiben in Zürich geführt. So lehnte ich denn wieder ab.

Auf der Rückreise von Flims drohte mir wieder die Gefahr eines Wagenunglücks, denn als Königs und ich von dort in einem Zweispänner[104] nach Chur fuhren, stürzten unmittelbar vor dem Hotel auf dem glatten Pflaster beide Pferde zur Erde. Glücklicherweise blieben wir im Wagen unversehrt, aber meine Abneigung gegen Wagenfahrten ist durch den Vorfall noch verstärkt worden.

Den Rest der Ferien verbrachte ich in Südtirol, Brixen und Meran, wo aber infolge der Hitze und des Staubes der Bronchialkatarrh auch nicht völlig aus heilte. Die Folge davon war, daß ich bei einem kurzen Aufenthalt in München mir sofort einen neuen akuten Katarrh zuzog und kränker nach Erlangen zurückkehrte, als ich es im August verlassen hatte. Ich kam deshalb zu der Überzeugung, daß eine längere ernsthafte Kur nötig sei und nahm langen Urlaub, der mir vom Ministerium in München in der freundlichsten Weise gewährt wurde. Damit aber das Institut nicht ganz verwahrlost bleiben sollte, so schlug ich der Fakultät vor, meinen Vetter Otto Fischer, der in München Privatdozent der Chemie war, als provisorischen Vertreter für die Zeit der Krankheit anzunehmen. Das ist auch geschehen, und hat dann zur Folge gehabt, daß er ein Jahr später, als ich nach Würzburg übersiedelte, definitiv mein Nachfolger wurde. Der Vetter hat nicht allein meine Vorlesungen und die Leitung des Laboratoriums, sondern sogar die Wohnung einschließlich der Haushälterin für die Zeit meines Urlaubs übernommen. Ich bin noch bis Ende November in Erlangen geblieben, um ihn in alle Geschäfte einzuführen, und während dieser Zeit hatte ich das besondere Vergnügen, Herrn Kappler aus Zürich nochmals zu sehen. Nach meiner Ablehnung hatte er sich trotz seines hohen Alters und seiner schlechten Augen entschlossen, eine Rundfahrt durch Deutschland zu machen, um die jungen Dozenten der Chemie kennen zu lernen. Begleitet von seiner Tochter er schien er auch in Erlangen, um die Bekanntschaft meines Vetters zu machen und seine Vorlesungen zu besuchen. Ich lud ihn zu Tisch, und als wir vergnüglich getafelt hatten und er mich in guter Laune glaubte, machte er einen letzten Versuch, mich zu gewinnen. Er behauptete dabei, daß ich gar nicht so krank sei, er riskiere es ruhig mit mir und dann setzte er mit erstaunlicher Beredsamkeit die Vorzüge von Zürich auseinander, wobei er besonders die Annehmlichkeiten betonte, welche dort einem Junggesellen durch die Freiheit der Sitten geboten seien. Da er aber bald einsehen mußte, daß er mit mir kein Geschäft machen könne, so beschränkte er sich schließlich darauf, mir eine Reihe von interessanten Begebenheiten aus seinem Leben, vermischt mit köstlichen Schnurren, zu erzählen. Er war ein vortrefflich unterrichteter, sehr kluger Mann, mit allen guten Eigenschaften des Schweizers ausgestattet, der keine Mühe scheute, seinem geliebten Polytechnikum die bestmöglichen Lehrkräfte zuzuführen. Die große Blüte dieser Schule ist damals sicherlich zum erheblichen[105] Teil das Werk von Kappler gewesen. Als ich ihm 4 Jahre später von Würzburg meine Verlobung anzeigte, schrieb er mir einen ebenso liebenswürdigen wie interessanten Brief. Das einzige, was ihm leid tue, sei, daß die Verlobung nicht in Zürich erfolgte. Dann kam eine lange Auseinandersetzung über die Bemühungen der Schweiz, auf dem weiten Gebiete des Unterrichts verhältnismäßig mehr zu leisten, als die europäischen Großstaaten, wo so viel geistige Kräfte durch die Politik und das Militär in Anspruch genommen seien.

Als er in Erlangen von mir Abschied nahm, sagte er: da ich nicht zu haben sei, so werde er sich jetzt um keinen fremden Rat mehr kümmern und einfach seiner Nase nachlaufen, um einen möglichst guten Nachfolger für Meyer zu gewinnen. Seine Wahl ist dann auf Hantzsch gefallen.

Anfangs Dezember verließ ich Erlangen, und da mir der dauernde Aufenthalt in den Kurorten zuwider geworden war, so ging ich zuerst zu meinem Schwager Arthur Dilthey in Rheydt, der ein behaglich eingerichtetes, mit Zentralheizung versehenes Haus besaß und mich ebenso liebenswürdig wie scherzhaft zur Kur in der Winterfrische zu Rheydt eingeladen hatte. Hier habe ich drei vergnügte Monate zugebracht. Der Tag wurde zu größeren Spaziergängen benutzt, und abends spielte ich, angeblich um die Stimme zu schonen, mit dem Schwager und August Fischer Skat. Dabei passierten aber so komische Dummheiten, daß wir aus dem Lachen nicht herauskamen, und da auch fleißig Wein getrunken wurde, so war es nicht gerade die Kur, die für die Heilung des Katarrhs nötig gewesen wäre. Aber er wurde auch nicht schlimmer und meine Gemütsverfassung hatte sich in dem lustigen rheinischen Kreise außerordentlich gebessert. Selbstverständlich kam ich auch mit meinen anderen Schwägern und den Schwestern häufig zusammen, und die alte Tante »Lisettchen« ließ es sich ebenfalls nicht nehmen, den Neffen von Zeit zu Zeit einzuladen.

In der Weihnachtswoche kam es bei meinem Schwager zu einem kleinen Brand, der recht üble Folgen hätte haben können. Der in der trockenen Luft der Zentralheizung ganz ausgedörrte Christbaum wurde auf Wunsch der Kinder nochmals angezündet. Dabei fingen die harzreichen Nadeln Feuer und in kurzer Zeit war der ganze Baum am Brennen. Mir selbst war das kein ungewohntes Schauspiel, da man im Laboratorium ja öfters solche raschen Brände erlebt. Aber auf die Familie meines Schwagers, besonders auf die Kinder machte es einen ganz lähmenden Eindruck, und die Erzieherin der Kinder war so außer Fassung, daß sie direkt in das Feuer hineinlaufen wollte, um zu löschen. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie und die Kinder mit einiger Gewalt vor die Tür zu setzen, und dann das Kommando auszugeben: »Ruhig[106] ausbrennen lassen.« Das war in einer halben Stunde geschehen, einige Vorhänge waren mitverbrannt, einige Bilder und Teppiche beschädigt. Dem Umgreifen des Feuers hatten wir mit ein paar Eimern Wasser gewehrt und die Sache war erledigt. Ich habe seitdem immer davor gewarnt, Christbäume in Häusern mit Zentralheizung nach mehrtägigem Stehen nochmals anzuzünden.

Bei der Weihnachtsbescherung passierte eine schnurrige Geschichte, die bezeichnend ist für den Kunstsinn der Kinder. Mein Schwager hatte als Geschenk einen Gipsabguß der Büste der Venus von Milo bekommen, die von den Kindern wegen der abgeschnittenen Glieder nicht sehr freundlich kritisiert wurde. Plötzlich erhebt die kleine Else die Frage: »Was hat die da für Buckel auf der Brust?«, worauf der noch jüngere sechsjährige Alfred ihr antwortete: »Wie dumm, Else, das sind doch Furunkel.«

Im Februar 1885 entschloß ich mich, das Frühjahr am Mittelmeer zu verleben, und mein Freund Victor Meyer, der inzwischen ebenfalls nervös erkrankt war und an heftiger Neuralgie litt, riet mir nach Ajaccio auf Corsica in den Schweizer Hof der Frau Dr. Müller zu gehen. Niemals ist mir ein besserer Rat bezüglich eines Kurortes erteilt worden. Die Reise ging über Paris und Marseille. Als ich in Paris abends einen kleinen Spaziergang auf dem Boulevard machte, verlor ich meine goldene Uhr und merkte es erst, als ich etwa 20 Schritte weiter gegangen war. Ich kehrte natürlich sofort um und hatte auch das Glück, die Uhr noch auf dem Boden zu finden, obschon eine ganze Reihe von Menschen die Stelle passiert hatten.

In Marseille kam ich mit einem großen Kreditbrief eines Cölner Bankhauses an, der auf eine ziemlich hohe Summe ausgestellt war, weil ich die Absicht hatte, an den Aufenthalt in Corsica eine Seereise nach Brasilien anzuschließen. Als ich mit diesem Brief in dem Geschäftshause, auf das es ausgestellt war, einige 1000 Frcs. abheben wollte, erklärte man mir, die Kasse enthielte so viel nicht. Es gab ein großes Gelächter, und ich mußte warten, bis das Geld von der Bank herbeigeschafft war. Marseille, das ich schon kannte, hat mir wegen seiner prächtigen Lage und der hübschen Hafenbauten immer von neuem sehr gefallen.

Die Seefahrt nach Ajaccio, die etwa 20 Stunden dauerte, ist mir noch in freundlicher Erinnerung. Die Franzosen waren bei der Tafel von ausgezeichneter Höflichkeit. Auf dem Schiff befanden sich auch eine Reihe von Sträflingen, die in Corsica eine längere Gefängnisstrafe abbüßen sollten. Sie unterhielten sich gegenseitig in der lauen, sternenklaren Nacht bei ganz ruhiger See mit Gesang und übermütigen Scherzen. Von dieser Fröhlichkeit wurde die ganze übrige Gesellschaft beeinflußt,[107] und bei mir kam das angenehme Gefühl hinzu, daß die milde feuchte Luft des Mittelmeers für die erkrankten Schleimhäute meiner Atmungswege das richtige Kurmittel sei.

Früh morgens sahen wir schon die Schneeberge Corsicas winken und bei der Einfahrt in Ajaccio bot sich uns ein so prächtiger Anblick, wie ihn nicht viele Orte des Mittelmeeres gewähren.

Im Gasthof wurde man besonders freundlich empfangen, da der Besuch infolge der Choleraepidemie des vergangenen Sommers noch recht schwach war.

Corsica hat in den Monaten März und April so gute klimatische Verhältnisse, wie wenige Orte am Mittelmeer, sehr viel Sonne und mittags die kühle frische Seebrise, abends bei Sonnenuntergang nochmals eine kurze Periode der Abkühlung und dann gleichmäßige Temperatur bis tief in die Nacht hinein. Da man außerhalb der Stadt wohnte, blieb man auch von jedem Staub verschont, der an der Riviera die Menschen so stark belästigt; denn es gab in Corsica wohl Straßen, aber keine Fuhrwerke darauf. Unter diesen günstigen Bedingungen ist mein Bronchialkatarrh in 8 Wochen geheilt. Es blieb aber eine Neigung zu akuten Rückfällen, die mich noch einige Jahre nötigte, Erkältungen und auch die schädlichen Gase des Laboratoriums so weit wie möglich zu vermeiden. Erst nach 33 Jahren bin ich wieder von einem influenzaartigen Bronchialkatarrh überfallen worden, der nicht heilen wollte, und nach sechs Wochen zu einer Lungenentzündung führte. Diese doppelte Erkrankung war dann der Grund, im April und Mai 1918 zur Erholung sechs Wochen in Locarno am Lago Maggiore zuzubringen, und die unfreiwillige Muße habe ich benutzt, um den ersten Teil dieser Erinnerungen niederzuschreiben.

Corsica ist ein wildes Gebirgsland, dessen höchste Spitzen, der Monte d'Oro und Monte Rotondo, ewigen Schnee und sogar kleine Gletscher tragen. Der Hauptgebirgsstock besteht aus Granit, der hier durch den am Mittelmeer überwiegenden Kalk durchbrochen ist. Von der Wildheit der Natur ist etwas auf die Einwohner übergegangen; denn sie sind bekannt als kühne Krieger und rühmen sich gerne als die Landsleute von Napoleone Buonaparte. Seit Jahrhunderten üben sie die Blutrache, und noch zu meiner Zeit gab es ein Dorf in entlegener Gegend, das fast ausschließlich von solchen Mördern bewohnt war, die sich hierher geflüchtet hatten und der französischen Gendarmerie nicht selten bewaffneten Widerstand entgegensetzten. Die barbarischen Sitten des Landes sind in dem bekannten Buche von Gregorovius genau geschildert, und wer sie in anmutiger Schilderung kennen lernen will, der lese die vortrefflichen Novelle von Prosper Merimée »Colomba«. Die Wahrung der Familienehre erschien den Corsen seit Jahrhunderten[108] als erste Pflicht. Wir haben davon ein treffliches Beispiel miterlebt. In einem benachbarten Hotel hatte ein Rechtsanwalt aus Zürich versucht, ein corsisches Dienstmädchen zu gewinnen. Der Erfolg war negativ. Aber nach kurzer Zeit erschienen zwei Verwandte des Mädchens, Bauern aus der Umgegend, natürlich bis an die Zähne bewaffnet, und ersuchten den Rechtsanwalt um eine Unterredung. Dieser war klug genug, zu erklären, er habe dem Mädchen einen ehrlich gemeinten Heiratsantrag gemacht. Das wirkte beruhigend und die beiden Männer entfernten sich, nachdem sie noch den dringenden Rat erteilt hatten, er möge das Mädchen nicht weiter belästigen. Nach der Aussage von Sachverständigen würden diese Männer den Rechtsanwalt, falls er nicht eine der Familienehre genügende Erklärung abgegeben hätte, im Hotel niedergeschossen haben.

Geschossen wurde überhaupt in Corsica viel zu viel; denn die Jagd war frei und jeder erwachsene Mann hielt sich für verpflichtet, davon Nutzen zu ziehen. Bei weiteren Spaziergängen mußte man in der Tat einige Vorsicht gebrauchen, um nicht von leichtsinnigen Jägern angeschossen zu werden. Für die friedliche Arbeit scheinen die Corsen wenig geschaffen zu sein; denn die Landeskultur war durchweg vernachlässigt, und wo fleißige Arbeiter am Werk waren, konnte man sicher sein, daß es geworbene Italiener vom Festlande waren.

Da mein Katarrh geheilt war und mir die Nachricht zuging, daß durch den Tod von Kolbe demnächst eine Verschiebung der Professuren der Chemie statt finden werde, so gab ich die Reise nach Südamerika auf und kehrte über die Schweiz nach Erlangen zurück. Auf der Durchreise habe ich in Genf Carl Graebe besucht, der mir das neue, mit großem Geldaufwand gebaute Universitätslaboratorium zeigte. Wir sind später noch öfter während der Ferien in der Schweiz oder im Schwarzwald zusammengetroffen, und ich werde noch mehr über diesen vortrefflichen Mann zu sagen haben.

Da mein Urlaub bis zum Herbst lief, so habe ich mich nur einige Wochen in Erlangen aufgehalten, um meinen Vetter Otto und die anderen Freunde zu begrüßen, und bin dann zum längeren Aufenthalt nach Badenweiler in den Schwarzwald gegangen. Auf der Hinreise machte ich kurze Rast in Frankfurt und besuchte die Höchster Farbwerke, den dort tätigen Freund Vongerichten und vor allem auch Herrn Dr. Lucius, Mitinhaber der Firma, der mir vorher einen Besuch in Erlangen abgestattet hatte. Ich wurde nicht allein in der Fabrik, sondern auch in der Familie Lucius auf das Freundlichste aufgenommen und bin mit dem Hausherrn bis in die Berliner Zeit hinein in Verkehr geblieben.

In Badenweiler mit seiner prächtigen Umgebung habe ich das Schlaraffenleben von Corsica etwa noch 5 Wochen fortgesetzt, bis[109] eines Tages eine Depesche von dem Würzburger Professor Semper eintraf, der mich zu einer Unterredung nach Heidelberg einlud. Es war mir bereits bekannt, daß J. Wislicenus als Nachfolger von Kolbe nach Leipzig berufen war, und daß die Würzburger Professur für Chemie neu besetzt werden mußte. Daß man an mich denken würde, hielt ich für unwahrscheinlich, da ich wegen Krankheit mich in Urlaub befand und solche Dinge gerüchtweise immer stark übertrieben werden. In der Tat hatte auch die Fakultät in Würzburg auf mich verzichtet und O. Wallach dem Ministerium zu München vorgeschlagen. Ehe aber dort die Entscheidung fiel, hatte Fräulein Bertha Strecker aus München, die Schwester von Frau Leube, in Erlangen erfahren, daß ich wieder gesund sei und diese Nachricht nach Würzburg überbracht. Das veranlaßte Professor Semper, Mitglied der philosophischen Fakultät, die Möglichkeit meiner Berufung wieder in Erwägung zu ziehen, und zu dem Zweck die Zusammenkunft mit mir zu veranstalten. Sie fand statt im Hotel Schlieder zu Heidelberg, und, wie ich bald merkte, lief sie hinaus auf eine Prüfung meines Gesundheitszustandes, wozu sich offenbar Semper als Zoologe besonders geeignet hielt. Als später die Sache in Würzburg ruchbar wurde, erzählten sich die Leute dort, man habe mich von einem Tierarzt untersuchen lassen. Genug, Semper machte mir den Vorschlag, einen Spaziergang zum Schloß zu unternehmen. Ob schon er viel älter war als ich, schlug er absichtlich einen raschen Schritt an, so daß er ganz atemlos oben ankam, während ich, an das Bergsteigen damals gewöhnt, mich bei dem Tempo sehr behaglich fühlte. Dann kam die zweite Probe, Semper schlug vor, eine Flasche Sekt zu trinken. Auch das war mir nicht unsympathisch, da der Genuß von Wein zu meinen Gewohnheiten gehörte. Der Erfolg dieses Frühstücks war dann auch, wie man erwarten konnte, eine leichte Betrunkenheit des älteren Herrn ohne Mitleidenschaft des jüngeren Kollegen. Das Examen war bestanden. Semper reiste nach Würzburg zurück, erklärte seinen Fakultätsgenossen, »der Fischer ist ein ganz starker, leistungsfähiger Mann, der uns alle überleben wird«, worin er auch recht behalten hat. Infolgedessen ging ein neuer Vorschlag der Fakultät nach München und etwa einen Monat später erhielt ich wirklich vom Ministerium den Ruf nach Würzburg. Um Wallach hat es mir leid getan, denn er war über den ersten Vorschlag der Fakultät unterrichtet. Aber ich konnte deshalb nicht zurücktreten, und da mir der Wechsel nach Würzburg außerordentlich sympathisch war, so nahm ich das Angebot des Ministeriums gerne an.

Zuvor hatte ich einen mehrwöchigen Aufenthalt in Homburg v.d. Höhe genommen, von dem mir zwei Ereignisse in Erinnerung geblieben sind.[110]

Zunächst wieder ein Wagenunglück. Ich besuchte die mir von Lebzeiten ihres Gemahls her wohlbekannte Frau Dr. von Brüning, geb. Spindler aus Berlin auf ihrem prächtigen Landsitz bei Homburg und sie lud mich zu einer Wagenfahrt ein. Ich suchte das abzulehnen mit der Motivierung, daß das Wagenfahren für mich zu viele Gefahren bringe. Sie ließ diese Bedenken aber nicht gelten, weil Pferde und Kutscher bei ihr durch langjährige Dienste bewährt seien. Wie fuhren also in Begleitung ihres Sohnes nach der nahegelegenen Saalburg im Taunus. Als wir uns glücklich wieder auf dem Rückweg und auf der ebenen Landstraße befanden, stieß plötzlich der Kutscher einen Schrei aus und fiel bewußtlos vom Bock. Die Zügel schleiften natürlich an der Erde. Glücklicherweise trabten die alten Pferde ruhig weiter, bis der junge Brüning vom Wagen auf den Bock klettern und dort die Zügel fassen konnte. So ging die Sache ohne Schaden für uns vorüber. Der kranke Kutscher wurde nun in den Wagen gesetzt und nach Hause gefahren. Wir folgten zu Fuß und Frau von Brüning war doch etwas erschüttert durch das prompte Eintreffen meiner Unglücksprophezeiung. Sie hat daraus die Konsequenz gezogen, in Zukunft neben den Kutscher stets noch einen Diener auf dem Bock sitzen zu lassen.

Zufälligerweise hatte auch die Familie Meister in Homburg eine Sommerwohnung bezogen und auf meinen Besuch hin wurde ich zu einer Abendgesellschaft zugezogen, an der die Fürstin Bismarck und ihr Sohn Herbert teilnahmen. Es war mir natürlich sehr interessant, die nächsten Angehörigen des großen Reichskanzlers kennen zu lernen. Sie gaben sich als einfache natürliche Menschen. Besonders galt das von der Fürstin, die in fast burschikoser Weise von ihrer eigenen Person redete.

Frau Meister war die Schwester von Frau Lucius und beide waren wieder die Töchter eines Kunstmalers aus Frankfurt a.M., in dessen Haus Bismarck verkehrt hatte, als er preußischer Gesandter beim Bundesrat in Frankfurt war. Daher stammte die Freundschaft zwischen den beiden Damen und der Familie Bismarck, und das hatte mir die unerwartete Ehre eingetragen, mit der Fürstin und ihrem Sohn zusammenzutreffen.

Inzwischen war der Würzburger Ruf eingetroffen. Ich ging deshalb nach Erlangen, um den Umzug vorzubereiten und machte bald nachher einen Besuch bei J. Wislicenus in Würzburg, um mich bei ihm über die dortigen Verhältnisse, insbesondere auch über die Einrichtungen des Instituts zu unterrichten. Wir kannten uns schon von den Naturforscherversammlungen und von festlichen Veranstaltungen der Universitäten Würzburg und Erlangen.

Er war eine sympathische Persönlichkeit, von sehr würdiger äußerer Erscheinung und liebenswürdigem Wesen. In seiner kinderreichen[111] Familie herrschte er wie ein Patriarch. Von seinen Schülern wurde er allgemein verehrt als wohlwollender Lehrer und vornehmer Charakter. Die Universität Würzburg hatte ihn zweimal zum Rektor gewählt, und als solcher hat er das 300jährige Jubiläumsfest der Hochschule in mustergültiger Weise geleitet. Sein Lebenswerk ist in einer von Beckmann verfaßten Biographie geschildert und niemand wird die Verdienste leugnen wollen, die Wislicenus durch seine Arbeiten über Milchsäure, die Acetessigester-Synthese und namentlich später durch die vielen Anregungen auf stereo-chemischem Gebiete erworben hat. Aber als Chemiker und Naturforscher repräsentierte er doch einen ganz anderen Typ wie Baeyer, Hofmann oder Liebig und Wöhler. Ihm kam es mehr darauf an, vorgefaßte theoretische Ansichten durch ein Experiment zu prüfen, als empirisch den Erscheinungen zu folgen und auf unerwartete Vorgänge zu fahnden. Untersuchungen, wo große experimentelle Schwierigkeiten zu überwinden waren, hätte er wahrscheinlich nicht anstellen können. Dem entsprach auch die ziemlich dürftige Einrichtung des Würzburger Instituts, das von Scherer 20 Jahre früher erbaut worden war, ohne an die Bedürfnisse unserer rasch fortschreitenden Wissenschaft zu denken. Das erste, was ich in Würzburg tat, war der Vorschlag, die ganz ungenügende Ventilation durch Anlage neuer Abzüge zu verbessern. Wislicenus hat mich dabei in liebenswürdigster Weise unterstützt und bei dem Verwaltungsdirektor der Universität, Professor Risch, der aus den Einkünften der Hochschule ziemlich große Mittel zur Verfügung hatte, meine Forderung warm befürwortet. Die Verhandlungen endigten denn auch mit einer Bewilligung von etwa 6000 Mk. Dafür verlangte Risch von mir das feierliche Versprechen, daß ich niemals mehr die Mittel der Universität in Anspruch nehmen würde. Ich gab dasselbe lachend mit der Bemerkung, daß ich es bei der nächsten Gelegenheit brechen würde. Das ist schon nach einigen Jahren geschehen, und ich muß zu Ehren des Kollegen Risch zufügen, daß er für meine Wünsche immer eine offene Hand gehabt hat. Die kleinen Neueinrichtungen im Institut wurden während der Ferien ausgeführt, so daß Ende Oktober alles für die Arbeit bereit war. Für die Anlage der Abzüge hatte ich ein sehr einfaches System ausgedacht. Tonröhren, wie man sie für Aborte verwendet, wurden an die Wände gelegt, mit eisernen Schellen befestigt, über Dach geführt und dort durch einen zweckmäßigen Aufsatz gegen die schädliche Wirkung des Windes geschützt. Unten, im Arbeitsraum war ein Kniestück eingesetzt, um das Herabfallen des Schmutzes aus den Röhren zu verhindern. Um diese untere Öffnung des Rohres wurde dann der eigentliche Abzug in Holz und Glas gebaut. Eine Lockflamme in dem Rohr besorgt den nötigen Luftzug. Diese einfache[112] Form des Abzuges läßt sich in jedem Gebäude anbringen und ist deshalb höchst empfehlenswert, wo es sich darum handelt, provisorische Laboratorien in fertigen Häusern einzurichten.

Von Erlangen waren mit übergesiedelt J. Tafel und die Familie Knorr, die jetzt außer dem jungen Ehepaar noch einen Sohn zählte. Da sich für letztere keine passende Wohnung fand, so machte es mir ein Vergnügen, sie in die große Dienstwohnung des Instituts aufzunehmen, bis sie im Frühjahr ein Quartier außerhalb fand.

Die alten Assistenten des Instituts waren J. Wislicenus nach Leipzig gefolgt. Dagegen hatte er mir seinen Sohn Wilhelm zurückgelassen, dem ich gerne eine Assistentenstelle anvertraute, und der mir auch ein sehr lieber Freund geworden ist. Er konnte ebenfalls noch im Institut Quartier nehmen.

Knorr, der schon in Erlangen sich habilitiert hatte, wurde auf meinen Antrag ohne weiteres von der Würzburger Fakultät als Privatdozent übernommen und von mir mit der Leitung der analytischen Abteilung im Institut betraut. Für diese war der einzige große Arbeitssaal des Hauses reserviert, während die organische Abteilung sich mit einem kleinen Anbau und dem darunter befindlichen Keller begnügen mußte. Alles das war recht dürftig und auch recht unpraktisch angelegt. Der Hörsaal war ziemlich geräumig, weil man ihn von vornherein auf die große Zahl von Medizinern berechnet hatte, aber auch seine Einrichtung ließ viel zu wünschen übrig.

Mein Privatlaboratorium bestand aus einem einzigen einfachen Wohnzimmer, und als Raum für Wägungen und optische Untersuchungen mußten wir das danebenliegende Sprechzimmer benutzen. Trotzdem sind hier die experimentell recht schwierigen Zuckerarbeiten ausgeführt worden. Zunächst begann ich aber mit der Ausbildung der schon in Erlangen begonnenen Synthese von Indolderivaten aus Phenylhydrazonen. Daran nahmen auch die meisten Doktoranden teil, wodurch das Institut gleich in einen recht schlechten »Geruch« kam; denn der Hauptstänker, das Skatol, das wir in recht stattlichen Mengen darstellen konnten, wurde von den Praktikanten in die Gast- und Wohnhäuser der Stadt hineingetragen und gab zu mancherlei Klagen Anlaß. Von der Haftbarkeit seines Geruches habe ich selbst ein drastisches Beispiel erlebt. In den Osterferien 1886 unternahm ich nämlich eine zweite Reise nach Corsica und führte dabei die Lodenjoppe mit, die ich während des Winters im Laboratorium getragen hatte und die mir bei kleinen Bergtouren auf der Insel dienen sollte. Als mein Koffer an der französischen Grenze vor der Zollbehörde geöffnet wurde, verweigerte der Beamte mit einer Gebärde der Entrüstung die weitere Durchsicht und verlangte schleunige Schließung des Koffers; denn[113] aus diesem war ein starker Skatolgeruch aufgestiegen und hatte offenbar bei dem Beamten den Eindruck hervorgerufen, daß in dem Koffer sehr stark mit Kot beschmutzte Wäsche enthalten sein müßte. Noch schlimmer ging es mir in dem Schweizer Hof in Ajaccio. Ich hatte dort ahnungslos meine Kleider im Zimmer aufgehängt. Aber nach einigen Tagen erschien die Wirtin und richtete an mich die ängstliche Frage: »Um Gotteswillen, was fangen Sie auf Ihrem Zimmer an, die Nachbarschaft beschwert sich über den schlechten Geruch, der von dort kommt?« Jetzt wußte ich sofort, wo die Schuld lag, und die fatale Joppe wurde nun 14 Tage ins Freie in die corsische Sonne gehängt. Als ich sie aber wieder einpackte und nach Deutschland zurückkehrte, war der Geruch zwar stark vermindert, aber noch keineswegs verschwunden.

In Würzburg hatte ich von vornherein das Glück, daß mir eine Reihe tüchtiger junger Doktoranden zuzogen. Ich erwähne zunächst A. Schlieper, Sohn des Kattundruckers Adolf Schlieper in Elberfeld, der 30 Jahre vorher durch seine Beobachtungen in der Harnsäuregruppe Adolf Baeyer Veranlassung gab, sich mit diesen Stoffen zu beschäftigen. Der Sohn ist sein Nachfolger geworden und steht, wenn ich nicht irre, noch an der Spitze des Geschäftes Baum & Co. Eine ebenso rühmliche Laufbahn hat C. Steche gemacht, der zur selben Zeit nach Würzburg kam. Er ist jetzt der Leiter der großen Riechstofffirma Heine & Co. in Leipzig. Dann Ahrheidt, später Beamter der Badischen Anilin-& Sodafabrik. Friedrich Ach aus Würzburg, ein ebenso begabter wie fleißiger Chemiker, der nebenher auch ein eifriger Corpsstudent war und mit dazu beitrug, daß seine Corpsbrüder die Vorlesungen nicht vernachlässigten. Er ist nach Beendigung der Studien in die Alkaloidfabrik von C.F. Böhringer & Söhne in Waldhof bei Mannheim eingetreten und hat dort als Leiter des wissenschaftlichen Laboratoriums großen Anteil an der technischen Ausarbeitung der Kaffeinsynthese genommen. Darüber werde ich aus der Berliner Zeit noch berichten. Leider ist er frühzeitig an Psoriasis und Nephritis zugrunde gegangen.

Ferner Jacob Meyer, der später selbständig das Tannigen entdeckte, jetzt seit einer Reihe von Jahren im Berliner Institut technische Probleme verschiedenster Art bearbeitet und mir bei der Verwaltung des Instituts eine wesentliche Hilfe leistet.

Im Sommer 86 wandte ich mich wieder den schon in Erlangen entdeckten Osazonen der Zucker zu und es gelang mir, mit Unterstützung von W. Wislicenus, der damals mein Privatassistent war, das Isoglucosamin zu gewinnen. Bald darauf, nachdem die Indolarbeiten abgeschlossen waren, begannen die Synthesen in der Zuckergruppe,[114] die mich bis zum Ende der Würzburger Periode vorzugsweise beschäftigt haben. Die Zahl meiner Mitarbeiter ist hier so groß gewesen, daß ich sie nicht alle anführen kann, aber ich halte mich doch für verpflichtet, drei besonders zu nennen. Zuerst J. Tafel, der an der Oxydation der mehrwertigen Alkohole und der Verwandlung von Glycerose oder Acroleindibromid in den ersten synthetischen Zucker mit 6 Kohlenstoffatomen, die Acrose, teilgenommen hat. Das waren sehr mühsame und zum Teil auch recht gesundheitsschädliche Arbeiten.

Um genügende Mengen von Acrose in Form von Osazon zu gewinnen, haben wir einige Wochen zusammen in den Farbwerken Meister Lucius & Brüning zu Höchst a.M. mit den großen Hilfsmitteln der Fabrik Acrolein und sein Dibromid dargestellt. Das große Gefäß, aus dem das Acrolein destilliert wurde, befand sich im Freien, und die öfter wiederholte Operation wurde an windigen Tagen ausgeführt, um dem furchtbaren Geruch des Acroleins zu entgehen. Tafel ist einmal durch Versehen in eine Acroleinwolke hineingeraten und bekam ein so heftiges Nasenbluten, daß mir um seine Gesundheit bangte. Als etwas später die Schwierigkeiten bei der Zuckerarbeit sich immer mehr auftürmten und eine glückliche Lösung des Problems erst in weiter Ferne möglich schien, hat Tafel, der für die beabsichtigte wissenschaftliche Laufbahn auch selbständige Resultate nötig hatte, sich anderen Aufgaben zugewendet. An seine Stelle sind dann eine Reihe von anderen Herren getreten, unter denen ich besonders Josef Hirschberger, jetzt in Brooklyn, und Heller, jetzt in Leipzig, nennen muß. Bei der speziellen Synthese von kohlenstoffreichen Zuckern durch das Blausäure-Verfahren haben besonders der Engländer Passmore, der jetzt angesehener Handelschemiker in London ist, und Lorenz Ach aus Würzburg, von dem später noch die Rede sein wird, teilgenommen.

Unabhängig von mir waren die älteren Assistenten mit eigenen Problemen beschäftigt. Knorr hatte in Erlangen schon den großen praktischen Erfolg mit dem Antipyrin gehabt und wissenschaftlich nicht allein die Pyrazole, sondern auch die eleganten Synthesen von Pyrrolderivaten aus 1,4-Diketonen entdeckt. Diese Funde sind in Würzburg in weitestem Maße ausgenutzt worden. Dazu gesellte sich die Synthese des Morpholins, von dem der Entdecker annahm, daß es den Stickstoffring des Morphins enthalte.

Einen ebenso glücklichen Griff machte Wilhelm Wislicenus mit der Ausdehnung der Acetessigestersynthese auf andere Ester, z.B. den Oxalester. Wäre ihm L. Claisen nicht mit gleichzeitigen Beobachtungen in die Quere gekommen, so hätte er damals sicherlich das ganze große Gebiet der Kondensation von Estern untereinander oder mit Ketonen und Aldehyden erobert. Eine andere sehr niedliche Beobachtung von[115] ihm war die Bildung von Natriumazid aus Stickoxydul und Natriumamid. Um dieselbe Zeit fand Tafel die Reduktion der Hydrazone zu Aminen mit Natriumamalgam und er hätte diese Reaktion sicherlich auch auf die Oxime ausgedehnt, wenn nicht Goldschmidt alsbald nach Tafels Publikation solche Versuche rasch angestellt und veröffentlicht hätte.

Von den Würzburgern Schülern verdient noch besonders Erwähnung Oscar Piloty. Nachdem er im Münchener Verbandsexamen keinen Erfolg gehabt hatte, kam er in etwas gedrückter Stimmung nach Würzburg, fand aber rasch das Selbstvertrauen wieder, als er bei seiner Doktorarbeit über die kohlenstoffreichen Zucker aus Rhamnose sein experimentelles Geschick beweisen konnte. Er hat dann auch mit Erfolg promoviert und nachher an der recht schwierigen Verwandlung der Zuckersäure in Glucuronsäure teilgenommen. Er durfte jetzt auch Baeyers einzige Tochter Eugenie, mit der er schon längst einig war, heiraten. Das junge Paar kam nach Würzburg und dem Ehemann passierte dabei das Unglück, daß er auf der Hochzeitsreise die militärische Kontrollversammlung vergaß und dafür mit einer kleinen militärischen Freiheitsstrafe belegt wurde. Zu meiner großen Freude entschloß er sich, mit mir nach Berlin überzusiedeln, um dort fast 7 Jahre als Assistent und später als selbständiger Leiter der analytischen Abteilung zu wirken. Als sich aber eine Gelegenheit bot, eine Professur an dem Münchener Laboratorium zu erhalten, zog die alte Sehnsucht nach der bayerischen Heimat sowohl ihn wie die Gemahlin unwiderstehlich dorthin, obschon er ein Vierteljahr später an dem neuen Berliner Institut die gleiche Stellung, vielleicht unter noch besseren Bedingungen, hätte haben können.

Die schönen wissenschaftlichen Leistungen Pilotys, die von einem anderen Fachgenossen in einem ausführlichen Nekrolog geschildert werden sollen, haben mein ursprüngliches Urteil über seine experimentelle Begabung durchaus bestätigt, und ich habe mich darüber um so mehr gefreut, als sein Schwiegervater diese Meinung anfangs nicht teilen wollte.

Zu Anfang des unseligen Krieges hatte Piloty das wehrpflichtige Alter schon überschritten. Trotz dem meldete er sich aus patriotischer Begeisterung als Freiwilliger, und ich konnte noch durch eine Empfehlung an die bayerische Militärbehörde seine Beförderung zum Leutnant d.R. erleichtern. An der Spitze einer Maschinengewehrabteilung ist er in der Sommeschlacht gefallen, tief bedauert nicht allein von der Familie, sondern auch von Freunden und Fachgenossen, die von ihm noch manche schöne wissenschaftliche Leistung erwarteten.

Im letzten Jahr der Würzburger Periode kam auch ein junger Däne Dr. Fogh dorthin, um eine thermochemische Arbeit, hauptsächlich[116] über die Verbindungen der Zuckergruppe, auszuführen. Er hatte sich zuvor bei M. Berthelot in Paris mit den thermochemischen Methoden bekannt gemacht und auch eine Reihe von Instrumenten von dort mitgebracht. Nur die Verbrennungsbombe fehlte ihm, aber in den Ferien konnte er nach Paris reisen und dort die kalorischen Verbrennungsversuche ausführen. Die Arbeit ist in den »Comptes rendus« erschienen. Dr. Fogh ist ebenfalls mit mir nach Berlin gegangen und dort eine Zeitlang Assistent in der anorganischen Abteilung gewesen. Aber aus Gesundheitsrücksichten mußte er bald Urlaub nehmen und ist schließlich nach Kopenhagen zurückgekehrt, von wo er mir nur noch eine Verlobungsanzeige geschickt hat. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.

In der großen Experimentalvorlesung über Chemie bildeten die Mediziner den größten Teil der Zuhörerschaft, dann kamen die Apotheker und erst in dritter Linie die Chemiker. Ich habe mich bemüht, dem gerecht zu werden und die eigentliche Vorlesung so einfach und populär zu halten, wie es ohne Gefährdung des wissenschaftlichen Charakters möglich ist. Aber hinterher gab ich häufig eine Ergänzung für die Fachchemiker, wobei nicht allein schwierigere theoretische Fragen, sondern auch manche speziellen experimentellen Methoden zur Sprache kamen. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war diese Form des Vortrages den Studierenden recht willkommen. Leider ist sie für den Dozenten sehr anstrengend.

Der kollegiale Verkehr unterschied sich in Würzburg nicht unwesentlich von den Erlanger Sitten durch die freie, meist ganz ungeschminkte Äußerung der Meinungen und durch die Schlichtheit der Formen. Von dem Schaugepräge akademischer Würde, wie sie in Erlangen sowohl vom Senat als auch von der Fakultät geübt wurde, war in Würzburg wenig zu spüren, was mich als Rheinländer besonders sympathisch berührte.

Die philosophische Fakultät bestand wie in München aus zwei Sektionen. Unsere mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung zählte nur 6 Ordinarien, aber darunter waren mehrere durch hohes wissenschaftliches Ansehen ausgezeichnete Personen. Das galt besonders für den Physiker Friedrich Kohlrausch und den Botaniker Julius Sachs. Zu Kohlrausch bin ich bald in ein freundschaftliches Verhältnis getreten; denn er war ein ebenso verständiger wie wohlwollender Kollege und jederzeit bereit, vernünftige Wünsche zu unterstützen. Seine ausgezeichneten Untersuchungen über das elektrische Leitvermögen von Lösungen und seine physikalischen Konstantenbestimmungen, sowie das von ihm verfaßte vortreffliche Lehrbuch der »Praktischen Physik« brauche ich hier nicht näher zu besprechen, da sie den Naturforschern[117] genügend bekannt sind. Ich habe mit ihm an schönen Sommertagen manchen Spaziergang unternommen und auch in seiner Familie, besonders von seiten der liebenswürdigen Gattin, freundliche Aufnahme gefunden.

Ganz anders geartet war Sachs, der berühmte Pflanzenphysiologe, der in Würzburg eine große Schule von Botanikern geschaffen und auch als wissenschaftlicher Schriftsteller durch ein großes Lehrbuch und die ausführliche Geschichte der Botanik Hervorragendes geleistet hat. Charakteristisch für seine kühne Kritik ist das vernichtende Urteil über das von Linné aufgestellte rein schematische System der Pflanzen. Er pflegte zu sagen, dieses System sei wie ein Pesthauch über die Botanik gegangen und habe die schon vorhandenen gesunden Keime eines natürlichen Systems auf lange Zeit zerstört. Zu meiner Zeit war Sachs schon ein kranker Mann mit überreiztem Nervensystem, der seine Launen in heftiger Weise auslassen konnte. Trotzdem ist es mir gelungen, mit ihm einen freundschaftlichen Verkehr zu pflegen, und ich habe bei öfteren Besuchen in seinem Institut manches gelernt, was mir für eigene Arbeiten auf physiologisch-chemischem Gebiet Nutzen brachte.

Fremder blieb mir der Mineraloge Fridolin Sandberger, ein ebenfalls verdienter Gelehrter und ein wohlwollender Mensch, aber ein Sonderling, der noch ungern das Deutsche Reich anerkannte und auch von der modernen Chemie nichts wissen wollte. Er brachte das drastisch zum Ausdruck mit der Redensart: »Chemie ist, was knallt und stinkt.« Mindestens ebenso originell war der Zoologe Karl Semper, der eine so große Rolle bei meiner Berufung gespielt hat. Seine wissenschaftliche Blütezeit lag auch schon eine Weile zurück. Als junger Mann hatte er zu wissenschaftlichen Zwecken weite Reisen gemacht und über die Philippinen und die Palaoinseln, wo er sich jahrelang aufhielt und auch seine spätere Gemahlin kennen lernte, wertvolle Bücher geschrieben. Zu meiner Zeit beschäftigte ihn am meisten der Plan eines Neubaues für das zoologische Institut. Da die Bewilligung der Gelder in München auf Schwierigkeiten stieß, so versuchte er die sonderbarsten Mittel, um die Notwendigkeit des Baues allen Leuten klar zu machen. So hatte er im alten Institut, das im vierten Stock des Universitätsgebäudes untergebracht war, große Aquarien angelegt, die eines Tages schadhaft wurden und alle darunter gelegenen Räume unter Wasser setzten. Es blieb also nichts anderes übrig, als einen Neubau am Pleicher Ring zu errichten, und die Einweihungsfeier wurde von Semper so eindrucksvoll inszeniert, daß sie sicherlich jedem Teilnehmer in der Erinnerung geblieben ist; denn zum Schluß führte er die ganze Gesellschaft, unter der sich die Spitzen der Universitäts- und Verwaltungsbehörden sowie eine Reihe von Damen befanden, in das Warmhaus, wo Pflanzen und Tiere in bunter Abwechselung versammelt waren, und das mit einer[118] ausgiebigen Berieselungsanlage versehen war. Als die Gesellschaft sich bei Bier und Würstchen in einer behaglichen Feststimmung befand, trat plötzlich bei geschlossenen Türen die Berieselung in Tätigkeit, bis die ganze Versammlung von einem tropischen Regen total durchnäßt war.

Einige Zeit später kam der Kultusminister Dr. Müller, der eben sein Amt angetreten hatte, zur Besichtigung der Universität nach Würzburg. Sein Besuch war auch den einzelnen naturwissenschaftlichen Instituten angekündigt, verzögerte sich aber aus irgendwelchem Grunde weit über die angesetzte Zeit. Semper, dem das Warten zu lang wurde, hatte sich ein Frühstück von Wurst und Bier kommen lassen und war eben mit dessen Vertilgung beschäftigt, als der Minister eintrat. Dieser begrüßte den schmausenden Professor mit den jovialen Worten: »Ihnen scheint es heute gut zu schmecken«, worauf die prompte Antwort erfolgte: »Wenn Sie so lange wie ich vergeblich auf den Minister gewartet hätten, würden Sie auch Hunger bekommen haben.« Diese freimütige, keineswegs durch Ehrerbietung ausgezeichnete Antwort gab dem Minister Anlass, sich bald wieder zu empfehlen. Das sind nur ein paar Proben von den zahlreichen Schnurren, die Semper geliefert hat. Andererseits war er ein prächtiger Mann von würdigem Äußern, voll lustiger Einfälle, aller geselligen Unterhaltung zugetan und frei von jeder gelehrten Pedanterie. Man spürte bei ihm die Abkunft aus der durch hervorragende Künstler z.B. den berühmten Architekten Gottfried Semper ausgezeichneten Familie.

Ein weiteres Original war der Mathematiker Prym, der aus einer reichen Fabrikantenfamilie zu Düren stammte. Er hatte zwar Mathematik studiert, war aber dann in ein Bankgeschäft zu Wien eingetreten, und von dort durch Kappler als Ordinarius der Mathematik an das Polytechnikum zu Zürich berufen worden. Obschon mit Glücksgütern sehr gesegnet, führte er in Würzburg mit seiner Familie ein ziemlich einfaches Leben. Mit dem Lehramt nahm er es sehr genau. Die Vorlesungen waren auf das gewissenhafteste vorbereitet, und es kam nicht selten vor, daß er säumige Studenten durch seinen Wagen aus der Wohnung abholen und in die Universität fahren ließ. Als Teilhaber an manchen industriellen Unternehmungen interessierte er sich für Chemie und hat mich später auch in Berlin mehrmals besucht.

Ein zweiter Ordinarius für Chemie war in Würzburg nicht vorhanden. Das Institut für angewandte Chemie wurde von dem außerordentlichen Professor L. Medicus geleitet, der nicht allein bei Wislicenus, sondern schon bei dessen Vorgänger A. Strecker Assistent gewesen und deshalb der Hauptträger der chemischen Tradition in Würzburg war. Große wissenschaftliche Interessen haben ihn niemals geplagt,[119] aber er war bei den Studenten wegen seiner Jovialität recht beliebt und in unserem chemischen Kreise wegen seines köstlichen Humors und seiner freundlichen Lebensauffassung ein gern gesehenes Mitglied. Auch ich bin mit ihm aufs beste ausgekommen. Nach meinem Weggang ist er zum Ordinarius befördert worden und vor einigen Jahren auch schon zu den Vätern gegangen. Am Feldzug 1870 hatte er als bayerischer Offizier teilgenommen und war bei Orleans verwundet in Gefangenschaft geraten. Seine Schilderungen über die schlechte Behandlung und gehässige Verhöhnung von seiten der französischen Bevölkerung stimmte genau mit dem überein, was man heute über die Behandlung deutscher Kriegsgefangener in Frankreich hört, obschon der damalige Krieg so rasch zu Ende ging und die Volksleidenschaft keineswegs so aufpeitschte, wie der jetzige. Die philologisch-historische Klasse der philosophischen Fakultät zählte außer dem klassischen Philologen und Archäologen Urlich wenig hervorragende Männer. Ganz anders war es in der medizinischen Fakultät, zu deren Mitgliedern ich vielerlei Beziehungen hatte. Von Erlangen mit uns übergesiedelt, war Wilhelm Leube der Nachfolger des nach Berlin berufenen Professors Gerhardt in der inneren Klinik des Julius-Hospitals geworden; er verstand es, die große Tradition dieser Stelle in jeder Beziehung zu wahren. Neben ihm stand der Chirurg Maass, ein geschickter Operateur, anregender Lehrer und trefflicher Gesellschafter. Leider ist er in ziemlich frühem Alter gestorben. Als Senior stand an der Spitze der Fakultät der Anatom Albert Kölliker, ein geborener Schweizer. Er genoß in seiner Wissenschaft durch die Fülle wertvoller Untersuchungen großes Ansehen. Seinem Einfluß war es zuzuschreiben, daß die Anatomie äußerlich das schönste Institut hatte und in dem Unterricht der Mediziner eine überragende Rolle spielte. Nebenher war er ein ungewöhnlich schöner Mann, mit feinem Gesicht, weißem Lockenhaar, klugen dunklen Augen und einer zarten, fast frauenhaften Hautfarbe. Auf die Chemie muß er früher einen kleinen Pik gehabt haben; denn es wurde von ihm der Ausspruch kolportiert, den dümmsten seiner Söhne lasse er Chemiker werden, wozu die boshaften Würzburger den Zusatz machten, er habe tatsächlich auch den richtigen ausgesucht.

Mir ist er immer nur mit Freundlichkeit begegnet. Sein Prosektor war der außerordentliche Professor Stöhr, ein geborener Würzburger, ein sehr behaglicher und liebenswürdiger Mann, der auch Nachfolger von Kölliker geworden ist. Durch Originalität zeichnete sich aus der Polikliniker Geigel, ein Meister in der Abfassung von feinen und leicht ironischen Gutachten, deren sich die Fakultät stets bediente, wenn sie unbequeme Zumutungen des Ministeriums in München bekämpfen wollte. Er war das Haupt einer Musikbande, die aus Würzburger Professoren[120] oder Bürgern z.B. den beiden Brüdern Stöhr und dem Pharmakologen Kunkel bestand. Während der Herbstferien hauste diese Gesellschaft zu Ammerland am Starnberger See und gab täglich kleine Konzerte, wobei das Hornblasen die Hauptrolle spielte.

Als Geburtshelfer fungierte damals noch der einst so berühmte Scanzoni, er starb aber bald und wurde durch Hofmeier ersetzt. Ganz besonders muß ich aber erwähnen den Augenarzt Julius Michel, einen lustigen Pfälzer, der vor meiner Zeit auch in Erlangen gewesen war und mit dem ich mich recht befreundet habe. Obschon er es mit seiner ärztlichen Kunst und auch der Wissenschaft sehr ernst nahm, und sowohl als Arzt wie als Gelehrter einen guten Ruf genoß, so war ihm das Reißen von losen Witzen ein richtiges Lebensbedürfnis geworden. In der Gesellschaft bildete er deshalb ein belebendes Element, und wir haben in dem gastfreien Hause Leube nicht selten stundenlang seinen Späßen mit Vergnügen zugehört. Auch in ernsten Augenblicken konnte er Witze nicht unterdrücken, und seine Vorlesung war in dieser Beziehung etwas Besonderes. Ich will nur ein Beispiel anführen: Eines Tages hatte er einen Kandidaten der Medizin namens Jerusalem zu prüfen. Das Resultat war ungenügend, und nun verkündete er der Schar der Freunde des Kandidaten das Resultat mit den Worten: »Israel weine, Jerusalem ist gefallen.« Boshafte Leute haben allerdings hinterher behauptet, er hätte den Kandidaten nur durchfallen lassen, um diesen Witz machen zu können. Er war unverheiratet, führte aber einen trefflich geleiteten Haushalt und gab kleine Feste, bei denen ausgelassene Fröhlichkeit herrschte.

Ich hatte einmal mit einem Assistenten zusammen das kleine Unglück, daß uns ein stark gefärbtes chemisches Präparat beim Platzen eines Preßsackes ins Gesicht flog und die Augen nicht allein ganz verschmierte, sondern auch reizte. Wir hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Universitätsklinik aufzusuchen. Freund Michel hat uns sofort sorgfältig gesäubert. Als aber die Harmlosigkeit der Sache festgestellt war, machte es ihm ein besonderes Vergnügen, in dem Buch der Poliklinik ein ausführliches Protokoll über diesen seltenen Fall niederzuschreiben, wobei er durch eine ganze Reihe von langen chemischen Namen seine wissenschaftliche Bedeutung zu illustrieren wußte. Ich habe später in Berlin, wohin er etwa 10 Jahre nach mir berufen wurde, seine Hilfe nochmals in Anspruch nehmen müssen, ebenfalls mit bestem Erfolg. Ich wurde damals von leichtem, aber anhaltendem Kopfschmerz geplagt, der sich bis zur Übelkeit steigern konnte, und die Ärzte, die ich frug, stellten ganz besorgte Diagnosen auf Zirkulationsstörungen und dergl. Da ich aber die Beobachtung machte, daß der Zustand am schlimmsten war, wenn ich tags zuvor stundenlang gelesen hatte, so kam ich schließlich[121] auf die Vermutung, daß das von mir benutzte Augenglas, das ich mir einstmals selbst beim Optiker ausgesucht und dann länger als 20 Jahre unverändert getragen hatte, Schuld daran haben könne. Ich ging deshalb zum Freund Michel, und nachdem er die Augen sowie das Glas untersucht hatte, faßte er sein Urteil in folgende Worte zusammen: »Die Kopfschmerzen hätten Sie längst verdient, man sagt doch, Sie seien sonst nicht so dumm.« Er verschrieb mir dann die richtige Brille, und die Kopfschmerzen, die mich viele Wochen geplagt hatten, waren wie weggeblasen. Niemals ist bei mir eine Kur von so glänzendem und raschem Erfolge begleitet gewesen.

Von den Juristen sind mir außer dem schon erwähnten Verwaltungsdirektor Risch der Pandektist Burkhardt und der Nationalökonom Schanz im Gedächtnis geblieben. Auch an einige Theologen erinnere ich mich gerne. Es waren katholische Herren, aber keineswegs vom Kaliber der sogen. Hetzkapläne, sondern zum Teil sehr gebildete, feinfühlige und joviale Herren. Mit dem Senior der Fakultät, den sie den Bischofsmacher nannten, bin ich öfters auf dem alten Glacis der Stadt, das so hübsche Spaziergänge bot, zusammengetroffen, und wir haben uns stundenlang in freiester Weise über Kirche, Staat und Gesellschaft unterhalten. Er war im Collegium Germanicum im Rom erzogen, hatte ein lesenswertes Buch über Kirche und Staat geschrieben, und ich habe von ihm vieles über die Institutionen der katholischen Kirche, besonders über die praktische Seelsorge gehört, was mich in höchstem Grade interessieren mußte. Ob dieser Verkehr mir in den katholischen Kreisen trotz meiner protestantischen Abstammung Vertrauen verschaffte, kann ich nicht sagen, aber ich erlebte doch eines Tages die Überraschung, daß etwa 25 katholische Theologen als eingeschriebene Hörer meine Vorlesung über anorganische Chemie besuchten. Auf meine Frage, wie die Herren dazu kämen, wurde mir die Antwort, der Bischof von Speyer habe es befohlen. Wahrscheinlich hatte dieser kirchliche Würdenträger den Wunsch, daß der in seiner Diözese tätige Klerus gewisse chemische Kenntnisse besitze, um besser mit den Arbeitern der zahlreichen chemischen Fabriken in der dortigen Gegend sich verständigen zu können. Auch der Religionslehrer des katholischen Gymnasiums war mein Zuhörer, und er erklärte mir eines Tages, er könne die Lehren der modernen Chemie in dem Religionsunterricht vortrefflich verwerten. Ich habe daraus den Schluß gezogen, daß Naturwissenschaft und Religion keine grundsätzlichen Gegner zu sein brauchen.

In Würzburg bestehen zwei wissenschaftliche Gesellschaften, an deren Arbeiten ich mich gerne beteiligt habe. Die ältere und allgemeinere führte den Namen physikalisch-medizinische Gesellschaft; ihre Mitglieder waren meistens Professoren und Dozenten. Die jüngere chemische[122] Gesellschaft war erst von J. Wislicenus gegründet worden. Zu ihr gehörten selbstverständlich die Professoren und Assistenten der beiden chemischen Institute, aber die Mehrzahl der Mitglieder waren doch ältere Studenten. Auch hier wurden Originalvorträge, jedoch häufiger große Referate über fremde Arbeiten gegeben und daneben spielte die Geselligkeit eine Hauptrolle. Den Höhepunkt erreichte diese bei den alljährlichen Stiftungsfesten, zu denen viel frühere Mitglieder von auswärts und auch zahlreiche Professoren der philosophischen und medizinischen Fakultät erschienen. Gewöhnlich gab es dabei außer witzigen Tischreden und Vorträgen auch ein Festspiel. Mir sind zwei in Erinnerung geblieben. In dem einen wurde das Doktorexamen eines Chemikers auf die Bühne gebracht mit sehr komischen und drastischen Ausfällen gegen die bekannte Prüfungsweise einzelner Professoren, so daß der Dekan der Fakultät, ein Philologe, unwillig den Saal verließ, während das übrige Publikum sich köstlich unterhielt. Die zweite Aufführung war eine Operette »Der Chemikado« mit den Melodien des Mikado und einem sehr witzigen Text von Dr. Reitzenstein. Die Kostüme und die Haartrachten hatte das Stadttheater geliehen. Der Mikado war mein früher erwähnter, lieber Neffe Alfred Mauritz, der da mals in Würzburg Chemie studierte, und von dem ich in späteren Jahren noch viel Freundschaft erfahren habe. Er trug meinen Laboratoriumsanzug und Hut, sprach den niederrheinischen Dialekt und trat als einziger Europäer in der japanischen Gesellschaft um so mehr hervor. Ich besitze eine Photographie der Schauspieler, deren Anblick mich noch jetzt zum Lachen bringt.

Die chemische Gesellschaft hat auch nach meiner Zeit ihre Tradition zu wahren gewußt und von Dr. Reitzenstein ist noch manches hübsche Festspiel verfaßt worden. Wegen Zeitmangel habe ich leider an den Stiftungsfesten von Berlin aus nicht teilnehmen können, aber beim 25-jährigen Jubiläum hielt ich mich für verpflichtet, meine Absage in gereimte Form zu kleiden, und da es eins der wenigen Gedichte ist, die ich verfaßt habe, so will ich das Telegramm hier anführen.


Chemische Gesellschaft Würzburg.


»Zum fröhlichen Feste

Glückwünsch ich das Beste.

Blüh' immer so weiter

Und bleib auch stets heiter,

Grüß' alle Bekannte

Und chemisch Verwandte

Vom alten Giftmischer

Aemilius Fischer.«


Als Antwort der Gesellschaft traf prompt ein liebenswürdiger Vers von Dr. Reitzenstein ein.[123]

Daß in Würzburg Fröhlichkeit und Humor blühten, war kein Wunder. Die freundliche Stadt mit dem prächtigen Schlosse, dem lieblichen Flusse, den schönen Glacis-Anlagen und den rebenbekränzten Bergen, die behagliche unterfränkische Bevölkerung und die alte Tradition des Krummstabes waren wohl geeignet, die an und für sich schon heitere Stimmung der akademischen Gesellschaft zu verstärken. Der Verkehr der Professoren untereinander und auch mit den Studenten war leicht und gemütlich und nahm nur zeitweise, z.B. bei den Prüfungen eine ernstere Form an. Trotzdem herrschte unter der Studentenschaft ein guter Geist; denn es wurde im allgemeinen in Würzburg ziemlich viel gearbeitet und in dem chemischen Laboratorium konnte man sich über Mangel an Fleiß nicht beklagen. Der größere Teil der Studentenschaft bestand aus Norddeutschen. Dasselbe galt von den Professoren, und von dem Partikularismus, der der bayerischen Regierung öfters bei Berufung der Professoren vorgeworfen wurde, war in Würzburg nichts zu merken. Hatte man doch an die Universität der alten Bischofsstadt, die nur eine katholisch-theologische Fakultät besaß, als Lehrer des Kirchenrechts einen Protestanten berufen! Eine Einmischung in Berufsgeschäfte ist allerdings von der ultramontanen Kammermehrheit öfters versucht, aber vom damaligen Kultusminister Dr. Lutz meist erfolgreich zurückgewiesen worden. Auch der Familienverkehr wurde in Würzburg in anmutiger Form zwischen den verschiedenen Fakultäten gepflegt und im ersten Winter war die Erlanger Kompagnie, d.h. die Ehepaare Leube und Knorr sowie meine Wenigkeit, bei den üblichen Abendessen das Objekt einer feierlichen Begrüßung. Die Antwort darauf haben wir abwechselnd gegeben, und diese erste Tischrede ist nicht selten für die akademische Gesellschaft der kritische Maßstab, den sie an neue Mitglieder anlegt. Ich mußte bei Kohlrauschs reden und hatte mir einen launigen Toast überlegt. In ihm spielte zum Schluß die Elektrizität eine Rolle, indem ich die einzelnen Damen den damals frisch erfundenen Glühlampen verglich und für die Hausfrau die Bogenlampe reservierte. Nun glaube alle Welt, daß ich mich in diesem Bilde wie in einem Spinnetz verwickeln und höchstens durch einen brutalen Riß wieder befreien könnte. Aber glücklicherweise fiel mir ein, daß von der Bogenlampe zur Sonne rhetorisch nur ein kurzer Sprung nötig sei, und damit hatte ich das poetische Bild gewonnen, um die Hausfrau würdig zu preisen und die Zustimmung der Tischgesellschaft zu einem Hoch zu gewinnen.

Dauernden Familienverkehr habe ich aber nur bei Knorrs und ganz besonders bei dem lieben Ehepaar Leube gehabt. Die Woche mindestens einmal sind wir dort zusammengekommen. Gewöhnlich waren Michel und noch einige andere Freunde mit dabei, und wir[124] haben bei einfachem Abendmahl überaus lustige Stunden verlebt. Leube war ein prächtiger Gesellschafter, klug, wissenschaftlich gut unterrichtet und mit den reichen Erfahrungen des erfolgreichen Arztes versehen. Er kannte eine große Anzahl von Menschen, die seinen ärztlichen Rat in Anspruch nahmen, hielt schöne Reden und machte allerliebste Gelegenheitsgedichte.

Seine liebe Frau Natalie fühlte sich mir chemisch verwandt; denn sie war, wie ich schon früher erwähnte, die Tochter von Adolf Strecker, der als Professor der Chemie in Würzburg starb. Sie selbst hatte sich in dem chemischen Institut als 18-jähriges Fräulein mit ihrem Wilhelm verlobt. Dazu kam, daß ich zufälligerweise bei mehreren chemischen Arbeiten, z.B. bei den Hydrazinen und dem Coffein der wissenschaftliche Erbe von Strecker geworden war. Kurz nach meiner Verheiratung hat das Ehepaar Leube mir die Duzfreundschaft angeboten, und wir stehen noch jetzt, wo Leubes in Stuttgart ein behagliches Alter verleben, in freundschaftlichem Briefwechsel. Die älteste Tochter Lilly hat den Gynäkologen Bumm, der jetzt ebenfalls an der Berliner Universität tätig ist, geheiratet. Die drei anderen Töchter sind die Frauen von Offizieren geworden. Leube hat mir auch in Krankheitsfällen wertvolle Dienste geleistet und meinen ältesten Sohn Hermann in frühester Jugend bei einem schweren Darmkatarrh geradezu vor dem Tode bewahrt.

Frau Leube hatte schon in Erlangen die gute Absicht, mir eine Frau zu verschaffen und glaubte das geeignete Mädchen dafür in Fräulein Agnes Gerlach in Erlangen gefunden zu haben. Aber meine Gleichgültigkeit in Sachen der Liebe und die Überhäufung mit wissenschaftlichen Problemen waren ihren Plänen nicht günstig gewesen, und schließlich trat noch als zweites Hindernis meine Erkrankung und die Befürchtung eines Rückfalles dazwischen. Aber Frauen geben so leicht ihre Lieblingsideen nicht auf, und so wußte sie das durch Liebreiz ausgezeichnete Fräulein wiederholt zu Besuchen in Würzburg zu veranlassen. Sie wurde dabei auf das kräftigste unterstützt von Frau Dr. Knorr, die sich ebenfalls mit Fräulein Gerlach angefreundet hatte. Bei einem dieser Besuche ist es dann auch wirklich zur Verlobung zwischen dem Fräulein und mir gekommen. Es war am 1. Dezember 1887, wo ich selbst 35 Jahre und meine Braut 26 Jahre alt war. Die Hochzeit fand statt in Erlangen am Sonnabend den 22. Februar 1888, kurz vor Karneval, so daß ich 4 Tage Ferien hatte, um mich in den neuen Zustand hineinzugewöhnen. Wir mußten noch einige Wochen in Würzburg bleiben und haben dann Mitte März bei Beginn der Osterferien eine vierwöchentliche Reise nach Italien gemacht. Über diese Dinge will ich aber nicht Näheres berichten, weil die Schließung des Ehebundes[125] eine zu intime Sache ist. Ich kann nur sagen, daß meine liebe Frau ein durch körperliche Schönheit, Reinheit der Seele und Sanftmut ausgezeichnetes Wesen war. Ihre Eltern hatten sie auf den Händen getragen und dadurch vielleicht zu sehr verwöhnt; denn die Pflichten der Ehe und die Führung eines großen Haushaltes haben ihr namentlich in Berlin den ruhigen Lebensgenuß stark verkürzt und eine gewisse Gleichgültigkeit gegen ihre eigene Wohlfahrt erzeugt, die bei ihrer letzten Krankheit einen unglückseligen Einfluß ausübte und vielleicht mit an ihrem Tode schuld gewesen ist. Sie starb am 12. November 1895 in Berlin an einer Meningitis infolge einer Mittelohrentzündung, wahrscheinlich weil die rettende Operation wegen des Widerstandes der Patientin zu spät ausgeführt wurde. In Würzburg hat sie mir zwei Söhne geschenkt.

Der älteste Hermann Otto Lorenz wurde geboren am 16. Dezember 1888 und war von Anfang an ein kräftiges gesundes Kind. Dem entsprach auch seine spätere Entwicklung. Er hat nur eine gefährliche Krankheit mit zwei Jahren durchgemacht, einen Magen- und Darmkatarrh, da der Hausarzt törichterweise von vornherein ein Stopfmittel gab und dadurch einen hartnäckigen, gefährlichen Darmverschluß herbeiführte. Das Kind wäre sicher gestorben und zwar an Verdurstung, wenn wir ihm nicht auf Rat von Leube zuguterletzt per anum eine große Menge Wasser hätten zuführen können.

Die Geburt des zweiten Knaben, die am 5. Juli 1891 stattfand, war verfrüht und das Kind infolgedessen schwach. Es hat sich zwar später ziemlich rasch erholt. Aber als wir nach Berlin übersiedelten, hatte der jetz ganz kräftige Knabe unter der schlechten Milch der Großstadt zu leiden. Er bekam infolgedessen im Juni 93 einen anhaltenden Darmkatarrh und im Herbst desselben Jahres das Scharlachfieber, gefolgt von einem sehr häßlichen Bronchialkatarrh. Diese Umstände haben vielleicht ungünstig auf das Nervensystem des Kindes gewirkt. Trotzdem entwickelte er sich zu einem großen, starken und geistig regsamen Jüngling, der mit Leichtigkeit die Schule absolvierte und mit 18 Jahren die Universität bezog. Ohne sich eine Erholungspause nach dem Gymnasium zu gönnen, stürzte er sich mit Feuereifer auf das Studium der Medizin. Alles sprach bei ihm für eine hoffnungsvolle Zukunft, als der Sommer 1910 eine jähe Schädigung der Gesundheit brachte. Er hatte hartnäckig auf der Absicht bestanden, in dem Sommer als Mediziner das vorgeschriebene halbe Jahr mit der Waffe zu dienen und geriet zu seinem Unglück in ein Infanterieregiment zu Jena. Durch den forcierten Militärdienst des Sommers ist der noch nicht genug entwickelte, ungewöhnlich große junge Mann überanstrengt worden. Er bekam Herzbeschwerden und wurde vom Militär entlassen. Die[126] Krankheit war an und für sich wohl nicht schlimm, aber sie übte auf das Gemüt des jungen Mannes einen verderblichen Einfluß aus, denn er sah, wie es bei jungen Medizinern nicht selten ist, die Krankheit in einem besonders düstern Bilde. Er setzte zwar seine Studien fort und bestand im Frühjahr 1912 in Heidelberg mit Auszeichnung die ärztliche Vorprüfung, studierte dann zwei Semester in Würzburg und kam wegen militärischer Dinge im Sommer 1913 wieder nach Berlin. Aber hier brach er nervös zusammen. Seine Arbeitskraft war erschöpft. Er glaubte immer kränker zu werden, ließ sich im Herbst nach Nauheim, später nach Meran schicken und verfiel in eine tiefe Melancholie. Weder ich noch die behandelnden Ärzte haben seinen Zustand richtig erkannt, sonst hätte man vielleicht der fortschreitenden geistigen Erkrankung vorbeugen können. So aber kam es im November in Meran zum offenkundigen Ausbruch der Geisteskrankheit. Durch einen mehrmonatlichen Aufenthalt bei Binswanger in Jena gelang eine zeitweise Heilung. Er blieb noch den Sommer als Studierender in Jena. Obschon aus dem Militärverhältnis entlassen, hatte er sich auf eine Anfrage der Militärmedizinalbehörde verpflichtet, im Kriegsfalle ärztliche Hilfsdienst zu leisten. Dementsprechend wurde er im September 1914 als Unterarzt an ein Lazarett zu Erfurt kommandiert. Diese Tätigkeit hat ihm anfangs zugesagt und gutgetan, aber nach 5 Monaten kam er in Streit mit dem Vorgesetzten und im Anschluß daran erfolgte ein neuer Ausbruch seiner Krankheit. Er ist dann wiederholt bei Binswanger gewesen, ohne aber seine Arbeitskraft wiederzugewinnen. Manchmal schien es, als sei die Krankheit ganz gehoben, so ruhig und vernünftig wußte er sich zu geben. Als ich im August 1916 mit ihm einen mehrwöchigen Aufenthalt in St. Blasien genommen hatte, war ich voller Hoffnung, daß die Heilung anhalte. Aber plötzlich kam ein Rückfall, schlimmer als die vorhergehenden. Wir kehrten nach Wannsee zurück, und er ging dann bald wieder zu seinem Freund Binswanger. Hier verschlimmerte sich der Zustand, er mußte in eine geschlossene Anstalt aufgenommen werden und das Bewußtsein, nun aller Wahrscheinlichkeit nach ein verlorener Mensch zu sein, hat ihn im Zustand tiefer Depression zu dem Entschluß geführt, freiwillig in den Tod zu gehen. Er ist am 4. November 1916 im Alter von 25 Jahren gestorben und ruht auf dem kleinen Friedhof zu Wannsee. Ein lieber, guter Sohn, ein talentvoller und strebsamer junger Mann ist mit ihm dahingegangen.

Mein dritter Sohn Alfred Leonhard Joseph wurde geboren am 3. Oktober 1894 zu Ambach am Starnberger See. Ich war damals bereits in Berlin und meine Frau wollte nur für einige Wochen ihre Eltern in Ambach besuchen. Da sie in hoffnungsvollem Zustand war und schon früher einmal Unglück gehabt hatte, so hielt ich die Reise[127] für zu gewagt. Aber mit Rücksicht auf das hohe Alter ihres Vaters ließ sie sich nicht abhalten. Die Folge war, daß sie sich in Ambach gleich zu Bett legen und 5 Monate bis zur Geburt des Knaben liegen mußte. Auch dieser kam sehr zart auf die Welt. Er wurde später ebenfalls ein kräftiger Mann, hatte aber eine sehr empfindliche Haut und litt von Zeit zu Zeit an nervösen Kopfschmerzen. In frühester Jugend hatte er im Sommer in Wannsee zweimal hintereinander einen malariaartigen Zustand durchgemacht, bis wir unseren Wohnsitz dort auf die Höhe verlegten. Auch er war begabt, fleißig und ein guter Schüler, verließ mit 18 Jahren das Gymnasium und wollte wie der älteste Bruder Chemiker werden. Ich riet ihm aber davon ab wegen der großen Empfindlichkeit seiner Haut und seiner Kopfnerven. Er studierte deshalb zunächst Physik, verließ diese aber schon nach zwei Semestern und wurde Mediziner. Während er in Heidelberg studierte, brach der Krieg aus. Er meldete sich zunächst freiwillig, wurde aber zurückgestellt. Im Januar 15 trat er bei einem Artillerieregiment in Berlin ein. Nach erfolgter Ausbildung ging er im September desselben Jahres ins Feld und fand bei der Munitionskolonne, bei der sein Bruder Hermann Leutnant war, als Sanitätsgefreiter Verwendung. Hier wurde er bald zum Unteroffizier befördert. Im Juli 1916 hat er während seines letzten Urlaubs in Heidelberg die ärztliche Vorprüfung mit Auszeichnung bestanden. Im August desselben Jahres wurde er mit der Munitionskolonne nach Rumänien geschickt, und die beiden Brüder haben damals den Vormarsch in der Dobrudscha mitgemacht. Hier wurde er zum Feldunterarzt befördert. Während der ältere Bruder nach einer 6-wöchentlichen Ausbildung in Berlin Gasschutzoffizier wurde und dann als solcher den Vormarsch der deutschen Armee in Rumänien im Hauptquartier von Falkenhayn mitmachte, kam Alfred in verschiedene Spitäler und zuletzt zu seinem Unglück in ein Seuchenlazarett zu Bukarest, wo die sanitären Verhältnisse nach seiner eigenen Schilderung recht schlecht waren. Hier hat er sich an fleckfieberkranken Türken infiziert und ist nach 14tägiger Krankheit am 29. März 1917 gestorben. Er wurde auf dem Ehrenfriedhof zu Bukarest beerdigt, und sein Bruder Hermann, der damals in Focsani stand, konnte ihm mit kurzem Urlaub die letzte Ehre erweisen. Er war ebenfalls ein sehr lieber, verständiger und begabter Mensch von vornehmer Gesinnung und sehr geschickt im Verkehr mit dem Volke. Wahrscheinlich wäre er ein ausgezeichneter Arzt, vielleicht auch ein erfolgreicher Forscher geworden.

Im Sommer 1888 war der hochbetagte Robert Bunsen vom Lehramt zurückgetreten. Die Professur wurde zunächst Victor Meyer angeboten, der aber nach einigem Zögern ablehnte und in Göttingen bleiben wollte. Darauf erhielt ich den Ruf und der betreffende Referent des[128] badischen Ministeriums kam zur Unterhandlung mit mir nach Würzburg. Die Bedingungen waren im allgemeinen recht günstig und obschon ich gerne in Würzburg war, hatte Heidelberg doch für mich und noch mehr für meine Frau eine gewisse Anziehungskraft. Wir sind deshalb zusammen im Frühjahr 89 nach Heidelberg gefahren, um uns über alle Einzelheiten zu unterrichten. Im Hotel trafen wir bereits Exzellenz Bunsen, der seine Dienstwohnung aufgegeben und einstweilen Quartier im Gasthaus genommen hatte. Der verehrungswürdige alte Herr empfing uns mit großer Höflichkeit und suchte uns die Vorzüge der Heidelberger Stelle möglichst klar zu machen.

Als ich nach der ersten Unterredung meine Frau frug, welchen Eindruck sie von dem großen Chemiker empfangen hatte, erwiderte sie lachend: »Erst möchte ich ihn waschen und dann küssen; denn er ist ein gar lieber Mann.«

Am nächsten Morgen zeigte uns Bunsen das von ihm erbaute und so lange benutzte Laboratorium am Wredeplatze. Er war ganz verliebt in das alte Haus, das allerdings die Weihe einer großen Tradition und gewaltigen wissenschaftlichen Arbeit trug. Aber die Hilfsmittel waren doch im Vergleich zur Neuzeit recht bescheiden. Die Ventilation wurde noch wie in den alten Alchemistenküchen durch einen großen Rauchfang besorgt und auf meine Frage, ob das genüge, erklärte der alte Herr: »Wir haben hier die reine Gartenluft.« Im Gegensatz dazu meinte dann der Assistent, an den ich mich noch vertraulich wandte, daß der Gestank meist unausstehlich sei.

Als wir zum Schluß auch die Dienstwohnung besichtigen wollten, führte uns zwar Bunsen bis zur Eingangstür, zog dann aber einen riesigen Schlüsselbund hervor und prüfte jeden einzelnen Schlüssel, ob er zum Schloß passe. Der Versuch fiel negativ aus und das Resultat wurde bei mehrmaliger Wiederholung nicht besser, so daß ich schließlich den alten Herrn bitten mußte, seine Bemühungen einzustellen. Hinterher habe ich erfahren, daß die Operation mit dem Schlüssel eine Komödie war. Bunsen wollte uns einfach die Wohnung nicht zeigen, weil er fürchtete, sie würde meiner Frau ebenso wie Frau Meyer mißfallen und einen Grund zur Ablehnung des Rufes bilden. Darin hatte er sich allerdings geirrt. Nicht die Wohnung, sondern die Maßregeln, die man zur Erweiterung des Instituts getroffen hatte, und die nach meiner Ansicht nur eine Flickerei bedeuteten, waren für mich bestimmend, in Würzburg zu bleiben, nachdem man mir dort einen Neubau des Instituts in Aussicht gestellt hatte. Inzwischen war bei Meyer ein gründlicher Stimmungswechsel eingetreten, er bedauerte außerordentlich, nicht nach Heidelberg gegangen zu sein und besuchte mich umgehend in Würzburg, um mich darüber aufzuklären. Wir wurden rasch einig;[129] denn mir war es lieb, absagen zu können, ohne daß der alte Bunsen und die Heidelberger Fakultät sich über mangelnde Schätzung der dortigen Professur zu beklagen hätten. Mit dem Ministerium zu Karlsruhe wurde die Angelegenheit telegraphisch erledigt und Meyer ist dann, wie bekannt, nach Heidelberg gegangen. Das alte Bunsen'sche Laboratorium blieb im Betrieb, wurde aber durch einen Neubau für die organische Abteilung ergänzt. Ich habe mir später das vergrößerte Laboratorium angesehen und die Überzeugung gewonnen, daß meine ursprüngliche Ansicht richtig war. Man hätte mit demselben Gelde einen sehr viel größeren und zweckmäßigeren Neubau 10 Minuten vor der Stadt errichten können.

Die Universitätsverwaltung zu Würzburg und das Kultusministerium zu München gaben ihren Dank für mein Bleiben sofort zu erkennen; denn sie beantragten den Neubau des chemischen Instituts, wofür die Stadt einen prächtigen Bauplatz am Pleichering für die Überlassung des alten Gebäudes in der Maxstraße zur Verfügung stellte. Außerdem wurde für mich eine Gehaltszulage von 1000 Mk. in Aussicht gestellt, ohne daß ich in diesem Punkt eine Forderung gestellt hatte. Aber beide Positionen bedurften der Genehmigung durch den bayerischen Landtag. Sie wurden von der ultramontanen Mehrheit in schroffer Weise abgelehnt und die Gehaltszulage sogar zum zweiten Male, als die Kammer der Reichsräte die kleine Summe in den Etat wieder eingestellt hatte. Der Grund dieser schlechten Behandlung ist mir erst einige Jahre später bekannt geworden. Zum Trost dafür wurde mir zunächst ein bayerischer Orden verliehen und bald nachher auch die Gehaltszulage gewährt, nachdem die Mittel dafür durch einen Sterbefall frei geworden waren. Die Forderung für den Neubau mit 650000 M. mußte allerdings um 2 Jahre, d.h. bis zur nächsten Haushaltsperiode verschoben werden. Die Sache nahm dann einen sehr lustigen und für bayerische Verhältnisse so charakteristischen Verlauf, daß ich sie hier in den Einzelheiten mitteilen will.

Um die von der Regierung betonte Notwendigkeit eines Neubaues für das chemische Institut an Ort und Stelle zu prüfen, erschien eine Kommission des Landtages in Würzburg. Sie bestand aus dem Ministerialbeamten Dr. Bumm, dem Vertreter der ultramontanen Mehrheit Dr. Daller und dem Vertreter der liberalen Minderheit Dr. Schauß. Letzterer hatte die Freundlichkeit, mich vor der offiziellen Besichtigung im Institut aufzusuchen, da er mich von der Münchener Zeit her persönlich kannte. Er eröffnete die Unterredung mit der Frage: »Wie kommen Sie als gut katholischer Mann dazu, Ihre Kinder protestantisch taufen zu lassen?« Auf meine Erklärung, daß ich stets protestantisch gewesen sei, erwiderte er: »Herrgott, dann ist Ihnen ja vor zwei Jahren[130] schweres Unrecht geschehen«, wobei er die schlechte Behandlung von seiten des bayerischen Landtages im Auge hatte. Als ich aber dann zufügte, daß meine Frau katholisch sei, erklärte er lachend: »Nun, das ist noch viel schlimmer, dann haben Sie also die Strafe von damals redlich verdient.«

Bald nachher hatten wir die Ehre, die Kommission zu empfangen. Damit das in würdiger Weise geschehe, waren nach Verabredung mit den Assistenten und Studenten Vorbereitungen getroffen, nicht mit Blumen oder weißgekleideten Jungfrauen, sondern auf viel wirksamere Weise mit den stärksten Riechstoffen der Chemie. Brom, Schwefelwasserstoff, Ammoniak, Mercaptan, Skatol, Isonitril, Kakodyl hatten dazu gedient, die verschiedenen Räume des Instituts mit einer infernalischen Atmosphäre zu erfüllen, um den Mitgliedern der Kommission die ungenügende Größe und schlechte Ventilation überzeugend ad nasum zu demonstrieren. Ich sehe noch die erstaunten Gesichter der Herren, die sich tapfer durch die Gerüche durcharbeiteten, und als wir schließlich im Keller angelangt waren, atmete die ganze Gesellschaft auf und erklärte, daß hier die Luft bei weitem am besten sei.

Meine Aufgabe war es selbstverständlich, Herrn Dr. Daller für den Neubau zu gewinnen, und ich bot dafür alle mir zu Gebote stehende Beredsamkeit auf. Als kluger Mann hielt er sich für verpflichtet, auch billigere Möglichkeiten, z.B. einen Umbau des alten Instituts, zu erwägen.

Als ich diesen Gedanken zurückwies, weil das Haus in der Grundlage verfehlt sei, stellte er die überraschende, aber gewiß nicht unberechtigte Frage: »Wer garantiert uns denn dafür, daß solche Eselei nicht wieder passiert?« Ich war selbstbewußt genug, für meine Person die Eselei entschieden abzulehnen und hatte den Eindruck, daß sowohl Dr. Daller, wie die beiden anderen Herren von meinen Darlegungen befriedigt seien. In der Tat wurde mehrere Wochen später die Summe für den Neubau von dem Landtag ohne jeden Abstrich bewilligt, und ich war auf diesen scheinbaren Erfolg meiner Bemühungen ziemlich stolz.

Als ich aber ein halb Jahr später Adolf von Baeyer in München besuchte und ihm den Verlauf der Verhandlungen über den Neubau des Würzburger Instituts erzählte, erfuhr ich mit einem gewissen Gefühl der Enttäuschung, daß der Gesinnungswechsel bei Dr. Daller nicht durch meine Beredsamkeit und sonstige Veranstaltungen herbeigeführt worden wäre, sondern durch den Eingriff eines meiner alten Schüler aus der Münchener Periode, Dr. Brandl, durch den ich die früher erwähnte kleine Arbeit über die Bestimmung des Fluors in Silicaten hatte ausführen lassen. Dieser Herr war mit Dr. Daller engbefreundet und hatte ihm ernste Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung gemacht,[131] die mir von Seiten des bayerischen Landtages zwei Jahre vorher zuteil geworden war. Das war der Grund, warum Dr. Daller nunmehr für den Neubau des Instituts eintrat und die ungekürzte Bewilligung der Bausumme befürwortete.

Für die Begründung der Forderung an den Landtag hatten der Universitätsbaumeister von Horstig und ich einen provisorischen Bauplan entworfen und erhielten nun von der Regierung in München plötzlich den überraschenden Auftrag, diesen mit der vom Landtag bewilligten Summe auszuführen. Ich erklärte darauf kurzweg der Universitätsverwaltung, daß der Plan durchaus unreif sei und erst durch ein neues, nach jeder Richtung hin durchdachtes Projekt ersetzt werden müsse. Aber dazu hatte der Universitätsbaumeister keine rechte Lust, weil ihm inzwischen auch die Aufgabe zugefallen war, ein neues Haus für die gesamte Universität zu bauen. Es mußte also für das Institut ein besonderer Baumeister gesucht werden. Diese Aufgabe fiel wieder mir zu, und durch fleißige Erkundigungen bei Sachverständigen gelang es mir auch, einen im bayerischen Staatsdienst stehenden, jungen tüchtigen Baumeister zu ermitteln. Mit meinem Vorschlag, diesem Herrn unter günstigen Bedingungen den Institutsbau in Würzburg anzuvertrauen, fand ich beim Kultusministerium in München größtes Entgegenkommen. Aber die Bauverwaltung glaubte sich durch mein Vorgehen in ihren Rechten beeinträchtigt und schlug meine Bitte rundweg ab. Infolgedessen wandte ich mich im Einverständnis mit der Universitätsverwaltung in Würzburg an den hervorragenden Architekten Professor Hase in Hannover, mit dem ich vorher in einem Briefwechsel über seinen Sohn, der in Würzburg Chemie studierte, gestanden hatte. Er empfahl uns einen tüchtigen jungen Baumeister aus dem Kreise seiner Schüler, und es kam mit dem Herrn ein Vertrag zustande. Als dieser aber zur Genehmigung den Behörden in München vorgelegt wurde, entstand dort eine große Aufregung über die Wahl eines preußischen Baumeisters und über das eigenmächtige Vorgehen von Professor Fischer. Der Vertrag wurde annulliert und die Münchener Baubehörde sandte, da sie selbst keinen geeigneten Mann zur Verfügung hatte, einen jungen schwäbischen Baumeister nach Würzburg, der sich aber hinterher als unfähig erwies. Der ganze Streit mit der Baubehörde zu München hatte aber das Gute, daß auf ihre ernsten Vorstellungen hin sich nun der tüchtige Universitätsbaumeister von Horstig noch bereit erklärte, auch den Neubau des chemischen Instituts zu übernehmen. Mit ihm zusammen habe ich dann einen neuen Plan ausgearbeitet, der nach meinem Gefühl gründlich durchdacht war und sowohl in den Raumverhältnissen, wie in den technischen Einrichtungen dem Bedürfnis der Universität Würzburg entsprach. Mit kleinen Abänderungen[132] ist er auch wirklich ausgeführt worden, allerdings erst nach meinem Weggange von Würzburg, und ich glaube, daß auch heute noch das Würzburger Institut zu den besteingerichteten Laboratorien Deutschlands gehört.

Nach alter Gewohnheit habe ich in Würzburg die Ferien regelmäßig zu kürzeren oder längeren Reisen benutzt. Ostern ging es meistens nach dem Süden. Die Reise nach Corsica 1886, wo der Skatolgeruch mich begleitete, ist früher schon erwähnt. Nach 14-tägigem Aufenthalt in Ajaccio erhielt ich den Besuch von W. Königs und R. von Pechmann, die von Nizza kamen und nach einer stürmischen Nacht in ziemlich erschütterter Verfassung auf der Insel landeten. Einige Tage später sind wir zusammen auf einem Privatwagen von Ajaccio quer durch die Insel über Corte nach Bastia gefahren. Es ist eine Strecke von etwa 120 km, und die Fahrt dauerte zwei Tage. Es war für die beiden kleinen corsischen Pferde eine achtungswerte Leistung; denn die schöne Straße führte über eine beträchtliche Paßhöhe von mehr als 1000 m. Eisenbahnverbindungen gab es damals noch nicht auf der Insel.

Wegen der Armut des Landes kamen wir etwas verhungert in Bastia an, von wo es noch in der gleichen Nacht weiter nach Livorno ging. Hier sind wir für die kleinen Entbehrungen der sonst genußreichen Landfahrt entschädigt worden durch ein opulentes Mahl, das Pechmann zusammen mit dem Chef de cuisine des Hotels zusammengestellt hatte; denn er war nicht allein ein guter Chemiker, sondern auch in der Kochkunst wohl unterrichtet. Ich bin später noch einige Male mit diesem verdienten Fachgenossen auf Reisen zusammengetroffen. Königs hat ihm einen trefflichen Nekrolog gewidmet. Ich kann hier nur bestätigen, daß er ein sehr angenehmer Reisegesellschafter war, der gerne das Amt des Reisemarschalls übernahm und dessen Anordnungen man ruhig vertrauen konnte, wenn man nicht aufs Sparen angewiesen war.

Im nächsten Jahre verbrachte ich die Osterferien zu Bordighera an der Riviera di Ponente in Gesellschaft von Baeyer und später bin ich dort wiederholt mit Baeyer und einmal auch mit Victor Meyer zusammengetroffen. Zu unserm Kreise gesellte sich auch der Dichter Ludwig Fulda, der uns bei Tisch mit allerlei Späßen und Schnurren trefflich unterhielt. Der Tag diente dann regelmäßig für Spaziergänge und Ausflüge in die prächtige Umgebung, und die Abende verbrachten wir ebenso regelmäßig in der Bierstube des Hotels mit Glücksspiel, wobei der höchste Einsatz allerdings auf 2 Soldi normiert war. Baeyer galt als der Sachverständigste, da er in jungen Jahren einmal einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Monaco gehabt und dort mit den Croupiers der Spielbank verkehrt hatte. Er war deshalb der Bankhalter, und es machte ihm großen Spaß als solcher an manchen Abenden einen[133] Gewinn von 4 bis 5 Frs. einzustreichen. Ich bin selbst immer ein Feind des Spiels gewesen, weil es von meinem Vater als eines der schlimmsten Laster so oft gerügt worden war. Aber an die Spielabende in Bordighera, bei denen allerdings die Leidenschaft nicht allzu sehr erregt wurde, denke ich doch mit Vergnügen zurück.

Für manche Leute ist freilich ein solches Spiel mit dem Spiele ein gefährliches Ding. So hat unser Freund Pechmann schwer darunter gelitten; denn der größere Teil seines Vermögens war der Spielbank zu Monte Carlo zum Opfer gefallen, und auch in späteren Jahren, wenn er in die Gegend der Bank kam, bedurfte es sorgfältiger Überwachung durch seine Freunde, wenn die Reisekasse nicht gefährdet sein sollte. Auch unter meinen späteren Berliner Kollegen habe ich solche Spielfreunde kennen gelernt, die im übrigen sehr kluge und vernünftige Leute waren. Denn die Leidenschaften sind von dem Verstande ziemlich unabhängig.

Selbstverständlich fehlte es auch bei dem Zusammenleben an der Riviera, besonders auf den Spaziergängen, nicht an wissenschaftlichen Gesprächen, und es gab wohl kaum ein wichtiges Problem der Chemie, das wir nicht behandelt hätten.

In besonderer Erinnerung ist mir eine stereochemische Frage geblieben. Im voraufgegangenen Winter 1890/91 hatte ich mich mit der Aufgabe beschäftigt, die Konfiguration der Zucker aufzuklären, ohne ganz zum Ziele zu gelangen. Da kam mir in Bordighera der Gedanke, die Entscheidung über die Konfiguration der Pentosen durch ihre Beziehungen zu den Trioxyglutarsäuren zu treffen. Leider konnte ich wegen Mangel eines Modells nicht feststellen, wieviel solcher Säuren nach der Theorie möglich seien, und ich legte deshalb die Frage Baeyer vor. Er griff solche Dinge mit großer Wärme auf und konstruierte gleich aus Zahnstochern und Brotkügelchen Kohlenstoffatommodelle. Aber nach langem Probieren gab auch er die Sache auf, angeblich, weil es ihm zu schwer wurde. Es ist mir erst später in Würzburg durch lange Betrachtung von guten Modellen gelungen, die endgültige Lösung zu finden.

Später bin ich mit Baeyer in den Osterferien wiederholt an den Genfer See, nach Territet bei Montreux gegangen, wo wir einigemale auch mit Carl Graebe, der damals Professor in Genf war, zusammentrafen. Bei Sonnenschein war der Aufenthalt am Genfer See außerordentlich erfrischend und die herrliche Umgebung gab reichlich Gelegenheit zu schönen Spaziergängen und größeren Ausflügen. Graebe war ein belebendes Element in unserem Kreise, und wenn an der langen Tafel des Grand Hotels sein helles, lautes Lachen ertönte, so wurde die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft dadurch geweckt. Durch[134] sein heiteres Wesen, seine gefälligen Umgangsformen, das kluge Urteil in wissenschaftlichen und auch rein menschlichen Dingen hat er mir so gut gefallen, daß ich mich gerne um seine Freundschaft bewarb und mit ihm wiederholt noch in späteren Jahren während der Herbstferien im Schwarzwald zusammengetroffen bin.

Mit 65 Jahren verließ er Genf, wo er mehr als ein Vierteljahrhundert als Professor der Chemie gewirkt hatte, und zog sich nach seiner Vaterstadt Frankfurt a.M. zurück, wo er jetzt noch hochbetagt, aber in körperlicher und geistiger Frische weilt. Seine großen wissenschaftlichen Arbeiten gehören der Geschichte an. Aber auch jetzt noch ist er schriftstellerisch tätig, und im vergangenen Herbst erfuhr ich zu meiner großen Freude in Baden-Baden von ihm, daß er eine Geschichte der organischen Chemie geschrieben habe, welche sicherlich das gleichartige vortreffliche Buch von Ed. v. Hjelt in glücklicher Weise ergänzen wird und von der ich hoffe, daß der Druck durch die Kriegszeit nicht verhindert wird.

Im Anschluß an einen Aufenthalt in Territet haben Baeyer und ich 1892 an dem internationalen Kongreß der Chemiker zur Reform der Nomenklatur der Kohlenstoffverbindungen in Genf teilgenommen. Er unterschied sich in vorteilhafter Weise von den lärmenden und verwirrenden internationalen Zusammenkünften wissenschaftlicher oder technischer Art, die in den letzten 20 Jahren stattfanden und die ich, wenn irgend möglich, vermieden habe. Der in Genf versammelte bestand aus etwa 60 Personen, die alle im gleichen Hotel untergebracht waren und die wie eine große Familie mehrere Tage zusammen verlebten. Auch mehrere Damen, u.a. auch meine eigene Frau nahmen an den bescheidenen, aber behaglichen, geselligen Veranstaltungen teil.

An der Spitze des Kongresses stand Charles Friedel aus Paris, ein geborener Elsässer und ein sehr sympathischer Mann; ich kannte ihn schon von einem früheren Besuch in Paris. Er begrüßte mich mit der ruhigen Freundlichkeit, die seinem Wesen eigen war. Wir haben uns lange unterhalten, weil ich ihm viel von seiner Vaterstadt Straßburg erzählen konnte, wobei er bis zu Tränen gerührt die Abtrennung seiner Heimat von Frankreich beklagte.

Auch die meisten anderen europäischen Länder waren vertreten. Eine Hauptrolle bei den Verhandlungen spielte Adolf Baeyer, der ebenfalls sich mit Nomenklaturfragen schon vielfach beschäftigt hatte und durchweg mit seinen Vorschlägen durchdrang. Über die Einzelheiten zu berichten, habe ich um so weniger Veranlassung, als die Verhandlungen ziemlich ausführlich in den chemischen Zeitschriften geschildert sind.

Von dem Ergebnis des chemischen Kongresses ist manches geblieben und wohl dauerndes Eigentum der chemischen Sprache geworden. Aber[135] die konsequente Durchführung einer rationellen Nomenklatur nach der chemischen Konstitution hat sich doch als unmöglich erwiesen, da sie schließlich zu Namen führte, die wegen ihrer Länge unbrauchbar sind. Auch das, was man vorzugsweise ins Auge gefaßt hatte, die Registrierung der Kohlenstoffverbindungen mit Hilfe solcher Namen, ist, wie man weiß, inzwischen abgelöst worden durch die praktische einfachere Registrierung nach der empirischen Formel, wie sie von M.M. Richter zuerst angewandt wurde. Aber auch hier wächst die Zahl der unter gleicher Formel aufgeführten Isomeren mit erschreckender Schnelligkeit, und schon muß man daran denken, neben der empirischen Formel noch ein zweites Registrierungsmittel zu finden, um die Aufsuchung der einzelnen Stoffe zu erleichtern.

Die Tage des Genfer Kongresses werden trotzdem allen Teilnehmern in bester Erinnerung geblieben sein; denn er war in seinem harmonischen Verlauf und dem behaglichen Verkehr seiner Mitglieder ein würdiges Abbild der gemeinsamen Interessen, welche die Vertreter der Wissenschaft in allen Ländern miteinander verbinden sollte. Nach den traurigen Erfahrungen des Weltkrieges rufe ich mir diese besseren Zeiten gerne ins Gedächtnis zurück und hoffe, daß mit der Rückkehr des Friedens auch die Vernunft und das Gefühl der Solidarität bei den Gelehrten und ganz besonders bei den Naturforschern zurückkehren wird.

Während der Würzburger Periode bin ich in den Herbstferien meist nach einem Seebad in Belgien oder Holland und später nach Norderney gegangen. An einer solchen Badereise nach Scheveningen 1889 nahm auch meine Frau teil, und wir haben dort mit Arthur Dilthey und seiner Frau mehrere vergnügte Wochen zugebracht und hinterher die größeren holländischen Städte besucht. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch meiner Frau Euskirchen und Umgebung gezeigt und sie unserer zahlreichen Familie am Niederrhein vorgestellt. Gewöhnlich aber ging sie in den Herbstferien mit den Kindern nach Ambach am Stamberger See zu ihren Eltern.

Zu der Jagd in Euskirchen, der ich früher so viel Erfrischung verdankte, bin ich seit meiner Erkrankung in Erlangen nicht mehr gekommen, weil ich mich nicht neuen Erkältungen aussetzen wollte. Statt dessen habe ich im September wiederholt die Naturforscherversammlung besucht, während der Würzburger Zeit diejenige zu Berlin 1886 und Heidelberg 1889. Letztere stand im Zeichen der Physik und Chemie; denn Heinrich Hertz und Victor Meyer hielten die beiden Hauptvorträge, der erste über seine große Entdeckung der elektrischen Wellen und der andere über allgemeine Probleme der Chemie.

Auch H. von Helmholtz und Werner von Siemens kamen in Gesellschaft von Edison, der gerade den Phonographen erfunden hatte[136] und dieses merkwürdige Instrument durch einen Gehilfen vorführen ich hier den Physiker Bolzmann aus Wien zuerst sprechen hören. Er hatte die merkwürdige Gewohnheit, jeden Satz in der höchsten Stimmlage zu beginnen und im tiefsten Bariton zu beenden. Das war so anstrengend, daß ihm schon nach einigen Minuten der Schweiß über das Gesicht rann, und wir Zuhörer hatten trotz der großen Achtung vor dem Redner Mühe, unsere Heiterkeit zu verbergen.

Bunsen war nicht anwesend. Wahrscheinlich hatte er noch genug von den Strapazen der 500-jährigen Jubelfeier der Universität Heidelberg, die einige Jahre zuvor im August 1886 stattgefunden und an der ich auch teilgenommen hatte.

In Gesellschaft von Baeyer machte ich damals meinen ersten Besuch bei Bunsen, der uns sehr freundlich und mit Bergen von Zigarren empfing, aber in der Unterhaltung wohl wegen seiner Schwerhörigkeit zurückhaltend war. Wir trafen dort Sir Henry Roscoe, der von England herübergeeilt war, um seinem alten Lehrer und Freunde Bunsen die Repräsentation während dieser Festtage zu erleichtern. Roscoe war ein sehr liebenswürdiger Mann, der sich uns jungen Fachgenossen schnell anzupassen wußte und uns durch die Erzählung von Schnurren aus seiner Heidelberger Studienzeit oder von seinen Erlebnissen in England viel Spaß machte. Ich habe ihn noch mehrmals in England selbst wiedergesehen und er hat mir auch einige sehr freundlich gehaltene Briefe geschickt.

Natürlich fehlte es damals in Heidelberg nicht an den üblichen Festen auf dem alten Schloß, an einem gewaltigen Kommers, dem der Großherzog in eigener Person präsidierte, und ähnlichen akademischen Veranstaltungen.

Die Naturforscherversammlung in Berlin vom Jahre 1886, die erste in der neuen Reichshauptstadt, war außerordentlich stark besucht. Sie trug einen anderen Charakter wie in Heidelberg, verlief aber für uns Chemiker auch sehr interessant; denn die Verhandlungen in unserer Sektion waren reich an wissenschaftlichem Inhalt und die einheimischen Mitglieder der chemischen Gesellschaft gaben sich alle Mühe, durch behaglichen geselligen Verkehr und Veranstaltungen von lustigen Festen, z.B. einem Bierabend der durstigen chemischen Gesellschaft unter dem Vorsitz von C. Schreibler, den auswärtigen Fachgenossen den Aufenthalt in Berlin zu verschönern. Hier habe ich A.W. von Hofmann von neuem kennen gelernt und seine große Gewandtheit in geschäftlichen und repräsentativen Dingen bewundert.

Die chemische Gesellschaft hatte bei dieser Gelegenheit eine Ausstellung von wissenschaftlichen Präparaten veranstaltet, zu der ich neben anderen Dingen die frisch bereiteten synthetischen Indole beisteuerte.[137] Darunter befand sich eine stattliche Menge von ganz reinem Skatol, und der Entdecker dieses Stoffes, Professor Brieger, war sehr befriedigt, daß auch mein Präparat den von ihm geschilderten üblen Geruch besaß; denn A. von Baeyer hatte einige Zeit vorher mitgeteilt, daß reines Skatol nicht unangenehm rieche. Er war offenbar der nicht seltenen Täuschung zum Opfer gefallen, die durch die ganz verschiedene Wirkung von Riechstoffen in konzentrierter oder verdünnter Form auf das Geruchsorgan entstehen kann.

Im Anfang des Jahres 1890 konnte ich in den Berichten der chemischen Gesellschaft die Synthese der Mannose und Lävulose mitteilen. Die Folge davon war eine Einladung des Vorstandes, einen zusammenfassenden Vortrag über die Kohlenhydrate in Berlin zu halten. Dieser fand statt am 23. Juli 1890, und ich konnte, unterstützt von meinem Mitarbeiter Dr. J. Tafel, die wichtigsten Phasen der Untersuchung durch Experimente illustrieren. Es war das erste Mal, daß ich in der chemischen Gesellschaft sprach, und als Dank dafür erntete ich von Seiten des Vorsitzenden, Herrn A.W. von Hofmann, einige sehr freundliche Worte der Anerkennung. Hinterher fand dann, wie es Sitte war und auch geblieben ist, ein in einfachen Formen gehaltenes Abendessen zu Ehren des Vortragenden statt.

Als ich nach Würzburg zurückkehrte und meine Frau, die neugierig auf den Verlauf des Vortrages war, mich danach fragte, habe ich mir eine kleine Neckerei erlaubt und ihr gesagt, die Leute hätten bei den Hauptstellen der Rede »Au« gerufen. Darauf gewaltige Entrüstung und Vorwürfe gegen die unhöflichen Preußen, wozu sie sich als Bayerin völlig berechtigt fühlte; denn auch mich selbst hat sie zuweilen im Zorn als Preußen tituliert. Ich habe sie allerdings hinterher über den Scherz aufgeklärt, aber die gute Laune war doch verdorben.

Die erste Synthese der natürlichen Zucker hat mir auch die erste öffentliche Anerkennung von Seiten des Auslandes eingetragen; denn ich erhielt bald nachher von der Chemical Society zu London die Davy-Medaille und wurde von der wissenschaftlichen Gesellschaft zu Upsala zum korrespondierenden Mitglied gewählt.

Obschon Würzburg nicht an gerade der großen Heerstraße lag, so ist mir doch mancher liebe Besuch von Fachgenossen dort zuteil geworden; so kam Eduard Hjelt eines Tages als früherer Studierender der Universität, später Victor Meyer, dann Otto N. Witt, H.W. Perkin jun. und mancher andere. Am meisten überraschte mich Ernst Haeckel aus Jena, der früh morgens mit der Reisetasche und in aller Eile erschien, um sich nach Ludwig Knorr zu erkundigen. Aus der kurzen, aber sehr lebhaften Unterhaltung ist mir ein Ausspruch Haeckels im Gedächtnis geblieben: »Wenn Ihr Chemiker synthetisch[138] das richtige Eiweiß macht, dann krabbelt's.« Knorr erhielt einige Monate später in der Tat einen Ruf nach Jena und ist im Herbst 1889 dahin übergesiedelt. Es sind jetzt nahezu 30 Jahre, daß er ein angesehenes Mitglied der Thüringer Hochschule bildet.

Die sonderbarsten Besuche erhielt ich aus Amerika. Eines Tages erschien ein Professor der Physiologie, der von einem reichen Mann Geld erhalten hatte, um eine Universität in Worcester U.S.A. zu gründen. Er hatte die romantische Idee, ein ganzes Schiff mit europäischen Professoren, Assistenten, Instrumenten, Präparaten und ähnlichen Dingen zu beladen und mit diesem Apparat dann seine Universität auszustatten. Die Unterhaltung mit mir eröffnete er mit der Frage: »Wollen Sie mit mir als Professor nach Amerika gehen?«, worüber ich so überrascht war, daß ich das Ganze für einen Scherz hielt, bis er sein ausführliches Programm entwickelte. Er war übrigens ein gebildeter und weitgereister Mann, der viel Interessantes zu erzählen wußte.

Bald nachher erschien eine amerikanische Dame, die sich als Miss Helene Abott und Fachgenossin vorstellte. Zu ihrem besonderen Schutze hatte sie sich ein zweites weibliches Wesen mitgebracht, das sich bei näherer Besichtigung als eine Negerin entpuppte. Sie erklärte in Würzburg wissenschaftlich arbeiten zu wollen und war erstaunt, daß Frauen noch nicht zu den Vorlesungen zugelassen seien. Ich habe ihr dann das Laboratorium gezeigt und sie den jüngeren Herren, Knorr, Wislicenus, Tafel vorgestellt. Sie machte ganz verständige Bemerkungen und zeigte, daß sie keine schlechten theoretischen Kenntnisse besaß. Nach ihrem Weggang wurde Kriegsrat gehalten, ob wir ihr vom Senat der Universität den Zutritt in das Laboratorium erwirken sollten. Einzelne waren mit Begeisterung dafür, aber die bedächtigen Elemente konnten die Befürchtung nicht unterdrücken, daß sie in dem bis dahin so gut harmonierenden Kreise leicht Verwirrung anrichten könne. Entsprechend dem Majoritätsbeschluß habe ich ihr dann abgeschrieben und erhielt darauf von ihr eine zwar höfliche, aber ziemlich energisch gehaltene Antwort, worin sie die Rückständigkeit Deutschlands in bezug auf das Frauenstudium rügte. Sie ist später die Gattin von Arthur Michael geworden, aber sie sind, soweit ich unterrichtet bin, nach einiger Zeit wieder auseinander gegangen.

Im Frühjahr 1892 mußte ich wegen eines Anfalls von Influenza einige Tage zu Bett liegen und meine Frau las mir gerade aus den eben erschienenen Berichten der chemischen Gesellschaft den Nekrolog von Peter Gries vor, von dem ich selbst den wissenschaftlichen Teil geschrieben hatte. Aber viel interessanter war der persönliche Teil von A.W. von Hofmann verfaßt und mit köstlichen Humor gewürzt. Wir haben darüber gerade herzlich gelacht, als ein Telegramm von Tiemann[139] einlief, das den plötzlichen Tod von Hofmann meldete. Ich konnte wegen meiner Krankheit nicht zur Beerdigung hingehen, was ich um so mehr bedauerte, da ich dem Vorstand der chemischen Gesellschaft angehörte und von Hofmann bei meinem letzten Besuch in Berlin so freundlich empfangen worden war.

Mein Gesundheitszustand war damals nicht befriedigend. Wie sich hinterher herausstellte, war ich das Opfer einer chronischen Vergiftung durch Phenylhydrazin geworden. Während manche meiner Mitarbeiter und auch einige Diener sehr empfindlich gegen die Base waren, und darauf mit nervösen Beschwerden oder mit starken Anschwellungen von Hand und Arm reagierten, schien ich sehr widerstandsfähig gegen das Gift zu sein; denn seine schädliche Wirkung hatte sich bis 1891 auf ein Ekzem der Finger und inneren Handflächen beschränkt. Um so schlimmer gestaltete sich die chronische Vergiftung, die im Herbst 1891 auftrat und in sehr lästigen Störungen der Darmtätigkeit, namentlich in nächtlichen Koliken und Durchfällen sich äußerte. Die Krankheit erreichte im Winter 1891/92 ihren Höhepunkt und spottete aller normalen ärztlichen Behandlung. Erst die Anwendung von Prießnitzumschlägen brachte mir Erleichterung und den lang entbehrten Schlaf zurück. Die Vergiftung ist zum Teil durch Dämpfe, aber wie ich später feststellen konnte, noch viel mehr durch die Haut, d.h. von den Händen aus, zustande gekommen. Ich habe darunter viele Jahre gelitten und schließlich hat sich eine Idiosynkrasie gegen Phenylhydrazin und ähnliche Stoffe herausgebildet. Es war die zweite Schädigung, die von meinem Beruf kam, und ich wäre ihr wahrscheinlich erlegen, wenn nicht die Ursache erkannt worden wäre und ich dann die Berührung mit der schädlichen Base möglichst vermieden hätte. Die Vergiftung hatte natürlich auch recht schlecht auf mein Nervensystem eingewirkt und der Aufenthalt in der Dienstwohnung des Würzburger Instituts, die fortwährend mit der Laboratoriumsatmosphäre erfüllt und außerdem ungewöhnlich heiß war, wurde mir im Sommer 1892 so unangenehm, daß ich meinen Haushalt in ein gemietetes Landhaus vor der Stadt mit großem Garten verlegte.

Hier erschien an einem schönen Junitag plötzlich Geheimrat Friedrich Althoff vom Kultusministerium in Berlin. In scheinbar ganz naiver Form erzählte er mir, er habe einen zufälligen Aufenthalt in Würzburg nur benutzen wollen, unsere Bekanntschaft von der Berliner Naturforscherversammlung zu erneuern. Er sprach sich sehr erfreut über die einfache süddeutsche Lebensweise aus, über die Bescheidenheit der Professoren hierzulande, kam dann auf die Berliner Verhältnisse, das dortige chemische Institut und die Absicht des Kultusministers, für die Pflege der Chemie in Preußen möglichst viel zu tun. Es würde[140] ihn interessieren, auch meine Ansicht darüber zu hören, worauf ich ihm freimütig erklärte, daß das von Hofmann erbaute Institut den Bedürfnissen der Gegenwart keineswegs mehr genüge. Erst zum Schluß stellte er an mich die Frage, ob ich den nötigen Neubau als Nachfolger von Hofmann nicht selbst besorgen wolle. Die Fakultät habe mich neben Kékulé und Baeyer vorgeschlagen, aber den Wunsch ausgesprochen, daß mit Rücksicht auf das hohe Alter der beiden Erstgenannten ich tatsächlich berufen würde. Über das Angebot, das an und für sich ja recht ehrenvoll war und auch in so entgegenkommender Form gemacht wurde, war ich selbst keineswegs erfreut; denn nun stand ich vor der Notwendigkeit, zwischen Würzburg, wo ich mich so glücklich fühlte, und Berlin, wovor mir graute, zu entscheiden.

Mein Entschluß wäre rasch gefaßt gewesen und zugunsten von Würzburg ausgefallen, wenn ich allein gestanden hätte und nur meinem Gefühl gefolgt wäre. Aber meine Frau war ehrgeiziger und ich mußte Althoff wenigstens das Versprechen geben, nach Berlin zu kommen, um die Verhältnisse an Ort und Stelle kennen zu lernen. Das geschah auch 8 Tage später. Im Ministerium zu Berlin war man in jeder Beziehung entgegenkommend. Der Minister Exzellenz Bosse empfing mich wegen Zeitmangel Sonntags morgens um 8 Uhr, um mir zu versichern, daß er alles tun würde, meine Bedingungen, insbesondere auch den Neubau des Instituts zu erfüllen. Auch die Berliner Fachgenossen haben mir stark zugeredet, den Ruf anzunehmen. Dazu noch keineswegs entschlossen, fuhr ich nach München, wohin mich der dortige Minister eingeladen hatte. Ich war erstaunt über die wenig geschickte Art, in der er mich zur Ablehnung des Berliner Rufes bereden wollte. Zunächst mußte ich 11/2 Tage warten, bevor er mich überhaupt empfing und dann behauptete er, ich wäre durch die Bewilligung des Neubaues in Würzburg verpflichtet, dort zu bleiben. Ich antwortete ihm, daß der Bau doch nicht mir persönlich bewilligt sei, wenn das aber zuträfe, so könne man ihn ja aufgeben, da er noch garnicht begonnen sei. Kurzum ich kam von München etwas verstimmt nach Würzburg zurück. Inzwischen war dort mein alter Vater eingetroffen, der von dem Berliner Ruf gehört und sich sofort aufgemacht hatte, um mir zuzureden, ein so gutes Geschäft nicht leichtfertigerweise auszuschlagen. Zum zweiten Mal würde mir die Stelle in Berlin nicht mehr angeboten. Andererseits könne ich ja, wenn es mir dort nicht gefiele, jederzeit wieder wechseln.

Die Vorzüge Berlins konnte auch ich mir nicht verhehlen. Das rege wissenschaftliche Leben der Reichshauptstadt und die in Aussicht gestellten großen Mittel, die Möglichkeit, einen größeren Kreis von Schülern um mich zu versammeln, hatte in der Tat für einen Mann in meinem Lebensalter (ich war noch nicht 40 Jahre alt) viel Verlockendes.[141] So kam ich denn nach 8-tägigem Schwanken zu dem Entschluß, meine persönliche Neigung beiseite zu setzen und den Ruf anzunehmen. Ich bin dann zum zweiten Mal und zwar in Begleitung meiner Frau nach Berlin gefahren, um eine Wohnung zu mieten, da die Dienstwohnung von Frau von Hofmann noch bis zum Mai 1893 besetzt war, und um im Institut eine Reihe von kleinen baulichen Änderungen zu vereinbaren, die in den Herbstferien getroffen werden sollten.

Nachdem ich nunmehr fest gebunden war, redeten schon einige Kollegen offener über die Berliner Zustände, und mein alter Lehrer Kundt überraschte mich mit der Bemerkung: »Na Fischer, Sie werden sich wundern über den Pack Arbeit, den man hier einem Professor aufladet.« Als ich darauf etwas erschrocken an ihn die Frage richtete, warum er mir das nicht vor 14 Tagen gesagt hätte, als ich ihn im Vertrauen auf die alte Freundschaft um Aufklärung über die Berliner Zustände gebeten hatte, erwiderte er lachend: »Ja, dann wären Sie nicht gekommen.«

Bei diesem letzten Aufenthalt genoß ich auch die erste Probe von dem geselligen Verkehr im Berliner Gelehrtenkreise; denn Frau von Helmholtz hatte Kunde von unserem beabsichtigten Besuch in Berlin erhalten und telegraphisch meine Frau und mich zu einer Abendgesellschaft eingeladen. Diese fand statt in der prächtigen Dienstwohnung der physikalisch-technischen Reichsanstalt zu Charlottenburg, und wir trafen dort einen interessanten Kreis von Leuten, darunter auch den alten Werner von Siemens, mit dem ich mich lange über technisch-elektrochemische Probleme unterhielt, und der hinterher meine Frau durch besondere Liebenswürdigkeit auszeichnete. Hier mußte ich meine erste Berliner Tischrede halten als Antwort auf einige Worte der Begrüßung, die Helmholtz an meine Frau und mich richtete. Ausgehend von dem Keppler'schen Gesetz der Planetenbewegung und ihrem Einfluß auf die Entwicklung der Physik konnte ich ein astronomisches Abbild der Gesellschaft entwickeln, in dessen Mittelpunkt Frau von Helmholtz als Sonne kam. Scheinbar habe ich dadurch ihre Gunst gewonnen; denn sie ist mir später immer in sehr freundlicher Weise entgegengekommen.

Bei der Abreise von Berlin war ich in sehr gedrückter Stimmung, hervorgerufen durch den schlechten Zustand des chemischen Instituts und durch manche überraschende Auskunft über die Verpflichtungen, die den Nachfolger von Hofmann erwarteten. Wenn ich mich nicht geschämt hätte, mein Wort zu brechen, so würde ich auf dieser Rückfahrt telegraphisch bei dem Kultusministerium in Berlin meine Zusage widerrufen haben. Aber dazu war es jetzt zu spät, besonders auch,[142] weil ich das Gefühl hatte, daß man im Ministerium zu München über meine Annahme des Berliner Rufes verschnupft war.

Mein Vater war inzwischen von Würzburg wieder abgereist, ganz befriedigt von dem Erfolge seiner Überredungskunst. Für ihn selbst war eine Veränderung des Wohnsitzes eine Kleinigkeit; denn er hatte sich ja gerade zu der Zeit entschlossen, Euskirchen nach 56-jährigem Aufenthalt zu verlassen und nach Straßburg i. Els. überzusiedeln.

Für mich begann nun eine unbehagliche Zeit, die Vorbereitungen des Umzuges nach Berlin; denn ein Professor der Chemie wandert nicht nur mit seiner Gelehrsamkeit und den Büchern, sondern auch mit Präparaten, Apparaten und Assistenten. Als letztere folgten mir Dr. Oscar Piloty, der früher erwähnte Däne Dr. Fogh und Dr. Lorenz Ach. Wislicenus war inzwischen außerordentlicher Professor geworden und als solcher in Würzburg gebunden. Auch für Julius Tafel, den ich gerne mitgenommen hätte, konnte in Berlin keine passende Stellung geschaffen werden. Dagegen war es mir lieb, den Diener J. Wetzel, der sich später durch einige zweckmäßige Glasapparate bekannt gemacht hat, als Präparator nach Berlin verpflanzen zu können. Mit dem Umzug des Haushalts hatte ich nichts zu tun, weil meine Frau ihn als ihr Recht und ihre Pflicht in Anspruch nahm.

Der Abschied von der lieben Stadt Würzburg, den Kollegen und Studenten war herzlich aber kurz. Die beiden Kinder kamen zu den Großeltern an den Starnberger See und ich selbst zog mit meiner Frau und einer Köchin in ein kleines, allerliebstes Holzhaus, 10 Minuten von Berchtesgaden am Untersberg in prächtiger Umgebung gelegen. Hier haben wir wie auf der Hochzeitsreise ganz für uns gelebt und bei herrlichem Wetter 6 Wochen zugebracht. Es war die richtige Vorbereitung für die kommende Berliner Periode. Zwar hatte mir die deutsche chemische Gesellschaft für die Feier ihres 25-jährigen Bestehens im November d.J. die Gedächtnisrede auf A.W. von Hofmann übertragen. Aber es kam mir bald zum Bewußtsein, daß F. Tiemann als Freund und Schüler des Verstorbenen viel mehr für diese Aufgabe berufen und auch gerne bereit sei, sie zu übernehmen. Nach Vereinbarung mit dem Vorstande der Gesellschaft haben wir deshalb getauscht, und die Entbindung von der Rede war, offen gestanden, für mich eine angenehme Erleichterung.

Quelle:
Fischer, Emil: Aus meinem Leben. Berlin 1922, S. 36-143.
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